27
Special Agent Pendergast betrat seine Wohnung im Dakota-Gebäude und lief ins Empfangszimmer. Dort blieb er unentschlossen stehen und lauschte dem Geplätscher von Wasser über Stein. Nach einem Moment schritt er zu einem kleinen Monet-Gemälde und hängte es gerade, hin und her, obwohl es bereits völlig waagerecht an der roséfarbenen Wand hing. Als Nächstes ging er zu einem verwachsenen Bonsaibaum, griff nach einer handgeschmiedeten Baumschere, die auf dem Tisch daneben lag, und schnitt sorgfältig ein paar neue Triebe ab. Dabei zitterte seine Hand leicht.
Als das erledigt war, lief er im Zimmer auf und ab, wobei er gelegentlich stehen blieb, um die Lotusblätter neu zu arrangieren, die im Becken des Springbrunnens trieben.
Es gab da etwas, das er tun musste, aber die Aussichten waren beinahe unerträglich.
Schließlich ging er hinüber zur versenkbaren Tür, die in die eigentliche Wohnung führte. Er öffnete sie und ging den langen Flur entlang, wobei er an mehreren Türen vorbeikam. Er nickte Miss Ishimura zu, die in ihrem Wohnzimmer saß und ein Buch auf Japanisch las, und gelangte bald zum Ende des Flurs, wo dieser eine 90-Grad-Biegung nach rechts machte. Pendergast öffnete die erste Tür links nach der Biegung und betrat das Zimmer dahinter.
An den Wänden rechts und links standen deckenhohe Einbaubücherregale aus Mahagoni, jedes voll mit in Leder gebundenen Büchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Wand vor ihm wurde von einer tiefen Fensterlaibung aus poliertem Mahagoni eingenommen, darin standen sich zwei Bänke gegenüber, mit Kissen darauf. Zwischen den Bänken befand sich ein großes Panoramafenster mit Blick auf die Kreuzung von Central Park West und 72nd Street. Jenseits davon lag die Weite des Parks, dessen entlaubte Bäume von der Wintersonne beschienen wurden.
Er schloss die Augen, entspannte sich und regulierte sorgfältig seine Atmung. In einem immer größer werdenden Kreis orchestrierten Vergessens begann die äußere Existenz langsam von ihm abzufallen, erst das Zimmer, dann die Wohnung, das Apartmentgebäude, die Insel Manhattan, dann die Welt selbst. Der Vorgang nahm eine Viertelstunde in Anspruch. Im Anschluss verweilte Pendergast in der Dunkelheit und wartete auf die absolute Leere, die völlige innere Ruhe. Als er diese erlangt hatte, schlug er die Augen auf – nicht im körperlichen, sondern im geistigen Sinne –, langsam, ganz langsam.
Das kleine Zimmer erschien in all seiner detaillierten Vollkommenheit. Doch es blieb leer.
Pendergast erlaubte sich nicht den Luxus, überrascht zu sein. Er war extrem gut geschult in der Kunst des Chongg Ran, einer uralten Meditationsform aus dem Himalaja, die er nach Jahren der Ausbildung schließlich gemeistert hatte. Es geschah höchst selten, dass er stong pa nyid – den Zustand der Reinen Leere – nicht erreichte. Offensichtlich gab es da einen Widerstand, der irgendwo in seinem Geist lauerte.
Er würde mehr Zeit benötigen, sehr viel mehr Zeit.
Noch einmal regulierte er seine Atmung, so dass sich der Herzschlag auf vierzig Schläge pro Minute verlangsamte. Er leerte sein Bewusstsein, um die innere Stimme zum Schweigen zu bringen, um seine Wünsche und Hoffnungen loszulassen, ja sogar den Grund zu vergessen, weshalb er dieses Zimmer aufgesucht hatte. Einen langen Augenblick verharrte er erneut gewichtslos im leeren Raum. Dann – unendlich viel langsamer diesmal – begann er im Geist ein perfektes Modell der Insel Manhattan zu errichten, wobei er bei seiner Wohnung begann und sich dann nach außen bewegte. Zunächst ging er von Zimmer zu Zimmer, dann von Gebäude zu Gebäude und dann mit liebevoller Aufmerksamkeit von Häuserblock zu Häuserblock. Pendergast kannte die Topographie von Manhattan so gut wie kein anderer. In einer harmonischen Verschlingung von Erinnerung und Neuaufbau verweilte er bei jedem Gebäude, jeder Kreuzung, jedem obskuren Punkt von architektonischem Interesse, wobei er alle Einzelheiten zu einem Ganzen fügte und dieses in seiner Gesamtheit im Kopf behielt. Schritt für Schritt wurde das große geistige Gebäude errichtet, das immer größer wurde, bis es vom Hudson im Westen, dem Harlem River im Osten, dem Battery Park im Süden und Spuyten Duyvil im Norden begrenzt wurde. Einen langen, langen Augenblick behielt er das gesamte Manhattan im Kopf, wobei jedes Hauptmerkmal der Insel mit jedem anderen in seinem geistigen Wiederaufbau koexistierte. Und dann – nachdem er sich vergewissert hatte, dass dieser vollendet war – riss er das alles mit einem Handstreich des Geistes wieder ein. Verschwunden. Ausgelöscht. Nichts blieb übrig als Dunkelheit.
Jetzt schlug er im Geiste wieder die Augen auf. Fünf Stunden waren vergangen. Und Helen Esterhazy Pendergast saß auf dem Fensterplatz ihm gegenüber. Es war Helens Lieblingszimmer in der Dakota-Wohnung gewesen. New York hatte es ihr besonders angetan, und in dieses kleine Zimmer – gemütlich, voller Bücher, mit seinem Geruch nach poliertem Holz und dem Ausblick auf den Central Park – hatte sie sich besonders gern zurückgezogen.
Natürlich war Helen nicht im wörtlichen Sinne anwesend, aber in jeder anderen Hinsicht existierte sie; alles in Pendergasts Geist, das sie berührte, jede Erinnerung, jedes noch so kleine Detail, war Teil jenes geistigen Neuaufbaus, und zwar so sehr, dass man sagen konnte, dass Helen eine gleichsam autonome Existenz angenommen hatte.
Das war die Schönheit und die Kraft des Chongg Ran.
Helen hatte die Hände im Schoß gefaltet und trug ein Kleid, an das er sich gut erinnerte – schwarze Seide, mit hellen korallenfarbenen Paspeln am tiefen Dekolleté. Sie war jünger – ungefähr im Alter, in dem sie zur Zeit des Jagdunfalls gewesen war.
Des Unfalls. Das Ironische daran war, dass es sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt hatte – nur eben nicht von der Art, wie er es in den vielen Jahren seither geglaubt hatte.
»Helen«, sagte er.
Sie hob den Blick, sah ihn kurz an, lächelte und senkte wieder den Kopf. Das Lächeln ließ ihn vor Schmerz und Kummer zusammenfahren, und fast wäre das geistige Bild verschwommen und zerplatzt. Er wartete, bis es sich stabilisierte, bis sein Herz wieder langsamer schlug.
»In der Stadt ist ein Serienmörder auf freiem Fuß«, sagte er. Er hörte selbst das Beben in seiner Stimme und den förmlichen Ton, der in den Unterhaltungen mit seiner Frau unüblich war. »Er hat drei Morde begangen. Jedes Mal hat er eine Nachricht hinterlassen. Die zweite Nachricht lautet: Happy Birthday.«
Es folgte ein Schweigen.
»Der zweite Mord fand an meinem Geburtstag statt. Aus diesem Grund – und wegen weiterer Elemente der Morde – begann ich zu vermuten, dass es sich dabei um das Werk meines Bruders Diogenes handelt. Das schien sich zu bestätigen, als ich meine DNA mit der des Mörders verglichen und erfahren habe, dass wir in der Tat eng verwandt sind. Eng genug, um Brüder zu sein.«
Er hielt inne, um festzustellen, wie sich seine Worte auf seine Frau auswirkten. Aber sie blickte immer noch auf ihre Hände, die gefaltet auf ihrem Schoß lagen.
»Aber jetzt habe ich auch noch einen Blick auf die mtDNA-Ergebnisse werfen können. Und die haben mir etwas anderes gezeigt. Der Mörder ist nicht nur mit mir verwandt. Er ist auch mit dir verwandt.«
Helen blickte auf. Entweder konnte oder wollte sie nichts sagen.
»Erinnerst du dich noch an deine Reise nach Brasilien? Sie fand ungefähr ein Jahr vor unserer Hochzeit statt, und du warst sehr lange fort – fast fünf Monate. Damals hast du mir gesagt, es habe sich um eine Mission für Doctors with Wings gehandelt. Aber das war gelogen, nicht wahr? In Wahrheit bist du … nach Brasilien geflogen, um insgeheim ein Kind zur Welt zu bringen. Unser Kind.«
Die Worte standen im Raum. Mit reuevoller Miene erwiderte Helen seinen Blick.
»Ich glaube sogar zu wissen, wann das Kind gezeugt wurde. Beim ersten Mondaufgang, den wir uns gemeinsam angeschaut haben – zwei Wochen nach unserem Kennenlernen. Nicht wahr? Und jetzt … muss ich mit der Tatsache klarkommen, dass ich nicht nur einen Sohn habe, den ich nicht kenne, einen Sohn, den ich nie kennengelernt habe – sondern einen Sohn, der auch noch ein Serienmörder ist.«
Noch einmal senkte Helen den Blick.
»Außerdem habe ich Dokumente gesehen, die darauf hindeuten, dass deine Familie – mehr noch: du selbst und dein Bruder Judson – an eugenischen Experimenten beteiligt gewesen seid, die bis auf das Naziregime zurückgehen. Brasilien, John James Audubon, Mengele und Wolfgang Faust, Longitude Pharmaceuticals, der Bund – das ist eine lange, hässliche Geschichte, die ich erst beginne zusammenzufügen. Judson hat mir einmal einen Teil davon erklärt, nicht lange vor seinem Tod. Er sagte: Ich bin zu dem geworden, wozu ich geboren wurde. Wo ich hineingeboren wurde – und es ist etwas, das sich meiner Kontrolle entzieht. Wenn du nur das Grauen kennen würdest, dem Helen und ich unterworfen waren, würdest du mich verstehen.«
Er hielt inne und schluckte.
»Tatsächlich aber verstehe ich nichts. Warum hast du dich so sehr vor mir versteckt, Helen? Deine Schwangerschaft, unser Kind, die Vergangenheit deiner Familie, das Grauen, von dem Judson sprach – wieso hast du dir nicht von mir helfen lassen? Warum hast du all die Jahre unseren Sohn von mir ferngehalten … was ist aus ihm geworden? Wie du sicherlich weißt, sind diese Neigungen ein dunkles Kapitel in meiner Familie, das Generationen zurückgeht. Die Wahrheit ist, dass du unseren Sohn erst im Sterben erwähnt hast, als du sagtest: Er kommt.«
Helen weigerte sich, ihn anzusehen. Sie rang die Hände, die auf ihrem Schoß lagen.
»Ich möchte gern glauben, dass du nicht eingeweiht warst – oder zumindest nur am Rande, nicht Komplizin beim Mord an deiner Schwester gewesen bist. Ich würde auch gern glauben, dass Emma Grolier, der Name, unter dem sie bekannt war, bereits tot war, gnädigerweise eingeschläfert, als du von dem Plan erfahren hast. Ich hoffe sehr, dass dies der Fall war. Dann könnte ich das ganze Arrangement sicherlich leichter verdauen. Aber warum musste sie überhaupt an deiner Stelle sterben? Ich denke nun schon lange darüber nach, und ich glaube, ich verstehe, was geschehen ist. Nachdem du vom tragischen Tod der Familie Doane erfahren hast und davon, auf welch grausame Art und Weise sie benutzt wurde, musst du Charles Slade und Longitude – und infolgedessen dem Bund – gedroht haben, du würdest die Audubon-Arznei publik machen. Deshalb hat man umgekehrt den Entschluss gefasst, dich mundtot zu machen. Richtig?«
Jetzt zitterten Helens Hände.
»Diese Aufgabe wurde Judson, deinem eigenen Bruder, übertragen. Aber er brachte es nicht über sich – und ebendieser Auftrag war zweifellos der Grund, weshalb Judson im Geheimen mit dem Bund brach. Stattdessen ersann er eine Möglichkeit, eine ausgeklügelte Möglichkeit, dich am Leben zu halten. Er wusste, dass deine geistesgestörte Schwester an einer tödlichen Krankheit litt – ich habe das erst heute aus ihrer Krankengeschichte, die im Staatsarchiv liegt, erfahren können. Darum hat Judson jenen Jagdunfall mit dem roten Löwen arrangiert – denn er plante, die Leiche deiner Zwillingsschwester gegen dich auszutauschen. Er hat seinen Oberen von den Platzpatronen in deinem Gewehr erzählt; ihnen erzählt, dass du bei der Jagd die Führung übernehmen würdest. Damit war der Bund zufrieden. Judson hatte einen Löwen aufgetrieben, der dich fortzerren sollte, ohne dich zu verletzen, aber auch die Leiche deiner Schwester auf Befehl zermalmen. Doch Judson verschwieg dir den Plan bis zum Vorabend, nicht wahr? Deshalb wirktest du an jenem letzten Abend in Afrika verdrießlich – er hielt sich in der Nähe des Camps auf, zusammen mit den Führern des Löwen und Emmas Leichnam – Emma war kurz zuvor verstorben. Judson hat dich aus dem Camp zu sich gerufen und dir den ganzen Plan erklärt. Nur ist die Sache nicht ganz so gelaufen wie erwartet; der Löwe hielt sich nicht genau an den Plan, und du hast eine Hand verloren, als er dich fortschleifte. Nur gut, dass der Leichnam deiner Schwester unmittelbar danach so weit aufgefressen war, dass Judson deine Hand – und den Ring – zurücklassen konnte, als weiteren Beweis für deinen Tod. Mein Gott, welche Geistesgegenwart er besessen haben muss.« Verbittert schüttelte Pendergast den Kopf. »Was für ein teuflisch komplizierter Plan – aber er musste komplex sein, damit er nicht meinen Argwohn erregte. Hätte das, was geschah, nicht absolut vollkommen wie ein Akt der Natur gewirkt, dann hätte ich erst Ruhe gegeben, bis ich die Wahrheit erfahren hätte – genauso wie ich jetzt keine Ruhe gebe.« Ein Moment schrecklicher Stille. »Aber andererseits – warum bist du nicht einfach zu mir gekommen an jenem Abend im Jagdcamp? Wieso hast du dir nicht von mir helfen lassen. Weshalb? Warum hast du mich ausgeschlossen?« Er machte eine Pause. »Und dann ist da noch etwas, das ich wissen muss. Liebst du mich, Helen? Hast du mich je geliebt? Tief in meinem Herzen habe ich immer gefühlt, dass du mich liebst. Aber jetzt, nachdem ich das alles erfahren habe, bin ich nicht mehr sicher. Ich würde gern glauben, dass du mich kennengelernt hast, um Zugang zu den Audubon-Unterlagen zu bekommen, aber du dich dann unerwarteterweise in mich verliebt hast. Ich würde gern glauben, dass deine Schwangerschaft ein Missgeschick war. Aber irre ich mich, wenn ich das glaube? War unsere Ehe bloß ein Vorwand? Teil eines Arrangements? War ich eine unwissende Schachfigur in irgendeinem großen Projekt, das ich noch nicht in vollem Umfang verstehe? Helen, bitte sag es mir. Es ist … eine Qual für mich, es nicht zu wissen.«
Helen blieb stocksteif sitzen. Eine, nur eine Träne stieg in einem Auge auf, dann rann sie ihre Wange hinab. Das war auch eine Antwort.
Pendergast sah sie an und wartete sehr lange. Dann schloss er mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzer die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß wieder nur er selbst im Zimmer.
Und da hörte er leise von irgendwoher in der Wohnung einen stark gedämpften Aufschrei.