70
Oberst Souza wartete mit seiner Hauptstreitmacht versteckt im dichten Wald am Rande des Dorfs. Kurz vor ein Uhr war er mit seinen zurückgekehrten Kundschaftern zusammengetroffen, und alles lief genau so, wie er gehofft hatte. Die einzige Straße und die drei Saumpfade, die ins Dorf führten, waren leicht bewacht, doch weder an der Randbebauung noch anderswo schien es Patrouillen zu geben. Die Einwohner rechneten nicht mit einem Angriff, vor allem einem, der von irgendwoher aus den riesigen Wäldern erfolgte, die die Ansiedlung umschlossen. Die Leute wiegten sich in einem falschen Gefühl der Sicherheit – zweifellos hervorgerufen durch ihre extreme Isolation.
Der Oberst ging jedoch kein Risiko ein. An der Straßensperre hatte er ein Ablenkungsmanöver vorgesehen, das – er blickte auf seine Armbanduhr – in zwei Minuten starten würde. Es konnte durchaus eine große Anzahl bewaffneter Truppen hier stationiert sein, die sofort zum Kampf bereit waren. Man durfte sich einfach nicht auf Vermutungen verlassen.
Seine Männer warteten komplett getarnt in völliger Stille. Er hatte sie in drei batalhões zu jeweils zehn Mann unterteilt: Rot, Blau und Grün, wobei je ein Mann aus jedem Trupp dem Täuschungsmanöver zugeteilt war.
Die Sekunden verstrichen. Und dann hörte er es: Schüsse aus automatischen Gewehren, durchsetzt von den lauteren, tieferen Detonationen von Granaten. Der Ablenkungsangriff hatte begonnen.
Er hob die Arme – das Signal, dass sich alle bereitmachen sollten – und lauschte dem Täuschungsmanöver. Das Feuer wurde erwidert, aber nicht so stark, wie er erwartet hatte, außerdem schien es sich um vereinzelten, unkoordinierten Beschuss zu handeln. Diese Nazis mit ihrem Militarismus und ihrem vermeintlich brillanten Kriegshandwerk schienen schlichtweg unvorbereitet zu sein.
Dennoch erwog Souza die Möglichkeit, dass sie selbst einer falschen Zurschaustellung von Schwäche zum Opfer fallen und durch Vermessenheit in einen tödlichen Hinterhalt gelockt werden konnten.
Die Minuten verstrichen, während das Ablenkungsmanöver an Lautstärke zunahm, mit zusätzlichen Detonationen und Schüssen seiner Männer, die sich im Wald außerhalb des Haupttores versteckten. Die Reaktion klang weiterhin halbherzig.
Er rückte sein Funk-Headset zurecht, verfolgte, wie die Sekunden auf seiner Uhr herunterzählten, und dann senkte er abrupt den Arm: Sofort setzten sich seine Männer in Bewegung und stürmten vor. Sie brachen aus dem Gebüsch am Rand der Lichtung hervor und begannen, in drei Trupps auszuschwärmen. Die Randbebauung der Stadt lag hundert Meter vor ihnen, hinter einem matschigen Feldweg und einigen Gemüsegärten: hübsche Häuschen mit hölzernen Fensterläden, Blumenkästen und Spitzdächern. Seine Männer überquerten den Feldweg und zertrampelten dabei ein Gemüsebeet. Zwei Mädchen, die gerade Tomaten ernteten, ließen mit einem Aufschrei ihre Körbe fallen und rannten davon.
Souzas batalhões, die sich inzwischen aufgeteilt hatten, strömten in die nächstgelegenen Straßen, wobei der Oberst die Einheit Blau und Thiago die Einheit Rot anführte. Der Schlüssel war eine Blitzkriegtaktik: schnell die Straßen entlanglaufen und jene Art von Haufenbildung vermeiden, die einen desaströsen Granaten- oder Panzerfaust-Angriff begünstigen würde. Sie mussten den Hafen erreichen, bevor sich organisierter Widerstand entwickeln konnte – ein Feuergefecht in diesen schmalen Gassen war das Letzte, was er wollte.
Der Oberst führte seine Einheit an, die wenigen Passanten, denen sie begegneten, erstarrten entweder vor Überraschung oder flohen vor Angst. Während sie tiefer in die Stadt vordrangen, setzte aus Häuserfenstern, von Dächern und Nebenstraßen allerdings ein unkoordiniertes Feuer ein.
»Feuer nach Belieben unterdrücken!«, schrie der Oberst ins Headset.
Seine Männer begannen, das Feuer zu erwidern, schossen die Straßen hinunter und zu den Dächern hinauf, worauf der sporadische Beschuss allmählich nachließ. Als sie sich dem Rathausplatz näherten, entwickelte sich ein ernstzunehmender Widerstand. Eine Gruppe junger Männer, hastig bewaffnet, aber nicht in Uniform, strömte auf den Platz und bezog Stellung hinter ein paar Pferdekarren. Als Souzas drei Trupps auf dem offenen Gelände des Platzes erschienen, wurden sie von vorn und aus den Querstraßen heraus beschossen.
»Roter Trupp, weiter gegnerisches Feuer unterdrücken«, befahl der Oberst. »Blau, Grün, weiter vorrücken!«
Thiagos batalhaõ Rot ging in Deckung und gab eine wüste Salve ab: ein tragbares 50-Millimeter-Maschinengewehr, das den Platz mit einem mörderischen Sperrfeuer beharkte, unterstützt von einem halben Dutzend gut plazierter Granaten aus Panzerfäusten. Das hatte den gewünschten Effekt – die Widerständler auseinanderzujagen und ihnen Angst zu machen. Sobald der Platz gesichert war, stürmte die Einheit Rot vor und folgte den anderen beiden Trupps in die schmalen Gassen auf der anderen Seite. Hier begannen die Straßen in Richtung Hafengebiet abzufallen, und Souza sah schon die Boote, die an den steinernen und hölzernen Kais vertäut lagen.
Er hatte die beiden Zielboote bereits ausgewählt – während seiner Erkundung per Fernglas vom Kraterrand: eine große motorisierte Barkasse mit Stahlrumpf und ein elegantes Passagierboot. Aber das feindliche Feuer hatte erneut eingesetzt, nicht nur von den Dächern, sondern auch vom Hafen her, zu dem eine gerade Straße hinabführte. Plötzlich strömte aus einer Seitenstraße entlang der Kaianlagen eine zweite Gruppe von Männern und eröffnete das Feuer.
»Gegenangriff!«, rief der Oberst, aber Thiagos Maschinengewehrschütze hatte bereits mit dem 50-Millimeter gefeuert, wodurch er mindestens ein halbes Dutzend ihrer Angreifer fällte und den Rest in die Flucht schlug. Eine Granate explodierte in der Nähe, dann noch eine, riss ein Loch in eine Häuserfassade und ließ Glas und Mauerwerk auf sie herabregnen.
»Weiter!«, rief der Oberst, aber die Männer brauchten keine Aufforderung, die Vorhut der drei Trupps beschoss die vor ihnen liegenden Straßen mit kleinkalibrigem Feuer und Panzergranaten, während der 50-Millimeter-Schütze die Nachhut bildete.
Sie gelangten aus den Straßen auf den breiten Kai, der von allen Seiten offen war. Wieder waren sporadisch Schüsse zu hören, und einer der Männer des Obersts stöhnte auf und taumelte, aber diese Verteidigungsmaßnahme wurde mit überwältigenden Feuerstößen von drei Kampfeinheiten beantwortet, ohrenbetäubend kraftvoll, die Granatwerfer pflückten sich Ziele heraus und schickten sie unter donnerndem Getöse himmelwärts.
»Auf die Boote!«, befahl Souza.
Die esquadros betraten die beiden Schiffe gemäß ihrem vereinbarten Plan und schnitten die Leinen von den Duckdalben. Die beiden nautischen Experten des Obersts bezogen Stellung hinter den Ruderhäusern und ließen die Motoren an, während die übrigen Männer auf dem Deck in Verteidigungsstellung gingen. In weniger als zwei Minuten hatten die Boote abgelegt, steuerten auf den See und nahmen Geschwindigkeit auf, während die Schwadronen ihr hartes Sperrfeuer in Richtung Ufer aufrechterhielten.
»Verwundetenbericht!«, brüllte der Oberst.
Er kam schnell rein. Der Sanitäter der Kompanie behandelte zwei Verwundete, Kleinkaliberfeuer, niemand schwer verletzt. Beide Männer waren noch mehr oder weniger kampffähig.
Enorm erleichtert beobachtete der Oberst, wie sich die Küste entfernte. Die Operation war genau nach Plan verlaufen. Wäre er mit hundert Mann reingegangen, wären sie vielleicht noch immer in den Straßenkampf verstrickt, mit weiteren Verletzten, mehr Versprengten und dem unvermeidlichen Trottel, der irgendwo falsch abbog, sich verlief und zurückgeholt werden musste. Sie hätten mehr Boote gebraucht, mehr Logistik, und es hätten sich mehr Gelegenheiten zum Scheitern ergeben.
Der sporadische Beschuss vom Ufer her erstarb, während die Boote allmählich außer Schussweite gerieten, wobei die schwere Barkasse vorausfuhr und seine Männer jetzt extrem genaue Schüsse abgaben und ihre Gegner davon abhielten, sich neu zu gruppieren und in Schiffen die Verfolgung aufzunehmen. Der Oberst holte ein Seidentaschentuch hervor, setzte den Helm ab und wischte sich sorgfältig das Gesicht. Phase eins war beendet, es hatte kaum Verwundete gegeben. Mit einem gewissen Widerstreben richtete er die Aufmerksamkeit nach vorn, hin zu der dunklen Insel, die dort aus dem Wasser ragte. Er konnte keine Menschen erkennen, keine Bewegungen. Und während er die Festung inspizierte, die sich oberhalb des schwarzen Lava-Aschekegels erhob, geriet sein Siegesgefühl ein wenig ins Wanken. Seinem erfahrenen Blick nach wirkte der Ort uneinnehmbar. Alles hing vom Gringo ab. Es gefiel ihm nicht, vom Erfolg einer Person abhängig zu sein, ganz gleich, wie fähig sie war – vor allem einer Person, die er kaum kannte.
Während er sich umblickte, stellte er fest, dass seine Männer ebenfalls mit düsteren, ernsthaften Blicken die Festung beobachteten. Sie dachten das Gleiche wie er. Inzwischen hatten die Boote die Hälfte der Strecke über den See zurückgelegt, die Insel wurde immer größer, der Augenblick der Wahrheit rückte näher.
Er sah auf die Uhr. Wieder hing alles von Geschwindigkeit und Überraschung ab. Die sich nähernden Boote waren von der Festung aus sichtbar, und ohne Zweifel wussten die Verteidiger auf der Insel alles über den Angriff in der Stadt. Sie hatten das Überraschungsmoment verloren, was natürlich hatte passieren müssen.
Während er die Lage analysierte, begann er seine Strategie neu zu überdenken. Die Idee, sich zusätzlich Zeit zu lassen, damit sie um die Insel herumfahren und die Festung von der dahinterliegenden Bucht angreifen konnten, ergab seiner Einschätzung nach immer weniger Sinn. Wie hatte der britische Admiral Lord Nelson einmal gesagt? Fünf Minuten entscheiden über Sieg oder Niederlage. Und noch mehr a propósito: Schert euch nicht um die Manöver; geht geradewegs auf den Feind los. Das Umkreisen der Insel würde nicht fünf, sondern zehn Minuten auffressen und seine Truppe mit einer gefahrvollen Küstenlinie und Landungsposition konfrontieren. Doch unmittelbar vor ihnen lagen herrlich offene, leere und nicht verteidigte Hafenanlagen.
Noch einmal blickte er auf die Uhr. Es war Zeit für Pendergasts Signal. Aber da war nichts. Und jetzt überkam den Oberst ein Gefühl der Unsicherheit. Es war ein Fehler gewesen, sich auf den Mann zu verlassen, ein schlimmer Fehler. Wenn sie vor dem Signal auf der Insel landeten, bestand keine Hoffnung, in die Festung einzudringen. Es wäre eine sinnlose Übung. Und zur Stadt zurückzukehren war auch keine Option mehr.
Inzwischen war das Signal seit fünf Minuten überfällig, und die Insel kam immer näher. Sie gerieten gerade in die Reichweite von Gewehrfeuer. Souza sagte ins Headset: »Boote anhalten! Alle Maschinen stopp!«
Niemand stellte den Befehl in Frage, auch wenn er wusste, dass sich alle fragten: o que diabos agora. Die Barkasse wurde langsamer und kam zum Stehen, indem die Maschinen kurz zurückschalteten; auch das Passagierboot wechselte rumpelnd in den Rückwärtsgang. Der See war ruhig, der Himmel klar. Die Stadt hinter ihnen rauchte, hier und da waren kleine Brände ausgebrochen und Staubwolken zu sehen, welche das kurze Gefecht aufgewirbelt hatte. Vor ihnen lag die Insel immer noch dunkel und still.
Während die Boote im Leerlauf im Wasser lagen, schien sich ein Gefühl der Unsicherheit, der Möglichkeit einer drohenden Niederlage auf der Barkasse auszubreiten. Alle Augen waren auf den Oberst gerichtet. Er verriet nichts von seinen eigenen Gedanken, nichts von seinen Zweifeln. Den Blick auf die Insel geheftet, wahrte er eine bewusst indifferente Miene. Die Boote trieben auf dem See.
Und dann: eine Rauchwolke, gefolgt vom Auflodern einer Flamme. Einige Sekunden darauf kam das Geräusch an, ein Donnergrollen, das sich über das Wasser wälzte. Ein großer Abschnitt der äußeren Befestigungsmauer sackte wie in Zeitlupe in sich zusammen, die Steinquader brachen auseinander und stürzten den Hang hinab, gefolgt vom Einsturz von Stahlbeton von oben. Eine riesige Staubwolke erhob sich und hinterließ eine klaffende Wunde in der Mauer der Festung.
Pendergasts Signal. Es war nicht das, was der Oberst erwartet hatte – es war noch besser. Und es hatte ihnen, so schien es, die Bresche geliefert, die sie brauchten.
»Volle Kraft voraus!«, rief der Oberst ins Headset. »Kurs Hafen!«
Unter den Männern erhob sich ein Ruf, ein anschwellender Jubel, der zum jähen Brummen der Dieselmotoren und dem Vorwärtsschub der beiden Schiffe passte, die geradewegs auf die nicht verteidigten Hafenanlagen zusteuerten. Kurz bevor die Boote anlegten, rief der Oberst: »Estão prontos! Ataque!«