60

Jenseits des Kais und hinter einer Uferbiegung lag ein Kieselstrand. Vierhundert Meter weiter begann der Wald, eine dunkle, abweisende, anscheinend undurchdringliche Mauer. Der Himmel wurde dunkler. Die Sonne glitt durch die letzten Wolkenschichten und versank am Horizont in einem Wirbel aus Licht.

Pendergast griff in seinen Rucksack und zog eine Infrarot-Taschenlampe hervor, wandte sich zum gleichmütigen Egon um und sagte mit gedämpfter Stimme voll unterdrückter Erregung: »Mein lieber Freund, jetzt kommt die Zeit des Königin-Beatrix.«

Er ging los, den Strand hinunter, Egon im Schlepptau. Einige kleine Boote waren auf den Kiesstrand heraufgezogen worden, ihre Netze lagen zum Trocknen ausgebreitet. Weiter vorn wich der Strand Lavagestein, und Minuten später kamen sie am Waldrand an. Das letzte Licht schwand hinter der Inselfestung und verstärkte die helle Beleuchtung. Wieder der Schrei eines Vogels – eines Vogels oder eines Menschen? – über dem Wasser.

»Egon, sehen Sie die Ruine dort drüben?«, fragte Pendergast und deutete auf die Festung. »Warum ist sie so hell erleuchtet? Was geht da vor?«

Egon starrte ihn einen Moment lang an; sein Blick wanderte zum Lichtschein der Festung. Und dann sagte er etwas, zum ersten Mal überhaupt: »Landwirtschaftliche Forschungen. Tierhaltung.«

»Tierhaltung?« Pendergast schüttelte den Kopf. »Nun, das geht mich nichts an. Wir sind wegen des Waldes hier.« Er kramte im Rucksack und zog eine Taschenlampe hervor. »Hier ist eine Infrarotlampe für Sie. Bitte benutzen Sie keine normale Taschenlampe – der Königin-Beatrix reagiert allergisch auf Licht. Folgen Sie mir, bleiben Sie in meiner Nähe und machen Sie keine Geräusche.«

Er reichte Egon die Rotlichtlampe und betrat den Wald. Die stacheligen Äste der Araukarienbäume vermischten sich mit dem dichten Unterholz und behinderten ihr Vorankommen, alles war noch nass nach den jüngsten Regenfällen. Aber Pendergast, schlank und wendig wie eine Schlange, hastete durch die dunkle, tropfende Vegetation und leuchtete mit seiner Rotlichtlampe hierhin und dorthin, das Netz in der einen Hand und bereit, damit zuzuschlagen.

»Weiter!«, flüsterte er über die Schulter Egon zu, der das Tempo kaum mithalten konnte.

Das Gelände stieg an. In diesem Teil des Waldes gab es keine Wege, überhaupt keine Anzeichen, dass Menschen sich aus der Stadt hierher vorgewagt hatten. Das Ganze vermittelte den Eindruck einer Wildnis. Und doch fühlte sich alles aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht ganz richtig an.

»Da ist einer!«, rief Pendergast plötzlich aus. »Sehen Sie ihn? O mein Gott! Ich fasse es nicht!« Und blitzartig war er weg, rannte mit flackernder Rotlichtlampe durchs Unterholz, wie verrückt mit dem Netz herumwedelnd. Egon stieß von hinten einen Ruf aus, nahm die Verfolgung auf und lief krachend hinterher.


Zehn Minuten später beobachtete Pendergast von einem schweren Ast etwa zehn Meter über dem Boden, wie Egon durch den Wald lief, durchdringend und panikartig »Fawcett!« rief und mit seiner starken Taschenlampe umherleuchtete.

Pendergast wartete eine halbe Stunde, bis sein Begleiter die Suche weiter nach Süden verlegt hatte. Dann kletterte er so leise und behende wie ein Affe vom Baum. Er legte eine spezielle Kappe auf die Rotlichtlampe und bewegte sich rasch nach Norden, wobei er dem leichten Anstieg des Geländes folgte. Eine Stunde lang setzte er seinen Aufstieg fort, bis er auf einen schmalen Grat gelangte – den Rand des Kraters. Hier schaltete er die Rotlichtlampe aus. Auf dem Grat hatten sich die Bäume gelichtet, so dass er einen Blick hinunter in den breiten Boden des riesigen Kraters werfen konnte, der vom Licht eines Halbmondes erhellt war. Der Krater war ziemlich flach, kilometerbreit im Durchmesser und umfasste mehrere Hektar eng aneinandergrenzender Weiden und Felder, die sich den fruchtbaren vulkanischen Boden zunutze machten. Es handelte sich um die Kornkammer von Nova Godói, eindeutig der frühere Standort der alten Tabakplantage, denn der Krater bildete ein beinahe ideales Mikroklima für die Landwirtschaft. Am gegenüberliegenden Ende stand eine enge Gruppe erloschener Aschekegel, wie schwarze Zylinder. An sie schmiegten sich landwirtschaftliche Hütten, Gewächshäuser, Scheunen und Silos. Alles war still, kein Licht zu sehen in der samtartigen Dunkelheit.

Ein undeutlicher Pfad folgte dem Grat, und Pendergast ging ihn entlang, bis er zu einem zweiten Saumpfad gelangte, der in Serpentinen in den Krater hinabführte, steil zunächst, bald ebener, als er sich den Feldern näherte. Im nächsten Moment hatte er den Rand des ersten Feldes erreicht, eine große Fläche mit Mais, völlig still im blassen Mondlicht. Pendergast betrat sie und mit ging schnellen, leisen Schritten weiter auf das andere Ende des Kraters und die Gruppe landwirtschaftlicher Gebäude zu.

Hinter dem Maisfeld befanden sich weitere Felder, auf denen eine üppige Vielfalt landwirtschaftlicher Erzeugnisse wuchs – Tomaten, Bohnen, Kürbis, Weizen, Baumwolle, Alfalfa und Wiesenlieschgras, dazu satte Weiden für Nutzvieh. Rasch durchquerte er sie alle, bis er zur anderen Seite gelangte, wo die Gebäude standen.

Er wählte das erste Gebäude aus, ein riesiges Lagerhaus aus Metall mit einem Flachdach. Die Tür war, wie er feststellte, mit einem Vorhängeschloss versehen. Eine kurze Handbewegung, und das Schloss sprang auf. Er zog die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfte ins Innere, in dem es nach Maschinenöl, Diesel und Erde roch. Ein rasches Aufblitzen der abgeschirmten Rotlichtlampe enthüllte Reihen landwirtschaftlicher Maschinen – Traktoren, Ackerfräsen, Pflüge, Eggen, Pflanzmaschinen, Dungstreuer, Vollernter, Strohpressen, Bagger und Lader –, alle sehr alt, aber ausgezeichnet gewartet.

Er ging durch das Gebäude und zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite hinaus. Rechts von ihm erhob sich ein Stallgebäude, in dem er das leise Muhen von Milchkühen hören konnte. Links von ihm stand eine Reihe von Silos und eine Gruppe von Gewächshäusern. Es war eine erstaunliche Anlage, eine außerordentlich fruchtbare und produktive Farm von enormer Größe, tadellos geführt und in Schuss. Und anscheinend während der Nacht verlassen.

Pendergast erkundete die Gewächshäuser, deren Glasscheiben im Mondlicht glänzten. Drinnen war ein Meer von Blumen zu sehen – Blumen über Blumen. Ein Gewächshaus barst vor exotischen Rosen in jeder erdenklichen Größe, Farbe und Form.

Am anderen Ende der Gewächshäuser standen die toten Aschekegel, steil und hoch, ihre Flanken mit rutschender Vulkanasche bedeckt. Pendergast ging den nächstgelegenen Kegel entlang und blieb dann stehen. Dort unten, in den Kegel hineingebaut, stand ein schmales schuppenähnliches Gebäude ohne Fenster, die Rückseite begraben in der Asche.

Er schlich zur Tür des Gebäudes und hielt das Ohr daran. Zunächst konnte er nichts hören, aber mit der Zeit vernahm er ganz leise Geräusche: Bewegungen, Seufzen, Scharren, vielleicht sogar Husten.

Diese Tür war ungewöhnlich massiv, aus dickem Holz, mit Stahl gebändert und vernietet. Das Schloss war schwierig, aber nicht so schwierig, dass es Pendergasts Bemühungen länger als eine Minute standhielt. Die Tür schwang in geölten Angeln nach innen auf, die Luft verbreitete einen übelriechenden, unangenehmen Geruch. Alles war dunkel.

Pendergast rückte vor, wobei er die Rotlichtlampe weiterhin gut abgeschirmt hielt. Wie sich herausstellte, war der Schuppen lediglich ein Eingang, der in etwas hinabführte, das unter oder vielleicht in die Aschekegel hineingebaut war. Vor ihm befand sich eine flache, breite Treppe mit stark abgewetzten Stufen. Pendergast blieb an der obersten Stufe stehen und schaltete die Lampe aus, bevor er mit dem Abstieg begann. Von unten drang ihm ein funzeliges Licht von rötlicher Farbe entgegen, und während er hinabstieg, wurde der Gestank stärker, die Luft roch nach ungewaschenen Körpern. Unten an der Treppe angekommen, stand er in einem langen Tunnel. Jetzt, im Dunkeln, waren die Laute deutlicher zu hören. Scharren, Schnarchen, Murmeln – die Geräusche von Menschen. Vielen Menschen.

Mit unendlicher Vorsicht ging Pendergast weiter, wobei er sich dicht an der nächstgelegenen Wand hielt. Der rötliche Lichtschein fiel aus zwei vergitterten Fenstern, eingelassen in eine verschlossene Doppeltür am anderen Ende des Tunnels. In gebückter Haltung schlich Pendergast bis zu der Tür, untersuchte das Schloss und lauschte. Jemand war auf der anderen Seite, jemand, der hin- und herging: ein Wachmann. Er horchte und nahm die Zeit, wann der Wachmann kam und ging. In einem ungefährlichen Moment erhob er sich und blickte durch die vergitterten Fenster.

Ein riesiger Raum bot sich seinen Blicken dar, erhellt von einem funzeligen roten Licht aus Reihen nackter Hängelampen. Der Raum bestand aus Reihen über Reihen primitiver hölzerner Pritschen, die sich bis in die Düsternis erstreckten, drei übereinander, jede mit einer einzelnen Decke, unter der sich eine menschliche Gestalt abzeichnete, die Gesichter sorgenvoll im unruhigen Schlaf, während andere sich wie Gespenster umherbewegten, einige gingen oder kamen aus einer Latrine an einer Wand des Raums. Wieder andere gingen einfach nur ziellos hin und her, außerstande zu schlafen, ihre hoffnungslosen Augen spiegelten das rote Licht der Hängelampen.

Alles, was Pendergast in Nova Godói nicht gesehen hatte, war hier: die Deformierten, die Verkrüppelten, die Hässlichen und Plumpen, die Schwachen, die Alten – und insbesondere die geistig Schwachen. Aber was ihn am meisten schockierte, war, dass er einige dieser Gesichter wiedererkannte. Erst Stunden zuvor hatte er sie in der Stadt gesehen. Sie gehörten den strahlenden, lächelnden Pendants – den Zwillingen. Nur trugen diese unterirdischen Doppelgänger den seltsamen und beunruhigenden Ausdruck der geistig Kranken, der Schwachsinnigen, der Verzweifelten und Hoffnungslosen, deren sehnige Muskeln, braungebrannte Haut und rauhen Hände von lebenslanger Feldarbeit zeugten.

Am äußersten Rand seines Blickfelds sah Pendergast, dass der Wachmann kehrtmachte. Er war keiner von diesen Menschen, er war einer der anderen: großgewachsen, gutaussehend. Seine Anwesenheit schien nicht notwendig zu sein – die armen Seelen waren nicht in der Verfassung, zu revoltieren, zu entkommen oder auf andere Weise Schwierigkeiten zu machen. Der Ausdruck der Resignation auf ihren Gesichtern war universell und absolut.

Pendergast trat weg vom Fenster und begab sich zurück durch den Tunnel und die Treppe hinauf. Ein paar Minuten später atmete er – ja, saugte er – die kühle, frische, oberirdische Luft ein, das groteske Bild menschlichen Leids, das er gerade gesehen hatte, für alle Zeit in seinen Geist eingebrannt.

Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
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