TEIL EINS

18.00 Uhr

Die Frau mit den veilchenblauen Augen schritt langsam unter den Bäumen des Central Park dahin, die Hände tief in den Taschen ihres Trenchcoats. Neben ihr ging ihr älterer Bruder, sein ruheloser Blick nahm alles um sie herum wahr.

»Wie spät ist es?«, fragte sie zum wiederholten Mal.

»Punkt achtzehn Uhr.«

Es war ein milder Abend Mitte November, und die untergehende Sonne warf gesprenkelte Schatten auf die weiten Grünflächen. Sie überquerten den East Drive, kamen am Standbild von Hans Christian Andersen vorbei und gingen eine leichte Anhöhe hinauf. Und dann – als hätten sie denselben Gedanken – blieben sie stehen. Direkt vor ihnen, hinter der glatten Oberfläche des Conservatory Water, stand das Kerbs Memorial Boathouse einem Spielzeughaus gleich eingerahmt von den riesigen Fassaden der Gebäude, die die Fifth Avenue säumten. Es war eine Postkartenidylle: der kleine See, in dem sich der blutorangefarbene Himmel spiegelte, die kleinen Modellbau-Yachten, die durch das stille Wasser pflügten, die freudigen Rufe der Kinder. Soeben erschien ein Vollmond in der Lücke zwischen zwei Wolkenkratzern.

Ihre Kehle fühlte sich eng und trocken an, und ihre Halskette aus Süßwasserperlen kam ihr einengend vor. »Judson«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.«

Sie spürte, wie er den brüderlichen Griff um ihren Arm beruhigend anspannte. »Es wird schon nichts passieren.«

Mit pochendem Herzen blickte sie sich um und betrachtete die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. Auf dem Podest vor dem See fiedelte ein Geiger vor sich hin. Auf einer der Parkbänke vor dem Bootshaus saß ein Liebespärchen, das nur Augen füreinander hatte. Auf der Bank daneben las ein Mann mit kurzem Haar und dem Körperbau eines Bodybuilders das Wall Street Journal. Hin und wieder kamen Pendler und Jogger vorbei. Im Schatten des Bootshauses bereitete ein Obdachloser seine Schlafstatt vor.

Und da stand er vor dem See – eine schlanke Gestalt, reglos, gekleidet in einen langen, hellen Mantel von vorzüglichem Schnitt, das blonde Haar im fahlen abendlichen Licht platinhell glänzend.

Die Frau holte tief Luft.

»Geh nur«, sagte Judson leise. »Ich bleibe in deiner Nähe.« Er ließ ihren Arm los.

Als die Frau losging, war ihr, als verschwände alles um sie herum, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der beobachtete, wie sie näher kam. Tausende Male hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, hatte ihn in all seinen vielen Variationen durchgespielt, wobei er stets mit dem bitteren Gedanken endete, dass er nie wahr werden könnte, dass alles nur ein Traum bleiben würde. Und doch war er hier. Er sah älter aus, aber nicht viel: Die alabasterfarbene Haut, die feinen patrizischen Gesichtszüge, die funkelnden Augen, mit denen er sie aufmerksam betrachtete, erweckten in ihr einen Sturm der Gefühle, der Erinnerung und – selbst in dieser Zeit äußerster Gefahr – der Begierde.

Ein, zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen.

»Bist du’s wirklich?« In seiner Frage, die er mit seinem weichen, höflichen Südstaaten-Akzent stellte, lag so viel Gefühl.

Sie versuchte zu lächeln. »Es tut mir leid, Aloysius. So wahnsinnig leid.«

Er schwieg. Jetzt, nach all den Jahren, stellte sie fest, dass sie die Gedanken hinter seinen silberfarbenen Augen nicht mehr lesen konnte. Was empfand er wohl: Verrat? Groll? Liebe?

Auf einer Wange hatte er eine schmale, frische Narbe. Sie hob einen Finger und berührte sie leicht. Dann deutete sie impulsiv über seine Schulter.

»Schau mal«, flüsterte sie. »Nach all den Jahren bleibt uns immer noch der Mondaufgang.«

Er folgte ihrem Blick über die Skyline der Fifth Avenue. Zwischen den imposanten Gebäuden war der buttergelbe Mond aufgegangen, perfekt gerahmt vor einem perlmuttartigen, pinkfarbenen Himmel, der nach oben hin in ein kühles Violett überging. Er zitterte ein wenig. Als er wieder zu ihr hinschaute, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert.

»Helen«, flüsterte er. »Mein Gott, ich habe geglaubt, du bist tot.«

Wortlos hakte sie sich bei ihm unter und begann geistesabwesend mit ihm um den See zu gehen.

»Judson sagt, dass du mich aus … alldem hier herausholen wirst.«

»Ja. Wir fahren zurück in meine Wohnung im Dakota. Und von dort gehen wir dann nach –« Mitten im Satz hielt er inne. »Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser. Es genügt, wenn ich sage: Dort, wo wir hingehen, hast du nichts zu befürchten.«

Sie umfasste seinen Arm fester. »Nichts zu befürchten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das klingt.«

»Es wird Zeit, dein Leben wieder aufzunehmen.« Er schob seine Hand in die Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen Sternsaphir hervor. »Fangen wir also am Anfang an. Erkennst du ihn wieder?«

Sie errötete, als sie ihn betrachtete. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde.«

»Und ich hätte nie gedacht, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, ihn dir wieder anzustecken. Das heißt nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Judson mir sagte, dass du noch lebst. Ich wusste, wusste, dass er die Wahrheit sagt – auch wenn niemand sonst mir geglaubt hat.«

Er fasste sie leicht am Unterarm und hob ihn an, als wollte er ihr den Ring anstecken. Seine Augen weiteten sich, als er an ihrem Handgelenk den Stumpf erblickte, an dessen Ende eine Narbe verlief.

»Ah, verstehe«, sagte er schlicht. »Natürlich.«

Es war, als sei der behutsame diplomatische Tanz, den sie aufgeführt hatten, plötzlich zu Ende. »Helen.« Auf einmal klang sein Tonfall ein wenig schroff. »Warum hast du bei diesem grauenvollen Plan mitgemacht? Wieso hast du mir so vieles verschwiegen? Weshalb hast du nicht …?«

»Bitte, ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbrach sie ihn rasch. »Es gab für alles Gründe. Es ist eine schreckliche, eine schreckliche Geschichte. Ich werde sie dir erzählen – alles. Aber jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Also bitte – steck mir den Ring an und lass uns gehen.«

Sie hob die rechte Hand, und er schob ihr den Ring auf den Finger. Gleichzeitig sah sie, wie sein Blick an ihr vorbeiging zu der hinter ihr liegenden Szenerie.

Plötzlich schrak er zusammen. Einen Moment stand er, ihre Hand immer noch in der seinen, reglos da. Dann wandte er sich anscheinend ruhig dorthin, wo ihr Bruder stand, und gab ihm ein Zeichen, er solle sich ihnen hinzugesellen.

»Judson«, hörte sie ihn leise sagen, »schaff Helen weg von hier – unauffällig, aber schnell.«

Die Furcht, die eben erst abgeklungen war, überfiel sie von neuem. »Aloysius, was –«

Aber mit einem kurzen Kopfschütteln schnitt er ihr das Wort ab. »Bring sie ins Dakota«, sagte er zu Judson. »Ich treffe euch dann dort. Bitte geht. Sofort.«

Judson griff nach Helens Hand und ging mit ihr davon, fast so, als hätte er diese Entwicklung vorhergesehen.

»Was ist denn?«, fragte sie ihn. Keine Antwort.

Sie blickte über die Schulter. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Aloysius eine Pistole gezogen hatte und auf einen der Modellyachtbesitzer richtete. »Stehen Sie auf«, sagte er jetzt. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

»Judson –«, begann sie noch einmal.

Aber er ging nur schneller und zog sie mit sich.

Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Schuss. »Lauft!«, rief Pendergast.

Im nächsten Augenblick brach über die friedvolle Szenerie die Hölle herein. Menschen liefen schreiend auseinander. Judson packte Helen fester, und sie fielen in Laufschritt.

Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Judsons Hand wurde aus ihrer gerissen, und er stürzte.

Erst glaubte sie, er sei gestolpert, dann aber sah sie, dass aus seinem Mantel Blut hervorspritzte.

»Judson!«, schrie sie, blieb stehen und beugte sich über ihn.

Er lag auf der Seite, blickte zu ihr hoch und wand sich vor Schmerzen. »Lauf weiter«, stieß er röchelnd hervor. »Lauf …«

Wieder Geknatter aus der automatischen Waffe, und erneut zischte eine Linie zwitschernden Todes durchs Gras, als die Kugeln sich in die Erde bohrten. Dann wurde Judson von einer weiteren Kugel getroffen, und der Aufprall schleuderte ihn auf den Rücken.

»Nein!«, schrie Helen und zuckte zurück.

Das Chaos steigerte sich: Schreie, Schüsse, die Laufschritte fliehender Menschen. Helen nahm nichts davon wahr. Sie sank auf die Knie und starrte erschrocken in Judsons offene, aber blicklose Augen.

»Judson!«, rief sie. »Judson!«

Einige Sekunden, vielleicht auch mehr, waren vergangen – Helen wusste es einfach nicht –, als sie Aloysius ihren Namen rufen hörte. Sie hob den Kopf. Er kam mit gezogener Pistole auf sie zugerannt und schoss gleichzeitig zur Seite.

»Fifth Avenue!«, rief er. »Lauf zur Fifth Avenue!«

Wieder fiel ein Schuss, und auch Aloysius stürzte zu Boden. Das schreckte Helen aus ihren Gedanken. Sie rappelte sich auf, ihr Trenchcoat nass vom Blut des Bruders. Aloysius war noch am Leben, er hatte es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen, war hinter einer Bank in Deckung gegangen und feuerte nach wie vor auf das Pärchen, das kurz zuvor noch herumgeknutscht hatte.

Er gibt mir Deckung, damit ich fliehen kann.

Blitzartig drehte sie sich um und rannte los, so schnell sie konnte. Sie würde zur Fifth Avenue laufen, die Schützen in der Menge abschütteln, sich dann zum Dakota durchschlagen und dort wieder mit ihm zusammenkommen … Weitere Schüsse und die Schreie von Menschen in Angst unterbrachen Helens angsterfüllte Gedanken.

Sie rannte weiter. Vor ihr lag die Fifth Avenue, hinter dem großen Steintor zum Park. Nur noch fünfzehn Meter …

»Helen!« Aloysius’ Ausruf drang aus weiter Ferne zu ihr. »Pass auf! Links von dir!«

Sie blickte nach links. Im Dunkel unter den Bäumen sah sie zwei Männer in Jogginganzügen, die direkt auf sie zuspurteten.

Sie bog in vollem Lauf ab, auf eine Gruppe von Platanen abseits des Hauptweges zu, und warf einen Blick nach hinten. Die Jogger folgten ihr – und kamen rasch näher.

Weitere Schüsse fielen. Helen verdoppelte ihre Anstrengungen, aber immer wieder sank sie mit den Absätzen in der weichen Erde ein, was sie beim Laufen behinderte. Plötzlich spürte sie im Rücken einen fürchterlichen Aufprall, so dass sie zu Boden geschleudert wurde. Jemand packte den Kragen ihres Trenchcoats und riss sie unsanft hoch. Sie wehrte sich und schrie, doch die beiden Männer hielten sie an den Armen fest und zogen sie Richtung Fifth Avenue. Mit Entsetzen erkannte sie die Gesichter.

»Aloysius!«, rief sie aus vollem Hals und blickte nach hinten über die Schulter. »Hilfe! Ich kenne diese Leute! Die sind vom Bund! Die bringen mich um! Hilf mir, bitte!«

Im schwindenden Licht konnte sie ihn gerade noch erkennen. Er hatte sich aufgerappelt, blutete stark aus der Schusswunde am Bein und humpelte auf sie zu.

Vor ihr auf der Fifth Avenue stand ein Taxi mit laufendem Motor am Bordstein, es wartete – wartete auf sie und ihre Entführer.

Noch einmal schrie sie voller Verzweiflung: »Aloysius!«

Die Männer stießen sie vor sich her, öffneten die hintere Tür des Taxis und stießen sie auf den Sitz. Aloysius’ Kugeln prallten von der gehärteten Windschutzscheibe ab.

»Los! Verschwinden wir hier!«, rief einer der Jogger auf Deutsch, während sie hinter Helen ins Taxi stiegen. »Gib Gas!«

Während Helen sich mit aller Kraft zur Wehr setzte und versuchte, mit der unverletzten Hand die Tür aufzustoßen, fuhr das Taxi vom Bordstein los. Ganz kurz sah sie ihren Mann im schummrigen Park. Er war auf die Knie gesunken und blickte noch immer in ihre Richtung.

»Nein!«, rief sie, während sie sich wehrte. »Nein!«

»Halt die Klappe!«, blaffte einer der Männer, holte aus und versetzte ihr einen Fausthieb an die Schläfe. Und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Sechs Stunden später

Ein Arzt in zerknitterter OP-Kleidung steckte den Kopf ins Wartezimmer der Intensivstation des Krankenhauses Lenox Hill. »Er ist wach, Sie können jetzt zu ihm rein.«

»Gott sei Dank.« Lieutenant Vincent D’Agosta von der New Yorker Polizei steckte das Notizbuch, in dem er gelesen hatte, ein und stand auf. »Wie geht es ihm?«

»Keine Komplikationen.« Ein Anflug von Verärgerung huschte über die Gesichtszüge des Mediziners. »Allerdings sind Ärzte immer die schlimmsten Patienten.«

»Aber er ist doch nicht …«, begann D’Agosta, schwieg dann aber und folgte dem Arzt auf die Intensivstation.

Special Agent Pendergast saß aufrecht im Bett, mit Schläuchen an ein halbes Dutzend Überwachungsgeräte angeschlossen. In einem Arm steckte ein Infusionsschlauch, an den Nasenflügeln war eine Nasenkanüle befestigt. Das Bett war übersät mit Blättern aus seiner Krankenakte, und er hielt gerade eine Röntgenaufnahme in der Hand. Die schon immer blasse Haut wirkte jetzt wie Porzellan. Ein Arzt beugte sich über das Krankenbett, vertieft in ein intensives Gespräch mit dem Patienten. D’Agosta konnte Pendergasts Antworten zwar kaum verstehen, es war aber deutlich, dass die beiden Männer nicht gerade einer Meinung waren.

»… das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte der Arzt, als D’Agosta auf das Bett zutrat. »Wegen der Schussverletzung und des Blutverlusts stehen Sie immer noch unter Schock, und die Wunde selbst – von den beiden angebrochenen Rippen ganz zu schweigen – muss abheilen und bedarf weiterer ärztlicher Behandlung.«

»Doktor«, antwortete Pendergast. Normalerweise war er der Inbegriff von Südstaatenhöflichkeit, jetzt aber hatte seine Stimme den Klang von Eisstücken, die auf Eisen prasselten. »Die Kugel hat den Wadenmuskel lediglich gestreift. Weder das Waden- noch das Schienbein sind betroffen. Die Wunde war sauber, und es war auch keine Operation erforderlich.«

»Aber der Blutverlust …«

»Ja«, unterbrach Pendergast, »der Blutverlust. Wie viele Blutkonserven habe ich bekommen?«

Schweigen. Dann: »Eine.«

»Eine Konserve. Wegen der Beschädigung der oberflächlichen Nebenvenen der Vena Giacomini. Eine Bagatelle.« Er schwenkte das Röntgenbild wie ein Fähnchen. »Und was die Rippen angeht, so haben Sie selbst gesagt: angebrochen, nicht gebrochen. Die sternalen Rippen fünf und sechs, an den Köpfchen, ungefähr zwei Millimeter entfernt von der Wirbelsäule. Da es sich dabei um sogenannte echte Rippen handelt, wird ihre Elastizität zu einer raschen Heilung beitragen.«

Der Arzt wurde wütend. »Dr. Pendergast, ich kann es einfach nicht erlauben, dass Sie das Krankenhaus in diesem Zustand verlassen. Gerade Sie müssten doch –«

»Im Gegenteil, Doktor. Sie können es nicht verhindern. Der Zustand meiner lebenswichtigen Organe liegt im akzeptablen Bereich. Meine Verletzungen sind geringfügig, und ich kann für mich selbst sorgen.«

»Ich werde in Ihrer Krankenakte notieren, dass Sie das Krankenhaus entgegen meinem ausdrücklichen Rat verlassen.«

»Ausgezeichnet.« Pendergast schnippte das Röntgenbild wie eine Spielkarte auf den Tisch in der Nähe. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden?«

Der Arzt warf einen letzten, gereizten Blick auf Pendergast, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, gefolgt von dem Mediziner, der D’Agosta begleitet hatte.

Jetzt wandte sich Pendergast D’Agosta zu, so als hätte er ihn gerade eben erst bemerkt. »Vincent.«

D’Agosta trat rasch ans Krankenbett. »Pendergast. Mein Gott. Es tut mir so leid …«

»Warum sind Sie nicht bei Constance?«

»Sie ist in Sicherheit. Das Mount Mercy hat seine Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Ich musste«, er stockte, um seine Stimme im Griff zu behalten, »nach Ihnen sehen.«

»Viel Lärm um nichts, aber trotzdem vielen Dank.« Pendergast entfernte die Nasenkanüle und zog die Infusionsnadel aus der Armbeuge, dann löste er die Blutdruckmanschette und das Pulsoxymeter. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Seine Bewegungen wirkten langsam, fast roboterhaft. Der Mann trieb sich mit eisernem Willen an, das war unverkennbar.

»Ich hoffe bloß, Sie beabsichtigen nicht tatsächlich, das Krankenhaus zu verlassen.«

Als Pendergast sich umwandte und ihn wieder ansah, brachte die Heftigkeit in seinem Blick – wie glühende Kohlen in einem ansonsten leblosen Gesicht – D’Agosta augenblicklich zum Verstummen.

»Und wie geht es Proctor?«, fragte Pendergast, während er die Beine über die Bettkante schwang.

»Gut, laut Auskunft der Ärzte. Jedenfalls unter den Umständen. Ein paar gebrochene Rippen, dort, wo das Projektil auf die kugelsichere Weste getroffen ist.«

»Judson?«

D’Agosta schüttelte den Kopf.

»Bringen Sie mir meine Kleidung.« Mit einem Nicken deutete Pendergast zum Kleiderschrank.

D’Agosta zögerte, erkannte, dass Widerspruch zwecklos war, und brachte sie ihm.

Im Aufstehen zuckte Pendergast zusammen, eine Sekunde lang schwankte er fast unmerklich, dann hatte er sich wieder im Griff. D’Agosta reichte ihm die Kleidungsstücke, Pendergast zog den Schutzvorhang zu.

»Haben Sie eine Ahnung, was zum Teufel da im Park abgelaufen ist?«, fragte D’Agosta. »Die Nachrichten bringen fast nicht anderes mehr. Fünf Tote, das Morddezernat ist völlig aus dem Häuschen.«

»Ich habe keine Zeit für Erklärungen.«

»Tut mir leid, aber Sie kommen hier nicht raus, ohne mir zu erklären, was da passiert ist.« Er zückte sein Notizbuch.

»Also gut. Ich rede mit Ihnen, so lange wie ich zum Ankleiden brauche. Und dann gehe ich hier raus.«

D’Agosta zuckte mit den Schultern. Am besten nahm er, was er kriegen konnte.

»Es handelt sich um eine sorgfältig – außerordentlich sorgfältig – geplante Entführung. Diese Leute haben Judson ermordet und meine Frau entführt.«

»Diese Leute? Wer sind die?«

»Eine undurchsichtige Gruppe von Nazis oder Nachkommen von Nazis, die sich Der Bund nennt.«

»Nazis? Verdammt, was wollen die?«

»Die Motive dieser Leute sind mir ein Rätsel.«

»Ich benötige Details über den genauen Ablauf der Ereignisse.«

Hinter dem Schutzvorhang sagte Pendergast: »Ich hatte mich mit Judson und Helen am Bootshaus verabredet, um Helen vor dieser Gruppe in Sicherheit zu bringen. Helen ist wie vereinbart um sechs eingetroffen. Mir wurde schnell klar, dass man uns in eine Falle gelockt hatte. Einer der Modellyachtbesitzer verhielt sich verdächtig. Er kannte sich überhaupt nicht mit Schiffen aus und war ängstlich und nervös – er schwitzte, obwohl es kühl war. Ich habe meine Waffe gezogen und ihn aufgefordert aufzustehen. Dann ging’s los.«

D’Agosta machte sich Notizen. »Wie viele Beteiligte?«

Pendergast hielt kurz inne. »Sieben, mindestens. Der Modellyachtbesitzer. Ein Liebespaar auf einer der Parkbänke – die haben Judson erschossen. Ein vermeintlicher Obdachloser, der Proctor angeschossen hat. Ihre Tatortermittler haben die Abfolge des Schusswechsels wahrscheinlich schon rekonstruiert. Es waren mindestens noch drei weitere Personen beteiligt: zwei Jogger, die Helen entführt haben, als sie zu fliehen versuchte, und der Fahrer des Taxis, in das sie Helen hineindrängt haben.«

Pendergast trat hinter dem Schutzvorhang hervor. Sein normalerweise makelloser Anzug sah furchtbar aus: das Jackett voller Grasflecken, der untere Teil eines Hosenbeins eingerissen und voll getrockneten Bluts. Er band sich die Krawatte und sah dabei D’Agosta an. »Adieu, Vincent.«

»Warten Sie. Wieso wusste dieser … Bund von Ihrer Verabredung mit Helen?«

»Eine ganz ausgezeichnete Frage.«

Pendergast griff nach einem metallenen Gehstock und wandte sich ab. D’Agosta packte ihn am Arm. »Das ist doch verrückt, dass Sie das Krankenhaus verlassen, einfach so. Kann ich Ihnen denn nicht auf irgendeine Weise helfen?«

»Doch.« Pendergast nahm D’Agosta das Notizbuch samt Schreiber aus der Hand, schlug es auf und schrieb rasch etwas hinein. »Das ist das Kennzeichen des Taxis, in dem Helen entführt worden ist. Die letzten beiden Ziffern konnte ich nicht erkennen. Setzen Sie alles daran, das Kennzeichen zu identifizieren. Und das ist die Nummer des Taxis, aber die ist wertlos, nehme ich an.«

D’Agosta nahm das Notizbuch wieder an sich. »Garantiert.«

»Geben Sie eine Fahndung nach Helen heraus. Das könnte zwar kompliziert sein, da sie offiziell ja als tot gilt, aber machen Sie’s trotzdem. Ich besorge Ihnen ein Foto – es wird fünfzehn Jahre alt sein, die Forensiker sollen sie mit ihren Bildbearbeitungsprogrammen älter machen.«

»Sonst noch was?«

Pendergast schüttelte brüsk den Kopf, nur einmal. »Finden Sie einfach nur das Taxi.« Und damit verließ er das Krankenzimmer und humpelte den Flur hinunter, wobei er seinen Gang beschleunigte.

22 Stunden später

Auf der Fahrt von Newark nach Westen fühlte D’Agosta sich in jene Zeit zurückversetzt, als er im 41. Bezirk in der damaligen South Bronx Streife gegangen war. Die heruntergekommenen Läden, die mit geschlossenen Rollläden versehenen Gebäude, die völlig maroden Straßen – das alles erinnerte ihn an weniger glückliche Tage. Er fuhr weiter, während sich draußen vor der Windschutzscheibe immer trostlosere Bilder boten. Schon bald kam er im Zentrum der Misere an: Hier, inmitten der am dichtesten bevölkerten Megacity der USA, standen ganze Häuserblocks leer, die Gebäude ausgebrannte Hüllen oder Müllkippen. An einer Straßenecke fuhr er rechts ran, die Dienstwaffe dort, wo er schnell an sie herankommen würde. Aber dann sah er mitten in dem ganzen Verfall ein einzelnes Gebäude – es stand da wie eine einsame Blume auf einem Parkplatz – mit Gardinen hinter den Fenstern, Geranien und hell gestrichenen Fensterläden: ein Ort der Hoffnung inmitten der Stadtwüste. D’Agosta atmete tief durch. Die South Bronx hatte sich wieder erholt; dieses Viertel hier würde das ebenfalls schaffen.

Er überquerte den Bürgersteig und ging über ein brachliegendes Grundstück, wobei er lose Ziegelsteine mit dem Fuß zur Seite stieß. Pendergast war bereits eingetroffen. Der Agent stand am anderen Ende der Brache neben den ausgebrannten Überresten eines Taxis und unterhielt sich mit einem uniformierten Polizisten und den Angehörigen eines kleinen Ermittlerteams. Pendergasts Rolls-Royce, der an der Straßenecke parkte, wirkte in dem ärmlichen Viertel enorm deplaziert.

D’Agosta ging zu Pendergast, der ihm kurz zunickte. Bis auf die schockierende Blässe sah der FBI-Agent wieder einigermaßen hergestellt aus. Im spätnachmittäglichen Licht war zu erkennen, dass der übliche schwarze Anzug sauber und gebügelt war, das weiße Hemd frisch. Den unschönen Aluminiumgehstock hatte er gegen einen aus Elfenbein mit einem Silberknauf ausgetauscht.

»… habe das Taxi vor einer Dreiviertelstunde gefunden«, sagte der Streifenpolizist soeben zu Pendergast. »Ich war gerade hinter ein paar Zwölfjährigen her, die Kupferdraht geklaut hatten.« Er schüttelte den Kopf. »Und da hab ich dieses New Yorker Taxi entdeckt. Weil das Kennzeichen mit dem in der Fahndung übereinstimmt, habe ich’s gemeldet.«

D’Agosta widmete sich dem Taxi. Es war kaum mehr als eine leere Hülle: Die Motorhaube war verschwunden, der Motorblock ausgeschlachtet, die Sitze fehlten, das Armaturenbrett war angesengt und teilweise geschmolzen, das Lenkrad zerbrochen.

Von der anderen Seite des Fahrzeugs kam der Leiter des Spurensicherungsteams herüber. »Schon bevor sich diese Vandalen über das Taxi hergemacht haben, war es als Beweismittel kaum zu gebrauchen«, sagte er und zog die Latexhandschuhe aus. »Keinerlei Papiere oder Dokumente. Es wurde vollständig abgesaugt und abgewischt, sämtliche Fingerabdrücke wurden entfernt. Dabei wurde ein besonders aggressiver Brandbeschleuniger benutzt. Alles andere, worum die Täter sich nicht gekümmert haben, hat der Brand erledigt.«

»Und das amtliche Kennzeichen?«, fragte D’Agosta.

»Das haben wir. Es handelt sich um ein gestohlenes Fahrzeug. Wird uns nicht viel nützen.« Der Polizist hielt inne. »Wir schleppen es zum Lagerhaus zurück, um es dort genauer zu untersuchen, aber das Ganze riecht danach, als hätten Profis sämtliche Spuren beseitigt. Organisierte Kriminalität.«

Pendergast hörte sich das an, ohne darauf einzugehen. Er blieb völlig ruhig, aber D’Agosta registrierte, dass eine gewisse Verzweiflung, ein rücksichtsloser Tatendrang von ihm ausging. Dann zog Pendergast plötzlich ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche, streifte sie über und trat an das Fahrzeug heran. Er beugte sich über das Taxi, wobei er vor Schmerz kurz zusammenzuckte, ging einmal, zweimal um den Wagen herum und strich mit seinen schmalen Fingern ganz leicht über das versengte Metall, während er mit seinen funkelnden Augen alles genau erfasste. Unter den Blicken der anderen spähte er in den Motorraum, in das Wageninnere, vorn und hinten, den Kofferraum. Dann startete er eine dritte Umkreisung und holte dabei ein paar kleine Beweismittelbeutel, einige Teströhrchen sowie ein Skalpell aus der Tasche. Er kniete sich neben die vordere Stoßstange, wobei er vor Anstrengung kurz das Gesicht verzog, und kratzte mit dem Skalpell kleine Placken getrockneten Schlamms in einen der Beutel, den er anschließend verschloss und wieder einsteckte. Er stand auf und beendete, langsamer diesmal, die dritte Umkreisung. Am hinteren rechten Reifen blieb er stehen, kniete sich wieder hin, pflückte mit einer kleinen Zange mehrere Kieselsteinchen aus den Reifenrillen und legte sie in einen zweiten Beutel. Auch dieser verschwand schnell in seiner Tasche.

»Sind das, äh, Beweismittel?«, fragte der Polizist.

Pendergast stand auf und drehte sich zu dem Mann um. Er sagte nichts, aber der Polizist wich einen Schritt zurück, als der FBI-Agent ihm fest in die Augen blickte.

»Okay. Halten Sie uns auf dem Laufenden, wenn Sie was herausgefunden haben«, murmelte der Cop.

Pendergast schaute den Mann weiterhin durchdringend an. Er sah auch die Leute vom Spurensicherungsteam an, einen nach dem anderen, und dann schließlich D’Agosta. In seinem Blick lag etwas Anschuldigendes, als hätten sie sich eines ungenannten Vergehens schuldig gemacht. Dann drehte er sich um und ging zum Rolls, leicht humpelnd und sich auf den Gehstock stützend.

D’Agosta eilte ihm hinterher. »Und was machen Sie jetzt?«

Pendergast ging einfach weiter. »Helen finden.«

»Werden Sie … in offiziellem Auftrag arbeiten?«

»Bitte lassen Sie meinen Status meine Sorge sein.«

Der kühle Tonfall erschreckte D’Agosta ein wenig.

»Fahren Sie mit den offiziellen Ermittlungen fort. Wenn Sie etwas von Interesse aufdecken, lassen Sie es mich wissen. Aber denken Sie auch daran: Das hier ist mein Kampf, nicht Ihrer.«

Als D’Agosta stehen blieb, wandte sich Pendergast um; seine Stimme klang weicher, als er ihm die Hand auf den Arm legte. »Ihr Platz ist hier, Vincent. Was ich tun muss, muss ich allein tun.«

D’Agosta nickte. Pendergast wandte sich erneut ab, öffnete die Tür zum Rolls und hob gleichzeitig das Handy ans Ohr. Gerade als sich die Tür schloss, hörte D’Agosta, wie er in sein Mobiltelefon sagte: »Mime? Irgendetwas? Überhaupt irgendwas?«

26 Stunden später

Horace Allerton bereitete sich gerade darauf vor, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen – einen gemütlichen Abend mit einer Tasse Kaffee und einer guten wissenschaftlichen Zeitschrift zu verbringen –, als es an der Tür seines gepflegten Bungalows in Lawrenceville klopfte.

Er stellte die Tasse ab und blickte stirnrunzelnd zur Wanduhr. Viertel nach acht. Ein Freund würde ihn derart spät nicht mehr stören. Er nahm das Fachblatt, Stratigraphy Today, zur Hand und schlug es, vor Behagen leise seufzend, auf.

Wieder klopfte es, nachdrücklicher diesmal.

Allerton hob den Kopf und blickte zur Tür. Vielleicht die Zeugen Jehovas oder einer von diesen nervigen Jugendlichen, die von Tür zu Tür gingen und Zeitschriftenabonnements verkauften. Ignorieren, dann würden sie schon wieder gehen.

Er hatte gerade mit der Lektüre des Hauptartikels – »Die mechanische stratigraphische Analyse von Ablagerungsstrukturen«, eine in der Tat vielversprechende Abendlektüre – begonnen, als er aufblickte und den Schreck seines Lebens bekam. Mitten im Wohnzimmer stand ein Mann in elegantem schwarzem Anzug, das Gesicht weiß wie Dracula.

»Was in Gottes Namen –?«, rief Allerton und sprang auf.

»Special Agent Pendergast. FBI.« Wie aus dem Nichts kamen eine Dienstmarke und ein Ausweis zum Vorschein und wurden ihm unter die Nase gehalten.

»Wie … sind Sie ins Haus gekommen? Was wollen Sie?«

»Dr. Horace Allerton, der Geologe?«, fragte der Agent. Seine Stimme klang gelassen, hatte aber einen unterschwellig drohenden Tonfall.

Allerton nickte und schluckte.

Wortlos ging Pendergast zu einem der Sessel, und da bemerkte Allerton das Humpeln und den Gehstock mit dem Silberknauf. Der Geologe nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Dr. Allerton«, sagte der FBI-Agent und setzte sich. »Ich benötige Ihre Hilfe. Sie gelten als Fachmann, was die Untersuchung von Bodenzusammensetzungen angeht. Insbesondere Ihr Wissen über die Zusammensetzung von Gletscherböden ist mir aufgefallen.«

»Und?«

Der FBI-Agent griff in seine Jacketttasche und holte zwei verschlossene Plastikbeutel hervor. Er legte beide auf den Couchtisch und schob sie auseinander.

Allerton zögerte, beugte sich dann aber doch vor, um sie sich genauer anzusehen. Der eine Beutel war mit einer Probe Eisenglimmer-Lehm gefüllt, vermischt mit Erde, der andere mit kleinen Steinchen porphyrischen Granits.

»Ich brauche zweierlei. Erstens hätte ich gern eine Karte der geographischen Verteilung des Lehmtyps in Probe eins.«

Allerton nickte langsam.

»Die Steinchen in der zweiten Probe stammen aus einem Kieswerk, nicht wahr?«

Der Geologe öffnete den Beutel und nahm die Steinchen in die Hand. Sie waren rauh, scharf, die Kanten noch nicht durch Zeit, Witterung oder Gletscherschliff stumpf geworden. »Ja, richtig.«

»Ich möchte wissen, woher sie stammen.«

Allerton blickte von einem Beutel zum anderen. »Warum kommen Sie zu so später Stunde zu mir, schleichen sich auf diese Weise in mein Haus? Sie sollten einen Termin vereinbaren, mich in meinem Büro in Princeton aufsuchen.«

Ein leichtes Zittern huschte über die scharf geschnittenen Gesichtszüge des FBI-Agenten. »Handelte es sich lediglich um eine unverbindliche Anfrage, Dr. Allerton, dann hätte ich Sie nicht zu so später Stunde gestört. Das Leben einer Frau steht auf dem Spiel.«

Allerton legte die Beutel neben seine Kaffeetasse. »An was für einen, äh, Zeitrahmen dachten Sie denn?«

»Es ist bekannt, dass Sie im Keller ein kleines, aber recht gut ausgestattetes Mineralogie-Labor haben.«

»Soll das heißen, dass Sie die Proben sofort analysiert haben wollen?«

Statt darauf zu antworten, lehnte sich Pendergast im Sessel zurück, so als wollte er es sich bequem machen.

»Aber das kann Stunden dauern!«, protestierte Allerton.

Pendergast sah ihn fest an.

Allerton warf einen Blick auf die Wanduhr. Halb neun. Er dachte an seine Fachzeitschrift und den Artikel, auf den er sich gefreut hatte. Dann blickte er wieder zum FBI-Agenten, der ihm da im Sessel gegenübersaß. Der Mann hatte dunkle Ringe unter den blassgrauen Augen, so als hätte er lange nicht mehr geschlafen. Und der Ausdruck in seinen Augen machte Allerton ungemein nervös.

»Möchten Sie mir vielleicht verraten, weshalb Sie diese Spezialanalysen benötigen?«

»Gern. Die Proben stammen von einem Auto, das offenbar eine gewisse Zeitlang auf einer Schotterstraße sowie auf einer schlammigen Auffahrt gefahren ist. Ich muss diesen Ort finden.«

Allerton schnappte sich die Proben und erhob sich aus dem Sessel. »Warten Sie hier.«

Dann nahm er die volle Kaffeetasse vom Couchtisch und ging in den Keller.

30 Stunden später

Mitternacht. Pendergast saß bei eingeschaltetem Motor im Rolls-Royce vor dem Haus von Dr. Allerton.

Er hatte Glück gehabt: Die besondere Art von Granit trat nur in einem Gebiet zutage, in dem es zugleich eine Kiesgrube gab. Eigentümer der Kiesgrube war die Reliance and Gravel Company, die etwas außerhalb von Ramapo, Bundesstaat New York, lag. Das Unternehmen betrieb ein großes Kieswerk und belieferte ein Gebiet, das einen erheblichen Teil von Rockland County umfasste. Pendergast war mit dem Laptop auf die Website von Reliance gegangen und hatte den ungefähren geographischen Umkreis der Kundschaft kartographiert, den er anschließend auf einem Straßenatlas von Rockland County markierte.

Als Nächstes befasste er sich mit Allertons Analyse der Schlammbröckchen. Sie bestanden zum großen Teil aus einem ungewöhnlichen Lehmtyp, der sich als verwitterter Glimmerhalloysit erwiesen hatte und glücklicherweise in der Region nicht besonders oft vorkam, jedoch – laut dem Geologen – etwas häufiger in Quebec und im Norden Vermonts. Allerton hatte Pendergast eine Karte mit der geographischen Verbreitung des Halloysits mitgegeben, die er aus einer Online-Zeitschrift kopiert hatte.

Diese Karte glich Pendergast mit dem Verbreitungsgebiet ab, das er für den Kies markiert hatte. Nur in einem Landstrich kamen beide Karten zur Deckung, er war knapp anderthalb Quadratkilometer groß und lag nordöstlich von Ramapo.

Jetzt öffnete Pendergast auf dem Laptop Google Earth und machte die Koordinaten dieser deckungsgleichen anderthalb Quadratkilometer ausfindig. Nachdem er auf die maximale Auflösung des Computerprogramms gezoomt hatte, betrachtete er das Gelände genauer. Ein großer Teil war bewaldet und lag an der Grenze des Harriman State Park. Ein anderer Abschnitt wurde von einer Vorstadtsiedlung eingenommen, doch es handelte sich um ein Neubaugebiet, und allem Anschein nach waren sämtliche Straßen und Auffahrten durchgängig asphaltiert. Hier und da gab es noch ein paar unbefestigte Straßen sowie einige Farmen, aber dort waren keine Flächen mit Kies bestreut. Schließlich entdeckte er ein Gebäude, das ihm vielversprechend vorkam: ein großes, abgelegenes Lagerhaus. Davor befand sich eine lange Zufahrt, und ein kleiner angrenzender Parkplatz hatte eine fleckige, helle Färbung, was ganz danach aussah, dass über dem schlammigen Boden Schotter ausgebreitet worden war.

Pendergast klappte den Laptop zu und verstaute ihn, fuhr mit quietschenden Reifen vom Bordstein los und steuerte in Richtung New Jersey Turnpike.


Anderthalb Stunden später parkte er den Rolls etwas abseits der Straße, rund achthundert Meter hinter der Abfallbeseitigungsanlage des Rockland County, in einem bewaldeten Abschnitt kurz vor dem Lagerhaus. Durch die kahlen, im Mondlicht blassen Bäume war das Gebäude zu erkennen, vor dessen massiver Wellblechtür eine einzelne Lampe brannte. Eine halbe Stunde lang observierte er das Gebäude. Niemand kam heraus oder ging hinein; es war offenbar leer.

Er nahm eine Taschenlampe vom Rücksitz, schaltete sie aber nicht ein, stieg aus dem Wagen und schlich sich durch das Wäldchen an das Gebäude an. Vorsichtig ging er um das Lagerhaus herum. Die einzige Fensterscheibe war schwarz angemalt.

Pendergast schaltete die Taschenlampe ein und kniete sich hin, wobei er vor Schmerzen kurz zusammenzuckte. Er nahm die Kiesprobe aus der Jackentasche und verglich sie im Licht der Taschenlampe mit dem Kies auf der Zufahrt. Absolut identisch. Er nahm eine kleine Probe der feuchten Erde unter dem Kies und befühlte sie mit Daumen und Zeigefinger. Auch hier: identisch.

Er lief über die offene Fläche, um das Lagerhaus herum und drückte sich gegen die Wellblechwand, dann schlich er in gebückter Haltung zur Vorderseite. Äußerlich war das Gebäude verfallen, außer Betrieb, kein Schild irgendeiner Art war angebracht. Und doch: Bei einem derart schäbigen Gebäude wirkte das Vorhängeschloss an der einzigen Tür verdächtig teuer und neu.

Pendergast nahm das Schloss in eine Hand und strich mit der anderen geradezu liebevoll darüber. Es sprang nicht sofort auf, sondern gab erst nach, nachdem er es mit einem kleinen Schraubenzieher und einem Schlagschlüssel bearbeitet hatte. Er zog die Haspe aus dem Schloss, dann öffnete er mit gezogener Waffe die Tür gerade so weit, dass er ins Lagerhaus hineinschauen konnte. Dunkelheit und Stille. Er zog die Tür noch etwas weiter auf, betrat das Lagerhaus und schloss die Tür hinter sich.

Etwa fünf Minuten lang rührte er sich nicht vom Fleck, sondern leuchtete lediglich mit seiner Taschenlampe herum, inspizierte den Boden, die Wände, die Decke. Das Lagerhaus war fast völlig leer: Betonboden, Metallwände, leere Regale an den Wänden. Es schien ebenso wenige Informationen zu liefern wie das ausgebrannte Taxi.

Langsam ging er in dem Raum umher und blieb dabei hin und wieder stehen, um sich etwas anzusehen, das ihm auffiel. Er nahm da ein Stück von etwas in die Hand, machte dort ein Foto, füllte Beweismittelbeutel mit fast unsichtbaren Proben. Obwohl das Lagerhaus offenkundig leer war, begann sich unter seinen forschenden Blicken eine Geschichte abzuzeichnen, die jedoch kaum mehr als ein gespenstisches Palimpsest war.

Eine Stunde darauf kehrte Pendergast zur geschlossenen Tür des Lagerhauses zurück. Er kniete sich hin, breitete ein Dutzend kleiner verschlossener Plastikhüllen aus, von denen jede ein kleines Beweisstück enthielt: Metallspäne, ein Stück Glas, Öl von einem Fleck auf dem Betonboden, ein Stückchen getrocknete Farbe, ein Splitter Kunststoff. Er ließ den Blick über die einzelnen Stücke schweifen, bis ein geistiges Bild entstand.

Das Lagerhaus war früher einmal als Fahrzeughalle genutzt worden. Nach dem Alter und dem Zustand der Ölflecken auf dem Boden zu urteilen, war es recht intensiv genutzt worden. In jüngerer Zeit waren aber wohl nur zwei Fahrzeuge hier untergebracht gewesen. Bei dem einen – nach den schwachen Reifenabdrücken auf dem Betonboden, einem Goodyear-Reifen Größe 215/75–16 – handelte es sich um den Ford Escape, der als Fluchttaxi gedient hatte. Zudem deuteten kleine gelbe Farbflecken an der einen Wand wie auch die Spuren von Lackspray auf einem Stück Holz, das in eine entfernte Ecke geworfen worden war, darauf hin, dass es sich hier um den Ort handelte, wo der Escape in ein falsches New Yorker Taxi umgewandelt worden war – bis hin zur Umlackierung und der gefälschten Taxinummer.

Das andere Fahrzeug, das in letzter Zeit im Lagerhaus geparkt worden war, war schwieriger zu identifizieren. Der Reifenabdruck war breiter als der Abdruck des Escape und stammte höchstwahrscheinlich von einem Michelin. Gut möglich, dass er zu einer PS-starken deutschen Luxuslimousine gehörte, zum Beispiel einem Audi A8 oder einem BMW 750. An der Innenseite der Lagerhaustür, mit der das Fahrzeug in jüngerer Zeit in Kontakt gekommen war, waren ganz leichte Lackkratzer zu erkennen; Pendergast legte die Lackteilchen mit einer Pinzette in einen weiteren Beweismittelbeutel. Es handelte sich um Metallic-Autolack von einer ungewöhnlichen Farbe: Kastanienbraun.

Und dann, während er den Lack untersuchte, fiel sein Blick auf etwas anderes im schmalen Spalt der Schiebetür. Eine winzige Süßwasserperle.

Ihm wäre beinahe das Herz stehengeblieben.

Als er sich von dem Schreck erholt hatte, hob er die Perle mit der Pinzette auf. Vor seinem inneren Auge sah er, wie das Taxi vor rund vierundzwanzig Stunden hierher zurückkehrte. Vier Personen mussten darin gewesen sein: der Fahrer, zwei Männer in Jogginganzügen und eine unfreiwillige Begleiterin – Helen. Hier wurde sie in die kastanienbraune ausländische Limousine überführt. Als die Männer wegfahren wollten, kam es zu einem Kampf. Helen versuchte zu fliehen und stieß die Tür des Taxis auf – deshalb die Lackspuren –, und als die Entführer sie niederwarfen, rissen sie die Perlenkette entzwei, wodurch die kleinen Perlen auf den Rücksitz und auf den Boden des Lagerhauses fielen. Es musste Flüche, vielleicht so etwas wie eine Bestrafung und ein hastiges Handgemenge gegeben haben, als man die Perlen aufhob, die überall auf dem Betonboden herumlagen.

Pendergast blickte auf die kleine, glänzende Perle zwischen den Greifern der Pinzette. Diese hier hatten sie übersehen.

Nachdem man Helen sicher in dem zweiten Wagen untergebracht hatte, hatten die Fahrzeuge vermutlich getrennte Wege eingeschlagen – das falsche Taxi zu seinem flammenden Ende in New Jersey, das kastanienbraune Fahrzeug nach …?

Noch zehn Minuten lang blieb Pendergast tief in Gedanken versunken auf den Knien hocken. Dann stand er steif auf, verließ das Lagerhaus, sperrte hinter sich ab und ging leise zurück zum wartenden Rolls.

37 Stunden später

Thomas Purview legte großen Wert darauf, um Punkt sieben Uhr in der Kanzlei zu erscheinen, aber heute Morgen war jemand anders noch pünktlicher gewesen: Im Warteraum saß ein Mann. Er sah aus wie jemand, der soeben eingetroffen war. Ja, es schien fast so, als wollte er gerade die Tür zu Purviews Büro öffnen, was aber doch höchst unwahrscheinlich war. Als Purview eintrat, wandte sich der Mann um und humpelte auf ihn zu, in der einen Hand einen Gehstock, die andere ausgestreckt.

»Guten Morgen«, sagte Purview und schüttelte die ausgestreckte Hand.

»Das bleibt abzuwarten«, erwiderte der Fremde mit einem Südstaatenakzent. Er war schlank, fast hager und reagierte nicht auf Purviews Advokatenlächeln. Purview brüstete sich damit, die Schwierigkeiten eines neuen Mandanten an dessen Gesichtszügen ablesen zu können – aus diesem Mandanten wurde er allerdings nicht recht schlau.

»Wollen Sie mich sprechen?«, fragte Purview. »Normalerweise braucht man einen Termin.«

»Ich habe keinen Termin, aber die Angelegenheit ist dringend.«

Purview verkniff sich ein wissendes Lächeln. Er kannte keinen Mandanten, der nicht in einer »dringenden Angelegenheit« kam.

»Bitte kommen Sie mit in mein Büro. Möchten Sie einen Kaffee? Carol ist noch nicht da, aber ich kann das auch erledigen, es dauert nicht lange.«

»Danke, nichts.« Der Mann betrat Purviews Büro und sah sich um, betrachtete die Bücherwände, die Reihen von Aktenschränken.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Normalerweise las Purview zwischen sieben und acht Uhr morgens gern im Wall Street Journal, aber er hatte keine Lust, einen potenziellen Mandanten abzuweisen, vor allem nicht in diesen Zeiten der Flaute.

Der Mann nahm in einem der Sessel Platz, während der Anwalt sich hinter seinen Schreibtisch setzte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin auf der Suche nach Informationen.«

»Was für Informationen?«

Der Mann schien sich an etwas zu erinnern. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Special Agent Aloysius Pendergast, FBI.« Er schob die Hand in die Jacketttasche, holte seinen Ausweis hervor und legte ihn auf den Schreibtisch.

Purview warf lediglich einen kurzen Blick darauf. »Sind Sie in offiziellem Auftrag hier, Agent Pendergast?«

»Ich ermittle in einem Fall, ja.« Der Agent hielt inne und schaute sich noch einmal im Büro um. »Kennen Sie das Grundstück an der Old Country Lane zwei-neun-neun in Ramapo im Bundesstaat New York?«

Purview zögerte. »Die Adresse sagt mir nichts. Aber ich war an zahlreichen Immobilienverkäufen in Nanuet und Umgebung beteiligt.«

»Die Immobilie, um die es sich handelt, besteht aus einem alten Lagerhaus, es steht leer und ist allem Anschein nach verlassen. Die Kommanditgesellschaft, die im Grundbuch eingetragen ist, läuft auf Ihren Namen, und Sie haben die Eigentumsübertragung beurkundet.«

»Verstehe.«

»Ich möchte wissen, wer der tatsächliche Eigentümer ist.«

Purview dachte einen Augenblick darüber nach. »Verstehe«, wiederholte er. »Und haben Sie denn einen Gerichtsbeschluss, der verlangt, dass ich Ihnen die Unterlagen zeige?«

»Den habe ich nicht.«

Purviews Miene zeigte den Anflug anwaltlicher Überlegenheit. »Dann wissen Sie als Bundespolizist sicherlich auch, dass ich meine anwaltliche Schweigepflicht verletze, wenn ich Ihnen diese Auskunft erteile.«

Pendergast beugte sich im Sessel nach vorn. Noch immer waren seine Gesichtszüge beunruhigend ausdruckslos und nicht zu entschlüsseln. »Mr. Purview, Sie können mir einen sehr großen Gefallen erweisen, für den Sie großzügig belohnt werden. Ecce signum.« Wieder griff er in seine Tasche und zog ein kleines Kuvert hervor, das er auf den Schreibtisch legte. Gleichzeitig nahm er seinen Ausweis wieder an sich.

Purview konnte einfach nicht anders; er öffnete den Umschlag und sah, dass sich ein Packen Hundertdollarscheine darin befand.

»Zehntausend Dollar«, sagte der Agent.

Eine Stange Geld – dafür, dass man nur einen Namen und eine Adresse nannte. Purview fragte sich langsam, worum es hier eigentlich ging. Um Drogengeschäfte, organisiertes Verbrechen? Oder vielleicht einen großen Coup? Das Provozieren einer strafbaren Handlung? Was es auch war, es gefiel ihm nicht.

»Ich bezweifle, dass Ihre Vorgesetzten Ihren Bestechungsversuch besonders wohlgesinnt betrachten würden«, sagte er. »Sie können Ihr Geld behalten.«

Pendergast wedelte die Antwort weg wie eine lästige Fliege. »Ich biete Ihnen ein Zuckerbrot an.« Er machte eine deutliche Pause, als verzichtete er ganz bewusst darauf, die andere Seite der Gleichung zu erwähnen.

Purview schrak zusammen. »Es gibt für alles ein rechtsstaatliches Verfahren, Agent, äh, Pendergast. Ich werde Ihnen helfen, sobald ich einen Gerichtsbeschluss sehe, der mich dazu auffordert – aber nicht vorher. Und Ihr Geld nehme ich nicht, so oder so.«

Einen Moment lang gab der FBI-Agent keine Antwort. Dann nahm er ganz leise seufzend – ob vor Bedauern oder Verärgerung, war nicht zu erkennen – das Geld vom Tisch und steckte es zurück in die Innentasche seiner schwarzen Anzugjacke. »Dann tut es mir leid für Sie«, sagte er leise. »Bitte hören Sie mir genau zu. Ich bin jemand, der in großer Zeitnot ist. Ich habe weder die Neigung noch die Geduld, mit Ihnen über Feinheiten des Rechts zu streiten. Sie haben sich als ehrlicher Mensch erwiesen. Gut für Sie. Wollen wir einmal herausfinden, wie … tapfer Sie sind? Gestatten Sie mir, Ihnen eines zu versichern: Sie werden mir die Unterlagen aushändigen. Die einzige Frage lautet: Wie viel Qualen müssen Sie erdulden, bevor Sie es tun?«

In seinem ganzen Erwachsenenleben hatte sich Thomas Purview von niemandem einschüchtern lassen. Und er hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen. Er erhob sich vom Schreibtischstuhl. »Bitte gehen Sie jetzt, Agent Pendergast, oder ich rufe die Polizei.«

Aber Pendergast machte keinerlei Anstalten aufzustehen. »Die Dokumente betreffend das Lagerhaus, um das es geht, sind relativ alt«, sagte er. »Mindestens fünfundzwanzig Jahre alt. Sie sind digital nicht verfügbar – ich habe das überprüft. Sehr viele andere Informationen sind es jedoch. Sie kursieren gewissermaßen im virtuellen Äther, Mr. Purview – man muss nur die Hand danach ausstrecken und sie sich schnappen. Und ich habe eine Quelle, einen sehr talentierten Mann, der in solcherlei Zuschnappen außerordentlich begabt ist. Er hat mich mit einer anderen Adresse versorgt, über die wir, wie ich glaube, sprechen sollten. Neben der Adresse zwei-neun-neun Old Country Lane, meine ich. Es handelt sich um eine besonders interessante Adresse.«

Purview griff zum Hörer und wählte 911.

»Eins-zwei-neun Park Avenue South.«

Die Hand verharrte mitten in der Luft.

»Sehen Sie, Mr. Purview«, fuhr Pendergast fort, »im Internet stehen nicht nur Texte und Zeichen zur Verfügung, sondern auch Bilder. Zum Beispiel Bilder, die Sicherheitskameras aufgenommen haben – wenn man denn weiß, wie man Zugang zu ihnen bekommt.« Pendergast griff in seinen Anzug und zog ein Notizbuch hervor. »In den vergangenen Stunden hat meine, äh, Quelle einen Computerwurm durchs Rückenmark des Internets geschickt, der mit Hilfe von Mustererkennungs-Software nach Bildern von Ihrem Gesicht gesucht hat. Meine Quelle hat diese Bilder – unter anderem – auf den Überwachungskameras dieser Adresse gefunden.«

Purview blieb ganz still.

»Die Bilder zeigen Sie in Begleitung einer gewissen Felicia Lourdes, Apartment Vierzehn-A. Ein hübsches Mädchen, jung genug, um Ihre Tochter sein zu können. Und Sie haben mehrere. Töchter, meine ich. Richtig?«

Purview sagte nichts. Langsam legte er den Hörer wieder auf.

»Die Aufnahmen der Videoüberwachung zeigen Sie beide im Aufzug, in einer leidenschaftlichen Umarmung. Wie rührend. Und es gibt ziemlich viele solcher Aufnahmen. Das muss wahre Liebe sein – stimmt’s?«

Wieder Stille.

»Wie sagte Hart Crane noch einmal über die Liebe? Sie sei ›ein abgebranntes Streichholz, das in einem Pissoir herumschwimmt‹. Warum gehen Menschen so große Risiken ein?« Betrübt schüttelte Pendergast den Kopf. »Eins-zwei-neun Park Avenue South. Eine sehr gute Adresse. Ich frage mich, wieso Miss Lourdes sich dort eine Wohnung leisten kann. Angesichts ihrer Stellung als Anwaltsgehilfin, meine ich.« Er machte eine Pause. »Die Person, für die diese Adresse von besonderem Interesse ist, ist natürlich Ihre Frau.«

Immer noch Schweigen.

»Ich bin verzweifelt, Mr. Purview. Ich werde nicht zögern, in dieser Angelegenheit sofort zu handeln, wenn Sie nicht mitspielen. In dem Fall werde ich sogar gezwungen sein – in der unglückseligen Sprache unserer Zeit – zu ›eskalieren‹.«

Das Wort hing im Raum wie ein schlechter Geruch.

Purview überlegte kurz. »Ich denke, ich verlasse jetzt das Büro und gehe eine Viertelstunde spazieren. Wenn in dieser Zeit jemand hier einbräche und meine Akten durchstöberte – nun ja, ich hätte keinerlei Kenntnis von der besagten Person oder Tat. Zumal wenn die betreffenden Akten scheinbar unangetastet gelassen wurden.«

Pendergast rührte sich nicht, während Purview sein Wall Street Journal zur Hand nahm, hinter dem Schreibtisch hervortrat und zur Tür ging. Kurz davor wandte er sich um: »Nur damit Sie hier keine Unordnung anrichten, versuchen Sie’s mit dem dritten Schrank, zweite Schublade von oben. Eine Viertelstunde, Agent Pendergast.«

»Einen angenehmen Spaziergang, Mr. Purview.«

40 Stunden später

In den vergangenen vierzig Stunden waren ihr die Augen verbunden gewesen, und sie war ununterbrochen unterwegs gewesen. Man hatte sie gefesselt in den Kofferraum eines Pkw, auf die Ladefläche eines Lkw und – so vermutete sie – in den Laderaum eines Schiffs verfrachtet. Wegen der heimlichen Transporte von einem Ort zum anderen hatte sie die örtliche und zeitliche Orientierung verloren. Ihr war kalt, sie hatte Hunger und Durst, und nach dem wüsten Schlag, den man ihr im Taxi versetzt hatte, brummte ihr noch immer der Schädel. Essen hatte sie keines bekommen, und zu trinken hatte es bloß eine Plastikflasche Mineralwasser gegeben, die man ihr irgendwann vor einiger Zeit in die Hand gedrückt hatte.

Jetzt lag sie abermals im Kofferraum eines Personenwagens. Seit mehreren Stunden fuhren die Männer mit hoher Geschwindigkeit anscheinend auf einer Landstraße. Nun aber verlangsamte der Wagen das Tempo, bog mehrmals ab; und weil die Fahrt plötzlich so holprig war, nahm sie an, dass sie sich auf einer unbefestigten Straße oder einem Feldweg befanden.

Als sie von einem provisorischen Gefängnis ins nächste verfrachtet worden war, hatten die Entführer kein Wort gesprochen. Doch jetzt waren die Straßengeräusche leiser, so dass sie das Gemurmel ihrer Stimmen durch das Fahrzeug hören konnte. Die Männer unterhielten sich in einer Mischung aus Portugiesisch und Deutsch, und sie verstand beide Sprachen, weil sie sie beide erlernt hatte, und zwar noch vor dem Englischen und dem Ungarischen, der Muttersprache ihres Vaters. Allerdings sprachen sie so leise, dass sie kaum mehr als den Tonfall hörte, der auf Verärgerung und Eile hindeutete. Inzwischen schienen sie zu viert zu sein.

Nach einer minutenlangen Fahrt durch unwegsames Gelände kam der Wagen langsam zum Stehen. Sie hörte, wie Türen sich öffneten und schlossen, Schuhe auf Kies knirschten. Dann wurde der Kofferraum geöffnet, und sie spürte kühle Luft auf ihrem Gesicht. Eine Hand packte sie am Ellbogen, hob sie in eine sitzende Haltung, dann wurde sie aus dem Kofferraum gezogen. Sie taumelte und knickte in den Knien ein; der Druck der Hand wurde stärker, sie hob sie hoch und hielt sie fest. Dann wurde sie wortlos vorwärtsgestoßen.

Komisch, dass sie nichts empfand, kein Gefühl, nicht einmal Traurigkeit oder Angst. Nach so vielen Jahren des Versteckens, der Angst und der Ungewissheit war ihr Bruder aufgetaucht mit der Nachricht, die sie sich so lange erträumt hatte, die aber nie kommen würde, wie sie schließlich gesagt hatte. Einen kurzen Tag lang hatte die Hoffnung sie beseelt, Aloysius wiederzusehen, ihr gemeinsames Leben wiederaufzunehmen, schließlich wieder wie ein ganz normaler Mensch zu leben. Dann wurde diese Hoffnung zunichtegemacht in einem einzigen Augenblick, ihr Bruder wurde ermordet, ihr Mann angeschossen. Er war möglicherweise ebenfalls tot.

Und jetzt kam sie sich vor wie ein leeres Gefäß. Es wäre besser, sie hätte sich niemals Hoffnungen gemacht.

Sie hörte, wie sich eine Tür knarrend öffnete, und wurde über eine Schwelle und in einen Raum geführt. Die Luft roch muffig und stickig. Ihr Wächter führte sie durch den Raum, anscheinend durch eine zweite Tür und in einen noch muffigeren Raum. Vielleicht ein verlassenes altes Haus auf dem Lande. Die Hand lockerte den Griff um ihren Arm, und sie spürte den Druck einer Stuhlsitzfläche in ihren Kniekehlen. Sie setzte sich und legte ihre verbliebene Hand auf den Schoß.

»Nimm ihr die Augenbinde ab«, sagte eine Stimme auf Deutsch – eine Stimme, die sie sofort wiedererkannte. Sie spürte, wie an ihrem Kopf hantiert und ihr die Augenbinde abgenommen wurde.

Sie blinzelte einmal, zweimal. Es war dunkel in dem Raum, doch ihre lange verbundenen Augen brauchten Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Hinter sich hörte sie, wie sich Schritte entfernten und sich die Tür schloss. Dann, während sie sich die Lippen leckte, blickte sie hoch und sah Wulf Konrad Fischer. Natürlich war er älter geworden, aber er wirkte immer noch so stark und machtvoll, so muskulös wie damals. Die Beine gespreizt und die Hände zwischen ihnen verschränkt, saß er ihr gegenüber auf einem Stuhl. Als er seine Sitzhaltung etwas verlagerte, knarrte der Stuhl unter seinem massigen Körper. Mit seinen durchdringenden, blassen Augen, dem sonnengebräunten Gesicht und dem kurzgeschnittenen, dichten schneeweißen Haar entsprach er dem Bild teutonischer Perfektion. Als er sie ansah, zerrte ein kaltes Lächeln an seinen Mundwinkeln. Ein Lächeln, an das sich Helen nur allzu gut erinnerte. Ihre Apathie und innere Leere wichen einer jähen Furcht.

»Ich hätte nie erwartet, Besuch von den Toten zu bekommen«, sagte Fischer in seinem abgehackten, präzisen Deutsch. »Und doch sind Sie hier. Fräulein Esterhazy – verzeihen Sie, Frau Pendergast –, die vor mehr als zwölf Jahren aus dem Leben schied.« Als er sie ansah, funkelten seine harten Augen vor Belustigung, Zorn und Neugier.

Helen sagte nichts.

»Natürlich, im Rückblick erkenne ich, wie Sie es angestellt haben. Ihre Zwillingsschwester – der Schwächling – war das Bauernopfer. Nach all Ihren Protesten, Ihrer scheinheiligen Empörung verstehe ich, wie viel Sie doch von uns gelernt haben! Ich fühle mich beinahe geehrt.«

Helen schwieg weiter. Die Apathie kehrte zurück. Es wäre besser, tot zu sein, statt mit diesem Schmerz zu leben.

Fischer blickte sie forschend an, als wollte er die Wirkung seiner Worte ergründen. Er holte eine Packung Dunhill hervor, zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich mit einem goldenen Feuerzeug an. »Sie möchten uns wohl nicht verraten, wo Sie die ganze Zeit gesteckt haben, oder? Oder ob Sie bei diesem kleinen Täuschungsmanöver vielleicht irgendwelche anderen Komplizen hatten – außer Ihrem Bruder, meine ich? Oder ob Sie mit irgendjemandem über unsere Organisation gesprochen haben?«

Als sie ihm keine Antwort gab, tat Fischer einen tiefen Zug an seiner Zigarette. Sein Lächeln wurde breiter. »Wie auch immer. Dafür bleibt uns noch viel Zeit, sobald wir Sie nach Hause zurückgebracht haben. Ich bin mir sicher, dass Sie den Ärzten gern alles erzählen werden … das heißt, bevor die Versuchsreihen beginnen.«

Helen erstarrte. Fischer hatte das Wort »Versuchsreihe« verwandt – aber das Wort bedeutete für sie mehr als nur einfach »Experimente«. Beim Gedanken daran, was es bedeutete – bei der Erinnerung daran –, verspürte sie eine jähe Panik. Sie sprang auf und rannte Hals über Kopf zur Tür. Eine gedankenlose, instinktive Handlung, geboren aus dem atavistischen Bedürfnis nach Selbsterhaltung. Aber noch während sie auf die Tür zustürmte, wurde diese geöffnet, und ihre Entführer standen kurz dahinter. Helen lief nicht langsamer, und durch die Wucht des Aufpralls stürzten zwei der Männer rücklings zu Boden, aber die anderen ergriffen sie und hielten sie fest. Alle vier waren erforderlich, um sie zu bändigen und in den Raum zurückzuzerren.

Fischer stand auf, nahm wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarette und betrachtete Helen, die sich stumm und heftig wehrte. Dann sah er auf seine Uhr.

»Es wird Zeit zu gehen«, sagte er. Noch einmal warf er Helen einen Blick zu. »Ich denke, wir sollten jetzt lieber die Spritze vorbereiten.«

44 Stunden später

Nachmittags um halb drei klopfte es. Kurt Weber stellte die Tasse mit gesüßtem Tee, die er getrunken hatte, ab, betupfte sich die Mundwinkel mit einem seidenen Taschentuch, schaltete den Computerbildschirm aus und ging über den gefliesten Fußboden zur Zimmertür. Ein rascher Blick durch den Spion zeigte einen seriös wirkenden Herrn.

»Wer ist da?«

»Ich suche die Freedom Importing Company.«

Weber steckte das Taschentuch in die Brusttasche zurück und öffnete die Tür. »Ja?«

Der Mann stand im Flur: schlank, mit durchdringend silberhellen Augen und derart blondem Haar, dass es fast weiß war.

»Hätten Sie etwas Zeit für mich?«, fragte der Herr.

»Gewiss.« Weber zog die Tür weiter auf und bedeutete dem Mann, Platz zu nehmen. Er trug zwar einen schlichten schwarzen Anzug, aber er war aus einem sehr schönen Stoff und maßgeschneidert. Weber war so etwas wie ein Modeexperte, und als er hinter seinen Schreibtisch trat, zupfte er unbewusst an seinen Manschetten.

»Interessant«, sagte der Mann, während er sich umblickte, »dass Sie Ihre Geschäfte von einem Hotel aus betreiben.«

»Es ist nicht immer ein Hotel gewesen«, antwortete Weber. »Zur Zeit seiner Erbauung neunzehnhundertneunundzwanzig hieß es Rhodes-Haverty-Haus. Als es in ein Hotel umgewandelt wurde, habe ich keinen Grund gesehen umzuziehen. Der Blick auf das historische Viertel von Atlanta ist unübertroffen.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Natürlich war der Besuch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Versehen – Weber »importierte« nur für Privatkunden –, aber es war nicht das erste Mal, dass Leute ihn aufsuchten. Solchen Besuchern war er immer besonders höflich entgegengetreten, um den Eindruck zu erwecken, dass er eine ganz normale, rechtmäßige Firma führte.

Der Mann setzte sich. »Ich habe nur eine Frage. Beantworten Sie die, dann gehe ich sofort wieder.«

Etwas in diesem Tonfall ließ Weber zögern, ehe er antwortete: »Und wie lautet die Frage?«

»Wo ist Helen Pendergast?«

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Weber. Laut sagte er: »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Sie sind der Eigentümer eines Lagerhauses im Staat New York. Aus diesem Lagerhaus heraus wurde die Operation, Helen Pendergast zu entführen, in Gang gesetzt.«

»Was Sie da reden, ergibt keinen Sinn. Und da es scheint, dass Sie kein Geschäft abschließen möchten, muss ich Sie leider bitten zu gehen, Mr. …?« Währenddessen zog Weber ganz beiläufig die mittlere Schublade seines Schreibtischs auf und steckte die Hand hinein.

»Pendergast«, sagte der Fremde. »Aloysius Pendergast.«

Weber zog eine Beretta aus der Schreibtischschublade, doch bevor er damit zielen konnte, schlug ihm der Mann, der offenbar seine Gedanken gelesen hatte, blitzartig die Waffe aus der Hand. Sie schlitterte über den Boden. Während Pendergast ihn mit der eigenen Waffe, die wie aus dem Nichts erschienen war, in Schach hielt, nahm er die Beretta an sich, steckte sie ein und kehrte zu seinem Stuhl zurück.

»Wollen wir’s noch mal versuchen?«, fragte er in sachlichem Tonfall.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, erwiderte Weber.

Der Mann, der sich Pendergast nannte, wog die Waffe in seiner Hand. »Und Sie hängen wirklich an Ihrem Leben?«

Weber war sehr sorgfältig in Verhörtechniken ausgebildet worden – sowohl darin, wie man sie anwendete, als auch, wie man ihnen widerstand. Zudem war er darin geschult worden, wie jemand von überlegener Rasse und Bildung sich vor anderen zu benehmen hatte. »Ich habe keine Angst, für das zu sterben, woran ich glaube.«

»Und damit wären wir zwei.« Der Mann hielt inne und dachte nach. »Und woran genau glauben Sie?«

Weber lächelte nur.

Pendergast sah sich nochmals in dem Büro um, schließlich kehrte sein Blick zu Weber zurück. »Das ist ein recht hübscher Anzug, den Sie da tragen.«

Obwohl der große Revolver auf ihn gerichtet war, blieb Weber vollkommen ruhig, hatte sich völlig im Griff. »Vielen Dank.«

»Ist der zufällig von Hardy Amies, meinem eigenen Schneider?«

»Leider nein. Von Taylor und Merton, nur ein paar Läden von Amies entfernt, weiter unten in der Savile Row.«

»Wie ich sehe, haben wir beide eine Vorliebe für schöne Kleidung. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere gemeinsamen Interessen über Anzüge hinausgehen. Krawatten, zum Beispiel.« Pendergast strich über seine Krawatte. »Während ich früher normalerweise handgemachte Pariser Krawatten favorisiert habe, beispielsweise von Charvet, ziehe ich heute Jay Kos vor. Solche, wie ich jetzt eine trage. Mit zweihundert Dollar nicht gerade billig, aber meiner Meinung nach jeden Penny wert.« Er lächelte Weber an. »Und wer fertigt Ihre Krawatten?«

Wenn das irgendeine neue Verhörtechnik ist, dachte Weber, dann wird sie nicht funktionieren. »Brioni«, antwortete er.

»Brioni«, wiederholte Pendergast. »Die ist prima. Gut verarbeitet.«

Auf einmal – wieder mit einer Schnelligkeit, die eher einer Explosion als einer Bewegung glich – erhob sich Pendergast vom Stuhl, sprang über den Schreibtisch und packte Weber am Hals. Mit schockierender Kraft zog er ihn nach hinten, schob den Rahmen des nächstgelegenen Fensters hoch und hievte den sich wehrenden Weber hinein. Vor Schreck packte Weber die Fensterrahmen zu beiden Seiten. Er hörte den Verkehr auf der Peachtree Street zwanzig Stockwerke unter ihm, spürte den Aufwind.

»Ich liebe die Fenster in diesen alten Wolkenkratzern«, sagte Pendergast. »Sie lassen sich öffnen. Und was den Ausblick angeht, hatten Sie recht.«

Weber klammerte sich verzweifelt an die Fensterrahmen und keuchte vor lauter Angst.

Pendergast langte mit dem Knauf seiner Waffe um Weber herum und hieb ihm damit auf die linke Hand, wodurch er ihm mehrere Knochen brach, dann zertrümmerte er die rechte. Mit einem Aufschrei spürte Weber, wie er rücklings in die leere Luft geschoben wurde, vergeblich schlug er mit den Armen um sich, die Beine noch immer an die Fensterbank gehakt. Pendergast verhinderte seinen Sturz, indem er ihn an der Krawatte packte und ihn auf Armeslänge aus dem Fenster hielt.

Fieberhaft presste Weber die Waden gegen den Fenstersims, er keuchte und kämpfte, um nicht den Halt zu verlieren.

»Ein Mann sollte seine Garderobe genau kennen – und deren Grenzen«, redete Pendergast weiter, immer noch in lockerem Plauderton. »Meine Jay-Kos-Krawatten zum Beispiel sind aus siebenfach gefalteter italienischer Seide. Ebenso reißfest wie schön.«

Mit einem Ruck zog er an Webers Krawatte. Weber riss den Mund auf. Langsam rutschte er vom Fenstersims ab. Er bemühte sich, wieder Halt mit den Füßen finden. Er wollte etwas sagen, aber die Krawatte würgte ihn.

»Andere Hersteller nehmen manchmal den kürzesten Weg«, sagte Pendergast. »Sie wissen schon, einfache Steppung, lediglich doppelte Faltung.« Wieder zog er an der Krawatte. »Ich möchte mich daher vergewissern, was die Qualität Ihrer Krawatte angeht, bevor ich Ihnen meine Frage noch einmal stelle.«

Ein Ruck am Stoff.

Mit einem ratschenden Geräusch begann Webers Krawatte zu reißen. Er starrte darauf und schrie unwillkürlich auf.

»Oje«, sagte Pendergast enttäuscht. »Brioni? Das bezweifle ich. Vielleicht hat man Ihnen eine Fälschung angedreht. Oder Sie haben gespart und mich angelogen, was Ihren Herrenausstatter betrifft.«

Ein weiterer Ruck.

Inzwischen war die Krawatte an ihrem breiten Ende zur Hälfte entzweigerissen. Aus dem Augenwinkel sah Weber, wie sich unten auf der Straße eine Menschenmenge bildete, die Leute zeigten zu ihm herauf. Ferne Rufe. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Panik überwältigte ihn.

Ruckartiges Ziehen. Stoff, der riss.

»Also gut!«, schrie Weber und tastete mit seinen gebrochenen und verbogenen Fingern nach Pendergasts Hand. »Ich rede!«

»Machen Sie schnell. Dieser billige Schlips hält nicht mehr lange.«

»Sie … sie verlässt heute Abend das Land.«

»Wohin? Auf welchem Weg?«

»Privatflugzeug. Fort Lauderdale. Pettermar Airport. Einundzwanzig Uhr.«

Mit einem letzten gewaltsamen Ruck zog Pendergast Weber ins Büro zurück.

»Scheiße!«, rief Weber auf Deutsch, während er, in Fötusstellung auf dem Boden liegend, seine ruinierten Hände gegen den Bauch drückte. »Und wenn mein Schlips komplett gerissen wäre?«

Das Lächeln des Mannes wurde einfach nur breiter. Und plötzlich begriff Weber: Das war jemand, der sich so weit an der Grenze zum Wahnsinn befand, wie man sein konnte, wenn man gerade noch so als zurechnungsfähig gelten wollte.

Pendergast trat einen Schritt zurück. »Wenn Sie mir die Wahrheit gesagt haben und ich meine Frau ohne Zwischenfälle zurückbekomme, müssen Sie nicht befürchten, mich noch einmal zu sehen. Aber sollten Sie mich getäuscht haben, statte ich Ihnen noch einen Besuch ab.«

Als er sich gerade zur Tür umdrehen wollte, hielt Pendergast kurz inne. Er lockerte seine Krawatte, knotete sie auf und warf sie Weber hin. »Hier, das ist das einzig Wahre. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen über ›den kürzesten Weg nehmen‹ gesagt habe.« Und mit einem letzten kalten Lächeln schlich er sich aus dem Büro.

45 Stunden später

Pettermar Airport. Pendergast hatte knapp sechs Stunden Zeit, um tausend Kilometer zurückzulegen.

Ein kurzer Internetcheck der Flughäfen in der Nähe zeigte, dass so kurzfristig weder Linien- noch Charterflüge zu bekommen waren. Er würde die Reise mit dem Auto antreten müssen.

Er war nach Atlanta geflogen und hatte vom Flughafen ein Taxi in die Stadt genommen. Er würde einen Wagen mieten müssen. Nachdem er ein paar Häuserblocks von der Peachtree entfernt eine exklusive Autovermietung entdeckt hatte, entschied er sich für einen nagelneuen, sturmroten Mercedes-Benz SLS AMG. Zu einem schwindelerregenden Preis schloss er einen Vertrag mit Vollkaskoversicherung für eine Hinfahrt nach Miami.

Obwohl die Rushhour noch nicht eingesetzt hatte, verstopfte der berüchtigte Verkehr von Atlanta schon jetzt die Autobahnkreuze. Nachdem er sich auf die Interstate 75 in Richtung Süden eingefädelt hatte, gab Pendergast Vollgas und fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch einen Baustellenbereich, wobei er sich auf der rechten Standspur hielt. Wie erhofft, erregte das ohrenbetäubende Brüllen des 563 PS starken Motors große Aufmerksamkeit und verschaffte ihm freie Bahn. Mit fast hundertfünfzig Stundenkilometern raste er über die Standspur, bis er eine Radarfalle passierte.

Ausgezeichnet.

Mit heulender Sirene und blinkendem Lichtbalken kam ein Streifenwagen, Bundesstaat Georgia, hinter einer Böschung hervorgeschossen. Pendergast fuhr so schnell rechts ran, dass der Streifenwagen ihm fast hinten reingefahren wäre. Noch bevor der Polizist das amtliche Kennzeichen durchgeben konnte, stieg Pendergast aus, hielt seinen Ausweis in die Höhe, ging mit langen Schritten auf den Streifenwagen zu und bedeutete dem Polizisten, das Fenster herunterzulassen.

Am Streifenwagen angekommen, hielt er seinen Ausweis ins Wageninnere.

»Federal Bureau of Investigation, Büro New York. Dringender Einsatz von höchster Priorität.«

Der Streifenpolizist blickte von Pendergast auf den Ausweis, auf den Mercedes und wieder zurück. »Hm, ja, Sir.«

»Ich musste mir den Wagen besorgen. Hören Sie mir genau zu. Ich bin unterwegs zum Pettermars Airport – er liegt außerhalb von Fort Lauderdale – und werde auf den Interstates fünfundsiebzig, zehn und sechsundneunzig fahren.«

Der Polizist starrte ihn an und hatte Mühe, das alles zu verdauen.

»Ich möchte, dass Sie das per Funk durchgeben und meine schnelle und unbehinderte Fahrt auf dieser Route genehmigen. Keine Straßensperren. Auch keine Begleitfahrzeuge – ich werde zu schnell fahren. Mein Fahrzeug ist leicht zu erkennen, das dürfte also kein Problem sein. Haben Sie das verstanden?«

»Ja, Sir. Aber unsere Zuständigkeit endet, sobald Sie Georgia verlassen.«

»Ihr Chef soll seinen Amtskollegen in Florida anrufen.«

»Aber vielleicht müsste das New Yorker Büro des FBI –«

»Wie gesagt, es handelt sich um einen Notfall. Ich habe keine Zeit. Legen Sie einfach los.«

»Ja, Sir.«

Pendergast spurtete zurück zum Wagen, beschleunigte den Mercedes auf den ersten hundert Metern mit durchdrehenden Reifen, um wieder Geschwindigkeit aufzunehmen, und ließ den Autobahnpolizisten in einer blauen Wolke stehen.

Um vier Uhr hatte Pendergast Macon passiert und raste Richtung Süden. Autos, Straßenschilder, Landschaften huschten wie Farbflecken vorbei. Plötzlich, als er um eine Kurve kam, erblickte er vor sich eine Reihe roter Bremsleuchten: Zwei Schwerlaster fuhren Seite an Seite, krochen im Schneckentempo einen Hügel hinauf, wobei der Lkw auf der linken Fahrspur versuchte, den auf der rechten zu überholen, indem er sich die Anhöhe hochquälte, so dass alle hinter ihm langsamer fahren mussten – ein verachtenswertes Verhalten auf einem zweispurigen Highway.

Noch einmal steuerte Pendergast auf die Standspur und dann wieder herunter, wobei er seine Lichthupe einsetzte, und überholte die Reihe der Fahrzeuge so lange, bis er direkt hinter dem linken Lastwagen fuhr. Dieser ignorierte sein Hupen und die Lichthupe ganz bewusst – wenn überhaupt, schien er aus Trotz etwas langsamer zu fahren.

Die Autobahn machte eine Kurve nach rechts, und der Lastwagen auf der rechten Spur scherte – wie es oft geschieht – auf die Standspur aus. Die Gelegenheit nutzte Pendergast, um zurück auf die linke Fahrspur zu wechseln. Wie vorauszusehen war, steuerte der Lkw-Fahrer vor ihm ebenfalls nach links, um Pendergast nicht vorbeizulassen. Das war seine Chance. Er nahm etwas Gas weg, und dann stieß er – indem er von Automatik auf Handschaltung wechselte – abrupt mitten in die Lücke zwischen den beiden Lastern, während er mit Hilfe der Schaltwippen in drei Sekunden von achtzig auf hundertfünfzig Stundenkilometer beschleunigte, an den Lastern vorbeiraste und auf den leeren Highway davor schoss. Der Lohn waren zwei wütende Stöße aus Presslufthupen.

Er fuhr weiter, ohne anzuhalten. Hin und wieder wechselte er auf die linke oder rechte Standspur, um Fahrzeuge zu überholen, hupte und setzte die Lichthupe gegen die eher widerspenstigen Fahrer ein und erschreckte sie manchmal, indem er mit hoher Geschwindigkeit auffuhr und erst im letzten Augenblick bremste. Um 17 Uhr 30 war er an Valdosta vorbei und überquerte die Grenze nach Florida.

Weil er wusste, dass die direkteste Route problematisch war – sie führte durch Orlando und das städtische Gewirr aus verstopften, von Touristen befahrenen Autobahnkreuzen –, bog er auf die Interstate 10 in Richtung Osten und steuerte auf die Atlantikküste zu. Es war zwar eine weniger als zufriedenstellende Ausweichroute, bot aber immerhin die größte Aussicht auf Erfolg. In Jacksonville bog er wieder nach Süden ab und nahm die Interstate 96.

Außerhalb von Daytona Beach tankte er, warf dem überraschten Tankwart einen Hundertdollarschein hin und fuhr mit quietschenden Reifen davon, ohne auf das Wechselgeld zu warten.

Im Laufe des Abends ließ der Verkehr auf dem Highway langsam nach, und die Schwerlaster fuhren schneller. Pendergast fuhr Slalom zwischen ihnen – mit heruntergelassenem Verdeck, denn der Nachtwind half ihm, wach zu bleiben – und gab noch mehr Gas. Titusville, Palm Bay und Jupiter schossen als bloße Lichtflecken vorbei. Als er in Boca Raton ankam, schaltete er das Navigationsgerät ein und tippte sein Ziel ein.

Er hatte die Strecke mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von einhundertfünfundneunzig Stundenkilometern zurückgelegt.

Der Executive General Airport von Pettermar lag fünfzehn Kilometer westlich von Coral Springs, an den östlichen Hängen der Everglades. Während er sich dem Flughafen durch die weitläufigen Vororte von Fort Lauderdale näherte, konnte Pendergast einen kleinen Tower erkennen, eine Reihe von Windsäcken, das Blinken von Pistenfeuern.

20 Uhr 55. Hinter einem struppigen Rutenhirsefeld kam die Start- und Landebahn des Flugplatzes in Sicht. Vor dem Hangar, der am nächsten war, lief sich eine einmotorige, sechssitzige Propellermaschine warm.

Mit quietschenden Bremsen brachte Pendergast den Mercedes vor dem Abfertigungsgebäude zum Stehen, sprang aus dem Wagen und lief, so schnell sein Humpeln das erlaubte, in das niedrige, gelbgestrichene Gebäude.

»Wohin fliegt die Maschine?«, fragte er den Flughafenadministrator hinter dem Tresen und zückte seinen Ausweis. »Das ist ein Notfall, FBI.«

Der Mann zögerte nur einen Moment. »Auf dem eingereichten Flugplan steht Cancun.«

Cancun. Wahrscheinlich nicht das wahre Ziel. Allerdings deutete es darauf hin, dass die Maschine Richtung Süden flog, über die Grenze.

»Gehen heute Abend noch andere Flüge ab?«

»Ein Learjet kommt in anderthalb Stunden aus Biloxi rein. Kann ich Ihnen irgendwie helfen –«

Aber der Administrator redete mit einem leeren Raum. Pendergast war verschwunden.

Nachdem er das Abfertigungsgebäude verlassen hatte, lief er zum Mercedes zurück und setzte sich hinein. Das Flugzeug machte sich startklar, der Motor brummte. Den Hangar und das Rollfeld umgab ein Sicherheitszaun; das Maschendrahttor war geschlossen. Pendergast blieb keine Zeit mehr: Er steuerte den Wagen auf das Tor zu und trat das Gaspedal durch. Mit einem Brüllen schoss das Fahrzeug nach vorn und durchbrach das Tor, so dass es auf den Asphalt stürzte.

Das Flugzeug begann gerade, die Startbahn hinunterzurollen und langsam Geschwindigkeit aufzunehmen. Pendergast gelangte auf gleiche Höhe und blickte in die Kanzel. Der Pilot war auffallend: großgewachsen und sehr muskulös, stark sonnengebräunt, mit schlohweißen Haaren. Der Copilot blickte aus dem Fenster auf den Mercedes: Es war einer der Jogger, die Helen im Central Park entführt hatten. Als er Pendergast erkannte, zog der Mann schnell eine Waffe und schoss aus dem offenen Fenster.

Pendergast scherte aus, weg von dem Schuss, dann lenkte er den Mercedes nahe an die Tragfläche, wodurch er sich im toten Winkel des Schützen befand. Während er das Tempo des Wagens dem des Flugzeugs anpasste, überlegte er kurz, ob er sich vor das Flugzeug setzen sollte, um ihm den Weg abzuschneiden – aber das könnte leicht dazu führen, dass die Maschine die Kontrolle verlor. Helen war an Bord. Stattdessen lenkte er den Wagen vorsichtig noch näher an die Tragfläche heran. Er zog die Tür auf, wartete, straffte sich – und dann hechtete er aus dem fahrenden Wagen auf das rechte Fahrwerk. Er verfehlte sein Ziel um Zentimeter und glitt an den Streben ab, so dass seine Füße kurz über den Asphalt schleiften. Mit einem mächtigen Klimmzug zog er sich vom summenden Asphalt in eine sichere Position, wobei er wegen der Schmerzen im verletzten Bein zusammenzuckte.

Das Flugzeug beschleunigte immer mehr, rollte mit über fünfzig Stundenkilometern, und der Wind pfiff Pendergast durchs Haar und durch die Kleidung. Er zog sich am Fahrwerk hoch, bis er sich direkt unter der Tragfläche befand, beugte sich vor und zog seine Waffe aus dem Holster. Die Gestalt des Joggers auf dem Copilotensitz war gerade eben zu erkennen; jeder Blick auf die anderen Passagiere wurde von der Tragfläche versperrt.

Inzwischen geriet das Ende der Startbahn in Sicht, dahinter war weit und breit nichts als Rutenhirse und Sumpf; der Pilot hatte offenbar Mühe, das zusätzliche Gewicht und den zusätzlichen Luftwiderstand auszugleichen. Der Jogger steckte den Kopf aus dem Fenster, spähte ins Dunkel und suchte nach Pendergast. Gerade als das Flugzeug abhob, zielte Pendergast sorgfältig und schoss dem Mann – indem er sich beinahe waagerecht vom Fahrwerk weg ausstreckte – mitten ins Gesicht.

Der Mann schrie auf, sein Kopf ruckte nach hinten. Sein Körper zuckte heftig und unkontrollierbar; die Tür ging auf, und die Leiche fiel nach draußen und klatschte wie eine Scheibe Rindfleisch auf den Asphalt, gerade als das Flugzeug abhob. Dann war die Maschine in der Luft und flog dicht über das darunter befindliche Marschgebiet. Gleich würden die Räder eingefahren werden.

Pendergast überlegte schnell. Er befand sich bereits zehn Meter über dem Boden. Er steckte seine Waffe ins Holster zurück, balancierte auf der waagerechten Fahrgestellstrebe neben dem Reifen, zog einen Füllfederhalter aus der Tasche und stach in den kleinen Tankstutzen an der Unterseite der Motorhaube. Dann – gerade als das Summen der Radhydraulik einsetzte – wagte er den Sprung vom Fahrwerk. Er achtete auf den richtigen Eintrittswinkel, landete mit einem Riesenplatscher in der Marsch und tauchte ins Wasser und den darunterliegenden Morast ein.

53 Stunden später

Pendergast saß auf einem stählernen Pfosten am Ende der Startbahn 29-R des Flugplatzes Pettermar. Die Nacht war dunkel, der Himmel sternenlos, Licht spendeten lediglich die parallelen Reihen der Pistenfeuer, die sich bis zum Horizont erstreckten. Durch den Sturz vom Flugzeug hatte sich seine Schusswunde wieder geöffnet. Es war ihm gelungen, die Blutung zu stillen, und er hatte sein Bestes gegeben, den stinkenden Schlamm abzuspülen. Sie würde eine sorgfältigere ärztliche Versorgung und antibiotische Behandlung erfordern, aber im Moment hatte er Wichtigeres zu tun.

Über seiner Schulter, zwei-, dreihundert Meter in der Luft, kam langsam ein weiteres Licht in Sicht: eine Maschine im Anflug. Es löste sich zu einem Paar Flug- und Warnlichtern auf. Eine Minute später fegte keine zehn Meter über seinem Kopf ein Learjet 60 hinweg, die Schubumkehrung heulte auf, während er zur Landung ansetzte, die Wirbelschleppe des vorbeifliegenden Jets wirbelte eine große Staubwolke auf.

Pendergast nahm keine Notiz davon.

Er hatte die Leiche des Joggers durchsucht, die im hohen Gras am Ende der Landebahn lag. Dass er das Tor umgefahren hatte, hatte auf dem Flugplatz hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Die Polizei war gekommen, hatte das Gelände abgesucht, den Mercedes konfisziert und war gegangen.

Inzwischen ging alles wieder den gewohnten Gang, alles war ruhig. Pendergast erhob sich und umkreiste, während er sich im Dunkel des Grases hielt, den Flugplatz, bis er auf der Tankstelle an der Zufahrtsstraße zu einem uralten Münzfernsprecher kam, der wie durch ein Wunder funktionierte. Er rief D’Agosta an.

»Wo stecken Sie?«, ließ sich die Stimme aus New York vernehmen.

»Nicht wichtig. Geben Sie eine Fahndung nach einer einmotorigen Cessna 133 heraus, ich buchstabiere: November-acht-sieben-neun-Foxtrot-Charlie. Sie befand sich laut Plan auf dem Flug nach Mexiko, Cancun, aber sie müsste wegen eines Lecks in der Benzinleitung in«, er überlegte kurz, »einem Umkreis von dreihundert Kilometern von Fort Lauderdale landen.«

»Wieso wissen Sie, dass die Benzinleitung ein Leck hat?«

»Weil ich es produziert habe. Ich habe eine hohle Kunststoffröhre in die Benzinpumpe gestoßen. Man kann aus dem Cockpit heraus nichts unternehmen, um es zu beheben.«

»Sie müssen mir sagen, was da los ist …«

»Rufen Sie mich unter dieser Nummer zurück, sobald Sie einen Treffer haben.«

»Warten Sie, Pendergast, Jesses …«

Pendergast legte auf. Er trat aus dem erhellten Areal der Telefonzelle und zog sich ins Dunkel einer mit kleinen Palmen zugewucherten Brachfläche zurück. Dort legte er sich auf den Boden – der Blutverlust hatte ihn geschwächt – und wartete.

Eine halbe Stunde später hörte er das Telefon klingeln. Er stand auf und schleppte sich mit schwindligem Kopf zur Telefonzelle. »Ja?«

»Wir haben einen Fahndungstreffer. Die Maschine ist vor ungefähr zehn Minuten auf einem winzigen Flugplatz außerhalb von Andalusia, Alabama, gelandet. Hat sich dabei auch das Fahrwerk aufgerissen.«

»Reden Sie weiter.«

»Die müssen jemanden im Voraus benachrichtigt haben, ein Lieferwagen hat nämlich schon gewartet. Es befand sich nur eine einzige Person auf dem Flugplatz, ein Typ, der im Hangar Kaffee trank. Er hat gesehen, wie eine Gruppe von Leuten in den Lieferwagen eingestiegen ist, dann sind sie abgehauen, in Richtung«, eine Pause, »National Forest Connecuh. Haben die Maschine aufgegeben, mitten auf der Landebahn stehengelassen.«

»Hat der Mann das Nummernschild des Lieferwagens gesehen?«

»Nein. Es war dunkel.«

»Alarmieren Sie die Autobahnpolizei von Alabama. Und geben Sie eine Fahndung an alle Grenzübergänge durch – die wollen nach Mexiko. Ich rufe Sie später noch einmal an. Mein Handy ist nicht betriebsbereit.«

Eine widerstrebende Pause. »Wie Sie wollen.«

»Ich danke Ihnen.« Pendergast legte auf.

Noch ungefähr zehn Minuten lang blieb er in der schwülen Dunkelheit sitzen, dann wählte er eine andere Nummer.

»Jaa?«, ließ sich die hohe, hauchige Stimme von Mime vernehmen, des zurückgezogen lebenden Hackers mit fragwürdiger Moral, der ausschließlich über Pendergast Kontakt zur Außenwelt hielt.

»Irgendwas?«

»Weiß nicht. Ist nicht viel. Ich hatte gehofft, mehr zu finden, und wollte erst dann anrufen …« Seine hohe Stimme hielt dramatisch, neckisch inne.

»Ich habe keine Zeit für Spielchen, Mime.«

»Na schön«, sagte Mime hastig. »Ich hab die Lauschangriffe unserer Freunde in Fort Meade abgehört – die Überwacher überwacht, sozusagen.« Er kicherte. »Und die fangen tatsächlich inländische Gespräche und E-Mails ab, echt, obwohl sie immer das Gegenteil behaupten. Ich hab ein Handygespräch isoliert, von dem ich glaube, dass es von der von Ihnen sogenannten Gruppe Der Bund stammt.«

»Sind Sie sicher?«

»Unmöglich, hundertprozentig sicher zu sein, Geheimdienstmann. Die Übertragungen sind verschlüsselt, aber ich konnte feststellen, dass sie auf Deutsch sind. Hab da und dort ein paar Eigennamen geknackt. Laut der Ortung des Handysignals durch die Regierungsstelle bewegt es sich schnell über das zentrale und nordwestliche Florida.«

»Wie schnell?«

»Flugzeugschnell.«

»Wann?«

»Vor siebzig Minuten.«

»Das muss die Maschine sein, die gerade in Alabama gelandet ist. Was sonst noch?«

»Nichts außer einem kurzen verschlüsselten Wortwechsel auf Spanisch. Darin wird ein Stadt erwähnt: Cananea.«

»Cananea«, flüsterte Pendergast. »Wo liegt das?«

»In Sonora, Mexiko … am Arsch der Welt, fünfzig Kilometer hinter der Grenze.«

»Skizzieren Sie mir ein Bild der Stadt.«

»Meine Recherchen deuten darauf hin, dass die Einwohnerzahl dreißigtausend beträgt. Früher war die Stadt ein großes Bergbauzentrum – Kupfer –, außerdem der Schauplatz eines blutigen Streiks, der zum Ausbruch der mexikanischen Revolution beigetragen hat. Heute gibt’s dort ein paar kleine Fabriken im Norden, aber das war’s auch schon.«

»Geographische Situation?«

»Es gibt einen Fluss, der in Cananea entspringt und nach Norden fließt, über die Grenze nach Arizona. Er heißt San Pedro. Einer der wenigen nach Norden fließenden Flüsse auf dem Kontinent. Eine bedeutende Route für den Drogenhandel und die Einschleusung von Illegalen. Außer dass die umgebende Wüste brutal ist. In ihr kommen viele von diesen Möchtegern-Immigranten um. Die Grenze dort ist wohl irrsinnig weit vom Schuss, nur ein Stacheldrahtzaun – der allerdings Sensoren aufweist, außerdem gibt’s da haufenweise Patrouillen. Plus ein verankertes Überwachungsluftschiff, von dem aus man im Dunkeln eine Zigarette auf dem Boden sehen kann.«

Pendergast legte auf. Es ergab Sinn. Ohne ihr Flugzeug und weil sie die Fahndungsausschreibung an der Grenze voraussahen, mussten Helens Entführer einen Weg finden, wie sie die Grenze nach Mexiko unbemerkt überqueren konnten. Der Rio-San-Pedro-Korridor südlich von Cananea war dafür geeignet.

Dort hätte er die letzte Gelegenheit, sie abzufangen.

Er trat aus der Telefonzelle – taumelnd und noch immer schwindlig – und musste sich sofort in den Sand setzen. Er war schwach, er war erschöpft, er verlor Blut, und er hatte seit über zwei Tagen weder geschlafen noch etwas zu sich genommen. Aber die plötzliche Schwäche ging über das Körperliche hinaus. Sein Geist, sein ganzes Wesen war verletzt.

Er zwang sich, seinen zerrütteten seelischen Zustand zu untersuchen. Was er jetzt für Helen empfand – ob er sie noch liebte oder nicht –, wusste er nicht. Zwölf Jahre lang hatte er sie für tot gehalten. Er hatte sich damit versöhnt. Und jetzt war sie am Leben. Nur eines wusste er bestimmt: Hätte er nicht darauf bestanden, sie wiederzusehen, dann hätte er ihre Verabredung nicht dermaßen vermasselt, dann wäre Helen noch immer in Sicherheit. Er musste diese Scharte auswetzen. Er musste Helen befreien, sie den Fängen des Bundes entreißen – nicht nur, um ihr Leben zu retten, sondern auch seines. Sonst …

Über dieses »sonst« nachzudenken ließ er nicht zu. Stattdessen erhob er sich, indem er die letzten Kräfte mobilisierte. Er musste nach Cananea kommen, auf dem einen oder anderen Weg.

Er humpelte zum Parkplatz des Flugplatzes, der von Straßenlaternen erhellt wurde. Dort parkte ein einzelner Wagen, ein alter brauner Cadillac Eldorado, der ohne Zweifel dem Flugplatzangestellten gehörte.

Wie es schien, würde der Mann ihm noch einen Gefallen erweisen müssen.

82 Stunden später

Pendergast lenkte den qualmenden, verbeulten Eldorado an eine Tankstelle kurz vor der Kleinstadt Palominas, Arizona. Er hatte die dreitausendfünfhundert Kilometer ohne Pause zurückgelegt und lediglich zum Tanken angehalten.

Er stieg aus und lehnte sich an die Tür. Es war zwei Uhr nachts, der unendliche Wüstenhimmel war mit Sternen übersät. Kein Mond war zu sehen.

Kurz darauf betrat er den Einkaufsladen neben der Tankstelle. Hier kaufte er eine Straßenkarte des mexikanischen Staates Sonora, ein halbes Dutzend Wasserflaschen, einige Pakete Trockenfleisch, Kekse, ein paar Dosen Rindfleisch, ein paar Abtrockentücher, Verbände, entzündungshemmende Salbe, ein Medizinfläschchen Ibuprofen, Koffeintabletten, Klebeband und eine Taschenlampe. Das Ganze wanderte in eine verstärkte Plastikeinkaufstüte, die er mit zum Wagen nahm. Als er wieder auf dem Fahrersitz saß, las er die Straßenkarte, die er gekauft hatte, und prägte sich die Strecke ein.

Er bog vom Gelände der Tankstelle und fuhr in hohem Tempo auf der Route 92, bis er auf einer kleinen Brücke den San Pedro River überquerte. Hinter der Brücke bog er rechts ab auf einen unbefestigten landwirtschaftlichen Weg in Richtung Süden. Er fuhr langsam, der Wagen holperte und polterte auf der ausgefahrenen Straße, während er durch die struppigen Mesquite- und Akaziendickichte steuerte und das Scheinwerferlicht in die gebogenen Äste stach. Der unsichtbare Fluss lag links, schwarz umrissen, hinter einer dichten Reihe von Pappeln. Ungefähr achthundert Meter von der Grenze entfernt lenkte Pendergast den Wagen vom landwirtschaftlichen Weg in ein Mesquitedickicht, wobei er so weit wie möglich hineinfuhr. Er schaltete den Motor aus, stieg mit dem Einkaufsbeutel in der Hand aus und horchte in die Dunkelheit. In der Ferne heulten ein paar Kojoten, aber ansonsten waren keinerlei Anzeichen von Leben zu erkennen.

Ein trügerisches Bild. Dieser Abschnitt der amerikanisch-mexikanischen Grenze war durch einen fünffach gestaffelten Stacheldrahtzaun gesichert, starrte vor hochentwickelten Sensoren, Infrarot-Überwachungskameras und nach unten gerichtetem Radar, hinzu kamen noch die Schnellen Eingreiftruppen des Grenzschutzes, die nur Minuten entfernt stationiert waren.

Aber Pendergast machte sich keine Sorgen. Er hatte einen Vorteil, den nur wenige andere Schmuggler oder kriminelle Grenzgänger besaßen: Er ging Richtung Süden, nach Mexiko.

Er schlug den Einkaufsbeutel in seine Anzugjacke ein, fertigte einen primitiven Rucksack daraus, schlang ihn sich über die Schulter und marschierte los.

Die Bewegung führte dazu, dass das verletzte Bein wieder zu bluten begann. Er blieb stehen, setzte sich und löste den Verband im Schein der Taschenlampe, trug Salbe auf, dann verband er die Wunde erneut mit sauberem Verbandsmaterial und Abtrockentüchern. Schließlich schluckte er vier Ibuprofen und ebenso viele Koffeintabletten.

Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder auf den Beinen war. So ging es nicht, denn er hatte einen langen Weg vor sich. Er aß etwas Trockenfleisch und trank einen Schluck Wasser.

Wenn er sich neben dem landwirtschaftlichen Weg, abseits vom Fluss hielt, dann könnte er, so seine Hoffnung, den diversen elektronischen Fallen und Sensoren entgehen. Das riesige angeleinte Luftschiff, das unsichtbar im Nachthimmel schwebte, hatte seine Anwesenheit möglicherweise bemerkt, doch weil er Richtung Süden ging, hoffte er, dass kein Alarm ausgelöst werden würde – zumindest noch nicht.

Die Nachtluft war kühl, auch wenn es Sommer war. Die Kojoten hatten aufgehört zu heulen; alles war still. Pendergast marschierte weiter.

Die Straße machte eine 90-Grad-Biegung und führte parallel an einem Stacheldrahtzaun weiter – die eigentliche Grenze. Pendergast überquerte die Straße, überzeugt, dass er inzwischen verschiedene Sensoren ausgelöst hatte, und gelangte zur Grenze. Binnen Sekunden hatte er die Zäune durchtrennt und sich auf die mexikanische Seite hinübergezwängt. Er humpelte in die Dunkelheit davon und überquerte dabei eine leere Fläche kieseliger Wüste, auf der Akazien wuchsen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, als er auf der amerikanischen Seite Suchscheinwerfer sah. Er ging weiter und näherte sich schräg den Pappeln am Fluss, wobei er sich möglichst schnell bewegte. Mehrere Suchscheinwerfer gingen an, und die Lichtkegel stachen durch die Wüstennacht und suchten die Landschaft ab, bis sie auf ihm ruhten und ihn in gleißendes Weiß tauchten.

Er ging weiter. Eine Megafonstimme hallte über das Feld, sie sprach erst Englisch und dann Spanisch, befahl ihm, stehen zu bleiben, sich umzudrehen, die Hände zu heben und sich zu erkennen zu geben.

Pendergast ignorierte sie und marschierte weiter. Die Grenzer konnten nichts machen. Sie konnten ihn nicht verfolgen, und es wäre sinnlos, ihre Pendants auf der mexikanischen Seite zu Hilfe zu rufen. Niemand interessierte sich für den illegalen Grenzverkehr in Richtung Süden.

Er hielt schräg auf die Reihe Pappeln am Fluss zu. Eine Zeitlang folgten ihm die Suchscheinwerfer, hinzu kamen weitere vereinzelte Befehle aus Megafonen, bis er schließlich den Wald betrat. An diesem Punkt gaben sie auf.

Versteckt unter dem schützenden Blätterdach, setzte er sich an das Ufer des flachen Flussbetts des San Pedro. Er versuchte zu essen, aber die Speisen schmeckten wie Pappe; er zwang sich, zu kauen und zu schlucken. Er trank noch etwas mehr Wasser und widerstand dem Impuls, seinen erneut blutdurchtränkten Verband abzunehmen.

Er nahm an, dass Helen und ihre Entführer die Grenze ungefähr zur selben Zeit oder kurz vor ihm überschreiten würden. Es war eine abgelegene, öde Wüstenlandschaft, bedeckt mit Sarcobatus- und Mesquitesträuchern, durchzogen von nicht gekennzeichneten Sandpisten, die von illegalen Immigranten und Waffen- oder Drogenschmugglern genutzt wurden. Mit Sicherheit hatte der Bund für Beförderungsmittel auf der mexikanischen Seite gesorgt, auf einer dieser unbefestigten Straßen, die nach Cananea führten, fünfzig Kilometer südlich der Grenze. Sie würden auf diesem Netz improvisierter Straßen fahren, und er müsste sie abfangen, bevor sie die Stadt erreichten – und damit die asphaltierten Straßen, die von ihr wegführten. Sollte ihm das nicht gelingen, dann würden die Chancen, Helen jemals zu finden, gegen null gehen.

Nachdem er aufgestanden war, humpelte er im überwiegend trockenen Flussbett weiter, wobei er hin und wieder durch stehende Tümpel aus zentimetertiefem Wasser patschte. Vielleicht kam er schon jetzt zu spät.

Rund achthundert Meter weiter südlich erblickte er durch den dünnen Schutzschirm aus Bäumen ferne Lichter. Nachdem er zur Uferböschung gegangen war, spähte er geradeaus und sah etwas, das eine einsame Ranch zu sein schien, die abgeschieden in der riesigen Wüstenebene lag. Sie war bewohnt.

Die mondlose Nacht bot ihm Deckung für sein Vorhaben. Weiches gelbes Licht fiel aus den Fenstern des Hauptgebäudes aus Adobeziegeln, ein altes, weißgetünchtes Haus, das von defekten Viehpferchen und Zäunen und zerstörten Nebengebäuden umgeben war. Allerdings deuteten die funkelnden, neuen Geländewagen, die davor parkten, darauf hin, dass die Ranch derzeit für etwas ganz anderes als Viehzucht genutzt wurde.

In einer leichten Hocke näherte sich Pendergast dem Bereich. Er sah den Schein einer Zigarette und bemerkte einen Mann an der Eingangstür des Hauses, der die Fahrzeuge und die Zugangsstraße im Auge behielt, rauchend und ein Sturmgewehr in der Armbeuge.

Drogenschmuggler, keine Frage.

Er hielt sich weiter im Dunkel und ging um das Haus herum. An einer Wand stand ein Motorrad: eine Ducati Streetfighter S.

Pendergast ging jetzt außerordentlich vorsichtig vor, näherte sich dem Haus von der fensterlosen Seite. Eine niedrige Mauer aus Adobeziegeln trennte das Buschland vom unbefestigten Hof. Neben der Mauer ging er in die Hocke, sprang wie eine Katze darüber, humpelte mitten über den unbefestigten Hof und drückte sich gegen die Hauswand. Er wartete einen Augenblick lang, bis der stechende Schmerz im Bein nachließ. Dann griff er in seine Tasche, zog ein kleines, aber äußerst scharfes Messer hervor und ging weiter bis zur Hausecke.

Er wartete und lauschte. Stimmengemurmel drang zu ihm, hin und wieder das Husten des Mannes, der vor dem Haus rauchte. Kurz darauf hörte er, wie der Mann die Zigarettenkippe fallen ließ und mit dem Hacken ausdrückte. Dann das Klicken eines Feuerzeugs, der schwache Schein indirekten Lichts auf dem dunklen Hof, als erneut eine Zigarette angezündet wurde. Er hörte, wie der Wachmann geräuschvoll inhalierte, ausatmete, sich räusperte.

An die Hausecke gedrückt, tastete Pendergast im Sand herum und hob einen faustgroßen Stein auf. Damit schlug er leicht auf den Boden und wartete dann. Nichts. Er kratzte mit dem Stein durch den Sand, was ein etwas lauteres Geräusch hervorrief.

Der Mann hinter der Ecke horchte auf.

Pendergast wartete, dann kratzte er noch einmal, ein bisschen lauter.

Sekundenlange Stille. Und dann das leise Knirschen verstohlener Schritte. Der Mann näherte sich der Ecke des Gebäudes und hielt inne. Pendergast konnte seine Atmung hören, das leise Klappern des Gewehrs, als er es anlegte und sich bereitmachte, um die Ecke zu stürmen. Langsam ging Pendergast tiefer in die Hocke, unterdrückte dabei die Schmerzen, wartete. Plötzlich kam der Mann um die Ecke gerannt, Gewehr im Anschlag. In einer blitzartigen Bewegung sprang Pendergast auf, durchtrennte dem Mann mit der Spitze seines Messers die Flexorsehne des rechten Zeigefingers, während er gleichzeitig das Gewehr nach oben stieß und mit dem Stein der Schläfe einen heftigen Schlag versetzte. Lautlos ging der andere zu Boden. Pendergast schnappte sich das Gewehr – ein M4 – und schlang es sich über die Schulter. Dann schlich er sich an die Ducati heran. Der Schlüssel steckte im Schloss.

Das brutal-brachiale Motorrad hatte keine Satteltaschen, deshalb schlang er sich den improvisierten Rucksack über die Schulter, dazu das M4. Sich tief im Schatten haltend, schlich er zu den drei geparkten Geländewagen auf der Brachfläche und durchstach jeweils einen Reifen.

Er ging zurück zur Streetfighter, setzte sich darauf und drückte den Zündungsknopf. Sofort sprang der mächtige Motor röhrend an, und ohne auch nur eine Sekunde zu verschwenden, kickte Pendergast die Schaltung aus der Neutralstellung, ließ die Kupplung kommen und drehte den Gashebel mit einer heftigen Drehbewegung der rechten Hand weit auf.

Während er einen winzigen Sandsturm aufwirbelte und mit über achttausend Umdrehungen und noch im ersten Gang vom Hof raste, sah er in den Rückspiegeln, dass die Drogenhändler wie die Bienen mit gezogenen Waffen aus dem Ranchhaus schwirrten. Pendergast betätigte kurz die Kupplung und kickte das Motorrad in den zweiten Gang, als eine Salve von Schüssen ertönte. Die Lichter der Geländewagen gingen an, während die Männer die Motoren anließen, dann weitere Schüsse und Schreie nach Rache … und dann war alles hinter ihm und verschwand in der dunklen Nacht.

Er fuhr Richtung Süden, schaltete durch die Gänge des Motorrads und raste durch die leere Wüste. Er musste sie vor Cananea abfangen …

Er beschleunigte die Streetfighter noch mehr, während der weite, mit Sternen gesprenkelte Nachthimmel sich über ihm wölbte.

84 Stunden später

Weit vor Sonnenaufgang sah er in der unendlichen Finsternis der Wüste ein rotes Flackern – die Heckleuchten eines Fahrzeugs, das sich schnell durch das ferne Buschwerk bewegte. Es fuhr in südwestlicher Richtung davon. Acht Kilometer weiter südlich war der Lichtschein der Stadt Cananea zu erkennen.

Er wechselte die Richtung und fuhr schnurgerade durch die offene Wüste, bis er auf eine der parallel verlaufenden Pisten in Richtung Osten gelangte. Durch die Vibrationen des Motorrads auf der holperigen Straße und das Schlagen des Buschwerks gegen seine Beine hatte sich der Verband gelöst, und er spürte, wie ihm Blut am Bein hinabrann. Die Tropfen zischten auf dem heißen Auspufftopf. Wieder fischte er vier Ibuprofen-Tabletten aus dem Rucksack und warf sie sich in den Mund.

Das Fahrzeug war nicht mehr zu sehen, es befand sich irgendwo links von ihm im Buschwerk. Er raste weiter, die Lichter von Cananea wurden heller. Laut Mime würden Helens Entführer als Erstes auf mehrere kleine Maquiladora-Fabriken im Norden der Stadt stoßen. Von den Fabriken führten asphaltierte Straßen in die Stadt und mündeten dort in eine größere Überlandstraße. Pendergast musste verhindern, dass die Entführer eine dieser asphaltierten Straßen erreichten. Er musste sie in der Wüste erwischen.

Er beschleunigte weiter. Der Lichtschein am südlichen Himmel wurde stärker, so dass er die Geschwindigkeit erhöhen konnte. Inzwischen lag Cananea nur noch drei Kilometer entfernt. Als Pendergast vermutete, mit dem unsichtbaren Fahrzeug ungefähr auf gleicher Höhe zu sein, bog er nach Westen ab und raste pfeilgerade durch die leere Landschaft, wobei das Motorrad über Gräben sprang und durch Buschwerk raste. Eine Minute später erblickte er die Beleuchtung des Fahrzeugs genau westlich, es fuhr parallel, und er war nahe genug dran, um zu erkennen, dass es sich in Wahrheit um zwei Fahrzeuge handelte, eines hinter dem anderen – Cadillac Escalades, dem Aussehen nach zu urteilen. Sie fuhren schnell, aber auch nicht entfernt so schnell wie er.

Sie hatten sein Scheinwerferlicht offenbar noch nicht entdeckt.

Mit der linken Hand nahm er das M4 von der Schulter, und während er die rechte Hand auf dem Gashebel ließ, legte er das Gewehr auf den Lenker und stützte es mit der Hüfte ab. Er überprüfte kurz, ob es auf Automatik gestellt war.

Aber jetzt hatten die Fahrzeuge seine Beleuchtung entdeckt: Sie scherten aus, weg von ihm, fuhren von der Straße herunter und rasten krachend durch das spärliche Buschwerk.

Dafür war es zu spät. Er fuhr schneller, er war wendiger, und abseits der Straße vermochten die großen Geländewagen nicht stark zu beschleunigen. Von schräg hinten kommend, lenkte er das Motorrad auf die Lücke zwischen den beiden Fahrzeugen zu, setzte sich dazwischen, wobei er hart bremste, um sich ihrem Tempo anzupassen. Das Manöver erlaubte ihm, die Insassen beider Fahrzeuge zu sehen, und schon nach einem Augenblick konnte er Helens verängstigtes Gesicht im Rückfenster des zweiten Fahrzeugs erkennen. Ein Mann beugte sich aus dem ersten Fahrzeug und schoss auf ihn mit einer Handfeuerwaffe, allerdings ohne Wirkung zu erzielen. Pendergast ließ den starken Motor der Ducati aufheulen und zog davon, beschleunigte längs des ersten Fahrzeugs und feuerte gleichzeitig mit dem M4-Karabiner, beharkte es in Brusthöhe im Vorbeifahren. Der Geländewagen scherte aus und geriet ins Schleudern, dann überschlug er sich mehrmals, bis er in einem Feuerball explodierte.

Das zweite Fahrzeug hatte sofort gebremst und befand sich jetzt weiter hinter ihm. Pendergast betätigte die Rückbremse und vollführte mit der Streetfighter einen Powerslide, dass der Sand nur so aufspritzte, bis er schließlich mit dem Rücken zur Stadt stand, dem Escalade genau gegenüber. Er wartete ab, was der Fahrer vorhatte.

Statt sich dem Kampf zu stellen, scherte der weiter aus und raste holpernd über den unebenen Untergrund, bretterte durch die niedrigen Kreosotbüsche und steuerte auf die asphaltierte Straße am Rand der Stadt zu. Ein stetes Geräusch ungezielter Schüsse drang aus dem Fahrzeug, durchbrochen von Lichtblitzen.

Pendergast ließ die Ducati aufheulen, vollführte eine 90- Grad-Kehre, gab Gas und jagte ihnen hinterher.

Er holte schnell auf, hielt sich bei seinem Flankenmanöver südlich und zwang das Fahrzeug dadurch in eine östliche Richtung, weg von den Fabriken und der Stadt. Doch die von Laternen gesäumte Straße zur nächstgelegenen Fabrik kam rasch näher.

Wieder wurden aus dem Fahrzeug Schüsse abgegeben und ließen Sand aufspritzen. Ein Mann zielte mit einer Faustfeuerwaffe aus dem Rückfenster. Aber der Escalade ruckelte derart heftig, dass Pendergast kaum Gefahr lief, getroffen zu werden. Er beschleunigte das Motorrad, so dass er wieder hinter und parallel zum Escalade fuhr. Erneut brachte er das Gewehr in Stellung. Ein Mann, der sich aus dem Fenster lehnte, gab weitere Fehlschüsse ab.

Pendergast ging auf Kollisionskurs und ließ den Motor aufheulen, holte einen letzten Beschleunigungsschub heraus, gelangte mit dem Wagen auf gleiche Höhe und feuerte eine Salve ab, die einen der Vorderreifen zerfetzte. Gleichzeitig traf eine Gewehrsalve aus dem Wagen die Ducati, so dass die Kette brach und das Motorrad ins Rutschen geriet. Schnell betätigte Pendergast Vorder- und Rückbremse, damit er nicht in einen unbeherrschbaren Dreher geriet. Während das Motorrad abrupt langsamer wurde, sprang er ab, mitten hinein in einen Kreosotbusch, unmittelbar bevor das Motorrad in eine schmale Schlucht stürzte.

Sofort rappelte er sich auf, das Gewehr in der Hand, zielte und schoss abermals auf das davonfahrende Auto. Der Escalade schleuderte bereits auf dem geplatzten Reifen, der Schuss traf den Hinterreifen auf derselben Seite, schleudernd kam der Geländewagen zum Stehen. Gleichzeitig sprangen vier Männer heraus, knieten sich neben den Wagen und starteten ein Dauerfeuer.

Pendergast warf sich auf den Boden und zielte – während die Kugeln rings um ihn herum Sand aufspritzen ließen – sorgfältig. In schneller Folge setzte seine überlegene Waffe erst einen Mann, dann noch einen außer Gefecht. Die übrigen beiden zogen sich zurück außer Sicht, hinter das Fahrzeug, und stellten das Feuer ein.

Keine kluge Entscheidung.

Pendergast erhob sich. Und dann stürmte er – kaum mehr als ein taumelndes Humpeln – los. Dabei hielt er das Feuer aufrecht und sorgte dafür, dass seine Schüsse in die Höhe gingen. Plötzlich erschienen die beiden Männer jeweils an einer Seite des Fahrzeugs; der eine zerrte Helen, mit einer Waffe an der Schläfe, heraus, der andere – der großgewachsene, muskulöse Mann mit schneeweißem Haar, der das Flugzeug gesteuert hatte – hockte dahinter und nutzte die anderen beiden als Schutzschild. Er war offenbar unbewaffnet, zumindest schoss er nicht.

Noch einmal warf sich Pendergast auf den Boden und zielte, wagte aber nicht abzudrücken.

»Aloysius!«, erklang ein dünner Schrei.

Pendergast zielte von neuem und wartete.

»Lass die Waffe fallen, oder ich knall sie ab!«, kam ein scharf akzentuierter Ruf von dem Mann, der sie als menschlichen Schutzschild missbrauchte. Die drei Gestalten zogen sich zurück, weg vom Escalade, der weißhaarige Mann hielt sich dabei hinter den anderen.

»Ich bring sie um, ich schwöre es!«, schrie der mit der Waffe. Aber Pendergast wusste, dass er es nicht tun würde. Sie war sein einziger Schutz.

Er schoss zweimal auf Pendergast, aber die Handfeuerwaffe war auf eine Entfernung von hundert Metern nicht treffsicher.

»Lasst sie gehen!«, rief Pendergast. »Ich will sie, nicht euch! Lasst sie frei, dann könnt ihr gehen!«

»Nein!« Der Mann packte sie verzweifelt.

Pendergast stand langsam auf und ließ das Gewehr an einer Seite baumeln. »Lasst sie einfach frei. Das ist alles. Es wird keine Probleme geben. Ihr habt mein Wort.«

Der Mann gab noch einen Schuss auf Pendergast ab, aber er ging weit daneben. Pendergast begann mit gesenktem Gewehr auf die beiden Männer zuzuhumpeln. »Lasst sie gehen. Nur so kommt ihr lebendig hier raus. Lasst sie frei.«

»Lass die Waffe fallen!« Der Mann war hysterisch vor Angst.

Langsam legte Pendergast seine Waffe auf den Boden und richtete sich mit erhobenen Händen auf.

»Aloysius!«, sagte Helen wimmernd. »Geh einfach, geh!«

Wieder schoss der Mann auf Pendergast – und verfehlte ihn. Er stand zu weit entfernt und war so panisch, dass er nicht zielgenau schießen konnte.

»Vertraut mir«, sagte Pendergast leise, ruhig und streckte die Arme aus. »Lasst sie frei.«

Ein Augenblick voll furchterregenden Stillstands. Und dann warf der Mann Helen plötzlich mit einem unartikulierten Schrei zu Boden, senkte die Pistole und feuerte aus nächster Entfernung in ihren Körper. »Hilf ihr, oder verfolge mich!«, rief er, drehte sich um und rannte los.

Helens Aufschrei durchdrang die Luft – und erstarb jäh. Völlig überrascht stürzte Pendergast, einen Schrei ausstoßend, vor und kniete binnen Augenblicken neben ihr. Er erkannte sofort, dass der Schuss tödlich war, das Blut strömte in rhythmischen Stößen aus einem Loch in der Brust – eine Kugel mitten ins Herz.

»Helen!«, rief er mit brechender Stimme.

Sie griff nach ihm wie eine Ertrinkende. »Aloysius … du musst mir zuhören …« Ihre Stimme war ein gekeuchtes Flüstern.

Er beugte sich vor, um sie zu verstehen.

Die Hände schlossen sich fester. »Er kommt … Erbarmen … Hab Erbarmen …« Und dann stoppte ein Blutsturz ihre Worte. Er legte zwei Finger auf ihre Halsschlagader, spürte, wie der Puls beim allerletzten Herzschlag flatterte und dann aussetzte.

Nach einem Moment erhob sich Pendergast. Unsicher humpelte er zu der Stelle zurück, wo er das M4 hatte fallen lassen. Der weißhaarige Mann war offenbar von dieser Entwicklung ebenso überrascht wie Pendergast, denn er war erst verspätet losgelaufen und dem Schützen gefolgt.

Pendergast kniete sich hin, hob die Waffe und zielte damit auf den Mörder seiner Frau, eine fliehende Gestalt, die jetzt fünfhundert Meter entfernt war. Auf eine eigentümliche, distanzierte Weise fiel ihm das letzte Mal ein, als er auf die Jagd gegangen war. Er nahm die Gestalt ins Visier und kalkulierte Windabweichung und Rückschlag ein; dann drückte er ab, das Gewehr ruckte, und der Mann stürzte zu Boden.

Der Weißhaarige war ein äußerst guter Läufer; er hatte den Mörder bereits überholt und war inzwischen noch weiter entfernt. Pendergast zielte und schoss – daneben.

Er holte Luft, atmete aus, nahm den Mann ins Visier, kompensierte und schoss ein zweites Mal. Wieder daneben.

Beim dritten Versuch klickte ein leeres Magazin, noch während der Gegner in der Weite der Wüste verschwand.

Nach einem langen Augenblick legte Pendergast die Waffe wieder ab und ging zurück zu der Stelle, wo Helen in einer langsam sich ausbreitenden Blutlache lag. Lange starrte er auf den Leichnam. Dann machte er sich an die Arbeit.

91 Stunden später

Die Sonne stand hoch an einem vor Hitze fast weißen Himmel, ein kleiner Staubsturm wirbelte über die leere Weite. Am fernen Horizont zeichneten sich blaue Berge ab. Ein Truthahngeier, der den Tod roch, schwebte hoch oben in einem thermischen Auftrieb und zog träge seine zusehends enger werdenden Kreise.

Pendergast warf die letzte Schaufel Sand ins Grab, schlug den Sand mit dem rostigen Blatt flach und glättete ihn. Es hatte lange gedauert, das Grab zu schaufeln. Tief, sehr tief hatte er es in dem trockenen Lehmboden ausgehoben. Es sollte weder von Mensch noch Tier gestört werden.

Er hielt inne, stützte sich auf die Schaufel und nahm flache Atemzüge. Nach der Anstrengung blutete die Wunde im Bein wieder stark, das Blut sickerte durch den neuen Verband. Schweißperlen, vermischt mit Sand, rannen über sein ausdrucksloses Gesicht. Sein Hemd war zerrissen, durchgeschwitzt, braun vor Staub, seine Jacke zerfetzt, die Hose eingerissen. Er starrte auf die Stelle, wo er das Grab geschaufelt hatte. Und dann – während er sich langsam bewegte wie ein alter Mann – beugte er sich vor und packte das grobe Markierungsschild, das er aus einem Brett gezimmert hatte, das er aus demselben verlassenen Ranchhaus geholt hatte, aus dem die Schaufel stammte. Das Ganze sollte nicht zu offensichtlich wie ein Grab aussehen. Er holte das Messer aus seiner Tasche und kratzte mit zittriger Hand:


H.E.P.

Aeternum vale


Er humpelte zum Kopfende des Grabs und drückte das angespitzte Ende des Schilds in die Erde. Er trat einen Schritt zurück und hob die Schaufel, wobei er genau zielte, dann schlug er mit voller Wucht von oben auf das Schild.


… Er saß vor einem kleinen Lagerfeuer, tief in den dichtbewaldeten Flanken des Cannon Mountain. Auf der anderen Seite des Feuers saß Helen, sie trug ein kariertes Flanellhemd und Wanderstiefel. Sie hatten soeben den dritten Tag einer siebentägigen Rucksacktour durch die White Mountains beendet. Jenseits eines Karsees ging die Sonne unter – ein scharlachroter Feuerball – und erleuchtete die Gipfel der Franconia Range. Leise, von weit unten am Berg, erklangen Stimmen und Fetzen von Liedern aus der Lonesome-Lake-Hütte. Eine Kanne Espresso stand auf dem Feuer, sein Aroma vermischte sich mit den Gerüchen von Holz, Rauch, Kiefern und Balsamkraut. Während Helen die Kanne auf dem Feuer drehte, blickte sie zu ihm hoch und lächelte plötzlich – ihr einzigartiges, halb schüchternes, halb selbstsicheres Lächeln –, dann stellte sie zwei kleine Espressotassen aus Porzellan auf den Feuerstein, eine neben die andere, präzise und ordentlich, wie es ihre Art war …


Pendergast taumelte und keuchte vor Anstrengung nach dem Hieb mit der Schaufel und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Schmutz und Schweiß hatten den zerschlissenen Ärmel seiner Anzugjacke verschmiert. Er wartete, stand in der sengenden Hitze der Sonne und versuchte, wieder Atem zu schöpfen, die letzten Kräfte zu mobilisieren. Dann, abermals vor Anstrengung keuchend, hob er die Schaufel. Durch den Schwung verlor er das Gleichgewicht, taumelte rückwärts und hatte Mühe, nicht zu stürzen. Seine Knie knickten ein, und bevor er noch einmal schwankte, schlug er mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, mit dem Schaufelblatt auf das Markierungsschild.


… London, Frühherbst. Die Blätter an den schattenspendenden Bäumen, die die Devonshire Street säumten, waren schon ein wenig gelb. Sie gingen in Richtung Regent’s Park, nachdem sie kurz zuvor Christie’s verlassen hatten. Um sich Helens Risikofreude gewachsen zu zeigen, hatte er soeben auf einer Auktion zwei Kunstwerke ersteigert, die er auf den ersten Blick geliebt hatte: eine Meerlandschaft von John Marin und ein Gemälde, darstellend die Abtei von Whitby, das in Christie’s Katalog zwar als Werk »eines unbedeutenden romantischen Malers« aufgeführt war, seiner Meinung nach jedoch ein früher Constable sein konnte. Helen hatte einen Silberflakon Cognac in die Auktion geschmuggelt, und jetzt – während sie die Park Crescent kreuzten und auf den eigentlichen Park zusteuerten – begann sie mit voller Stimme, das Gedicht »Der Strand von Dover« zu zitieren, so dass alle es hören konnten: »Die See ist still heut Nacht. Die Flut ist voll, der Mond fällt schön …«


Er hatte, ohne es zu bemerken, die Schaufel fallen gelassen. Sie lag schräg auf seinen Schuhen, die Spitze in der losen Erde. Er kniete sich hin, um sie aufzuheben, dann sank er ganz plötzlich auf die Knie. Er streckte eine Hand aus, um nicht zu fallen, aber die Schaufel rutschte ihm aus der Hand, und er sank zu Boden und fiel seitlich mit dem Gesicht in den Sand.

Es wäre leicht, bemerkenswert leicht, so liegen zu bleiben, hier über Helens Leichnam. Aber er hörte das langsame Tropf, Tropf, Tropf seines Bluts auf den Sand und erkannte, dass er erst loslassen konnte, wenn die Arbeit getan war. Er hievte sich in eine sitzende Stellung. Nach einigen Minuten fühlte er sich gerade kräftig genug, aufrecht stehen zu können. Mit äußerster Anstrengung, indem er die Schaufel als Krücke einsetzte, stand er auf und hob erst das linke, dann das rechte Bein. Der Schmerz in der verletzten Wade war verschwunden; er fühlte überhaupt nichts mehr. Trotz der intensiven Sonneneinstrahlung schränkte die Dunkelheit sein Gesichtsfeld immer mehr ein: Ihm blieb nur noch eine Chance, das Markierungsschild dauerhaft in den Boden zu rammen, bevor er das Bewusstsein verlor. Er holte tief Luft, packte den Griff der Schaufel, so fest er konnte, hob das Werkzeug mit zitternden Händen und hieb mit seinem letzten Funken Kraft auf den Pfosten.


… Eine warme Sommernacht, das Zirpen von Grillen. Er und Helen saßen, hohe Gläser in den Händen, auf der Hinterveranda der Penumbra-Plantage und sahen zu, wie der Abendnebel vom im Mondlicht schimmernden Bayou herüberkroch. Die Nebelschwaden wälzten sich erst über den marschigen Rand des Grundstücks, dann den klassizistischen Garten, dann den Rasenteppich, der zum großen Haus hinaufführte; sie schwebten über den Rasen, rankten sich an den Stufen hoch wie eine Zeitlupenflut, gespenstisch weiß leuchtend von der Kugel des Mondes.

Auf einem Serviertisch auf Rollen in der Nähe standen ein halbvoller Krug geeister Limonade und die Reste einer Platte mit crevettes remoulde. Aus der Küche drang der Geruch von gegrilltem Fisch: Maurice bereitete Pompano Pontchartrain zum Abendessen.

Helen sah zu ihm hin. »Kann es nicht ewig so bleiben, Aloysius?«, fragte sie.

Er trank einen Schluck Limonade. »Warum denn nicht? Unser ganzes Leben liegt noch vor uns. Wir können damit machen, was uns gefällt.«

Sie lächelte und schaute in den Himmel. »Damit machen, was uns gefällt … Ein Versprechen zum Mondaufgang?«

Er blickte in gespielter Ernsthaftigkeit auf den bernsteinfarbenen Mond und legte sich spielerisch die Hand auf die Brust. »Mein Ehrenwort!«


Er stand mitten in dieser weiten, leeren, unwirtlichen und fremden Wüste. Die Dunkelheit füllte sein Gesichtsfeld aus, so als schaute er hinab in einen dunklen Tunnel, dessen Ende sich immer weiter entfernte. Die Schaufel rutschte ihm aus den tauben Händen und fiel dumpf auf den sandigen Boden. Mit einem letzten, kaum hörbaren Seufzer sank er auf die Knie und stürzte dann – nach einem kurzen Innehalten – auf das Grab seiner toten Ehefrau.

Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
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