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Detective Lieutenant D’Agosta hatte es sich schon vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, zu allen Terminen im Gebäude der Rechtsmedizin in der East 26th Street zu spät zu kommen. Er hatte auf die harte Tour gelernt, dass das pünktliche Erscheinen erhebliche Nachteile mit sich brachte, denn meistens erschien man, wenn die Obduktion vorgenommen wurde und man gezwungen war, Zeuge der Schlussphase zu werden, die unvermeidlich die schlimmste war. Man hatte ihm gesagt, dass er sich schon daran gewöhnen werde.

Er hatte sich nicht daran gewöhnt.

Diese Obduktion würde, das ahnte er, eine noch größere Herausforderung darstellen als die meisten. Eine junge IT-Beraterin aus Boston auf Geschäftsreise in New York war in einem Luxushotel ermordet und zerstückelt worden, die Bilder der Überwachungskameras zeigten einen Mörder, der wie ein Model aussah, und das Opfer war genauso attraktiv. Die Art und Weise des Verbrechens – das alle Merkmale eines Lustmordes aufwies – garantierte ein großes öffentliches Interesse. Selbst die Times hatte darüber berichtet.

Auf einer bestimmten Ebene war er jedoch – auch wenn er sich das nur sehr ungern eingestand – gar nicht so unzufrieden, dass er hier war. Der Abteilungschef hatte ihm den Fall übertragen und ihn zum Leiter des Ermittlungsteams ernannt. Somit war es »sein« Verbrechen, sein Baby.

Er schritt durch die Tür mit dem berühmten lateinischen Satz: TACEANT COLLOQUIA. EFFUGIAT RISUS. HIC LOCUS EST UBI MORS GAUDET SUCCURRERE VITAE. »Das Reden verstumme, das Lachen entfliehe, denn dies ist der Ort, wo der Tod sich erfreut, beizustehen dem Leben.« Was D’Agosta mit einer gewissen Genugtuung daran denken ließ, wie gut in seinem Leben gerade alles lief. Seine Herzverletzung war fast vollständig geheilt, seine Beziehung mit Hayward war auf dem richtigen Weg, seine Ex-Frau war von der Bildfläche verschwunden, er stand mit seinem Sohn in regelmäßigem Kontakt, und seine etwas unsolide Beschäftigungsbiographie sowie die Disziplinarmaßnahmen gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Das einzige ungelöste Problem stellte Pendergast und dessen Jagd nach seiner entführten Ehefrau dar. Aber wenn einer auf sich selbst aufpassen konnte, dann Pendergast.

D’Agostas Gedanken kehrten zum vorliegenden Fall zurück. Dieser bedeutete mehr als nur eine Chance, er markierte einen Scheideweg in seiner Karriere, einen Neuanfang. Vielleicht sogar den ersten Schritt auf seinem Weg zum Chef.

Mit diesen Überlegungen betrat er den Hauptgang des Gebäudes für Rechtsmedizin, zeigte einer der Schwestern zur Begrüßung nur kurz seinen Ausweis, schrieb sich ein und begab sich zum Obduktionsraum 113. Davor zog er sich die vorschriftsmäßige Kleidung an, dann betrat er den Raum – um festzustellen, dass er genau den richtigen Zeitpunkt gewählt hatte.

Die zerstückelte Leiche lag auf einer Tragbahre. Auf einem zweiten Leichentisch daneben lagen, mit militärischer Präzision aufgereiht, die fehlenden Teile, große und kleine, die vom Leichnam abgetrennt worden waren, dazu Tupperdosen mit den verschiedenen Organen darin, die die forensische Pathologin im Laufe der Obduktion entnommen hatte.

Die Pathologin nahm gerade das letzte Organ – die Leber – in die Hand, das aus der Körperhöhle entfernt und in den dafür vorgesehenen Behälter gelegt werden sollte.

Um die Leiche herum standen zwei Angehörige aus D’Agostas neu zusammengestelltem Team: Barber, der Tatort-Ermittler, und der Fingerabdruckexperte, dessen komischen Namen er sich nie merken konnte. Barber war in Topform, fröhlich und gut gelaunt wie immer, und nahm mit seinen babybraunen Augen alles in Augenschein. Die Miene des Fingerabdruckexperten – wie zum Teufel hieß der noch gleich? – ließ auf bedeutende Neuigkeiten schließen. Es ärgerte D’Agosta, dass sich die beiden anscheinend gar nicht so unwohl fühlten. Wie machten die das?

Er versuchte, sich nicht an den Details aufzuhalten, indem er den Blick mal hierhin und mal dorthin richtete und auf keinem Gegenstand im Speziellen verweilen ließ. Unter den gegebenen Umständen fühlte er sich ziemlich gut: Am Morgen hatte er, zum Ärger seiner Lebenspartnerin Laura, sein Lieblingsfrühstück – Französischen Toast mit Challah-Brot –, sogar Orangensaft und Kaffee abgelehnt und sich mit einem Glas italienischem Mineralwasser begnügt.

Begrüßungsgemurmel, Kopfnicken. Im Obduktionskittel und mit Mundschutz erkannte er die forensische Pathologin nicht, die immer noch Daten in ihr Headset sprach. Es war zwar schwierig, viel von der Frau zu erkennen, aber er sah, dass sie jung und auffallend hübsch war und glänzende, straff nach hinten gezogene Haare hatte. Doch sie wirkte angespannt, unsicher.

»Doktor, ich bin Lieutenant D’Agosta, der Leiter des Ermittlungsteams«, begrüßte er sie.

»Dr. Pizzetti. Ich bin die neue forensische Pathologin.«

Prima. Italienische Abstammung. Ein gutes Omen. Dass sie neu war, erklärte ihre Nervosität.

»Könnten Sie mich, wenn’s geht, einweihen, Dr. Pizzetti?«

»Natürlich.« Sie begann, die Leichenteile aufzuräumen, und diktierte ihre letzten Beobachtungen. Die Leiche lag auf der Bahre wie ein locker zusammengesetztes menschliches Puzzle, und jetzt legte sie einige der Teile, die im Laufe der Obduktion verschoben worden waren, an ihren angestammten Platz, so dass der Körper wieder eine einigermaßen menschliche Form erhielt. Sie rückte einige Organe zurecht, verschloss einige noch offene Tupperdosen mit Deckeln. Und dann redete ihr Assistent leise mit ihr und reichte ihr eine lange, fies aussehende Kanüle.

D’Agosta spürte, wie er ganz starr wurde. Was war das denn? Er hasste Kanülen.

Pizzetti beugte sich über den Schädel. Das Schädeldach war bereits abgenommen, das Hirn entfernt worden. War die Sache damit nicht erledigt? Was machte sie denn da?

Während er zusah, streckte sie die Hand aus, öffnete mit dem Daumen das eine Auge und schob die Kanüle hinein.

D’Agosta hätte schneller wegschauen sollen, aber er hatte es nicht, und der Anblick, wie sie die Kanüle in das hellblaue, starrende Auge stach, führte dazu, dass sich sein Magen auf höchst unangenehme Weise verkrampfte. Normalerweise nahm man die Proben der Augenflüssigkeit für die toxikologischen Tests am Beginn der Obduktion und nicht am Schluss.

D’Agosta tat, als würde er in seinen Mundschutz husten, und wandte den Blick ab.

»Wir sind fast fertig, Lieutenant«, sagte Pizzetti. »Wir mussten nur noch eine weitere toxikologische Probe entnehmen. Haben beim ersten Mal nicht genug bekommen.«

»Okay. Prima. Kein Problem.«

Sie warf die Kanüle in einen Müllsack für medizinische Abfälle und reichte die Spritze, gefüllt mit einer gelblich orangefarbenen Flüssigkeit, ihrem Assistenten. Dann trat sie einen Schritt zurück und blickte sich um. Sie streifte die beschmutzten Handschuhe ab, warf sie in den roten Müllsack, zog den Mundschutz herunter und hakte ihr Headset los. Ihr Assistent reichte ihr ein Klemmbrett.

Sie war wirklich nervös. D’Agosta hatte Mitleid mit ihr: jung, neu im Job, wahrscheinlich ihr erster großer Fall. Machte sich Sorgen, ihr könnte ein Fehler unterlaufen. Aber danach zu urteilen, was er vor sich ausgebreitet sah, hatte sie gute Arbeit geleistet.

Sie begann das Briefing mit den üblichen Angaben: Größe, Gewicht, Alter, Todesursache, besondere Körpermerkmale, alte Narben, allgemeiner Gesundheitszustand, krankhafte Veränderungen. Ihre Stimme klang angenehm, wenn auch etwas gepresst. Der Fingerabdruckexperte machte sich Notizen. D’Agosta zog es vor, zuzuhören und sich alles genau zu merken; wenn er sich Notizen machte, übersah er oft Dinge.

»Nur eine Verletzung hat zum Tod geführt: die im Hals«, sagte sie. »Kein Gewebe unter den Fingernägeln. Vorläufige toxikologische Tests alle negativ. Keinerlei Hinweise auf einen Kampf.«

Im Folgenden beschrieb sie detailliert die Tiefe, den Winkel und die anatomischen Gegebenheiten der Stichwunde. Das ist ein planvoll agierender, intelligenter Mörder, dachte D’Agosta, als er hörte, wie effektiv die tödliche Verletzung das Verbluten der Leiche ausgelöst, das Opfer sofort zum Schweigen gebracht und dazu geführt hatte, dass es sehr schnell ausblutete; das alles ausgeführt mit einem rasiermesserscharfen Messer mit einer etwa zehn Zentimeter langen zweischneidigen Klinge.

»Der Tod«, schloss sie, »trat binnen dreißig Sekunden ein. Alle anderen Schnitte wurden postmortal durchgeführt.« Ein Innehalten. »Die Leiche wurde mittels einer Stryker-Säge zerstückelt, möglicherweise einer, die der hier neben mir sehr ähnelt.« Sie zeigte auf eine Säge, die auf einem Gestell neben der Leiche lag. »Die Stryker hat ein keilförmiges Kettenblatt, das sich bei hoher Geschwindigkeit vor- und zurückbewegt, und wird von Druckluft angetrieben. Sie ist speziell dazu entworfen, um durch Knochen zu schneiden, aber sofort anzuhalten, sobald sie auf weiches Körpergewebe trifft. Außerdem ist sie dafür ausgelegt, dass es beim Schneiden nicht zu Knochenabsplitterungen oder zum Herumspritzen von Weichteilen kommt. Der Täter scheint sich mit der Säge gut auszukennen. Außergewöhnlich gut.« Sie hielt erneut inne.

D’Agosta räusperte sich. Das Rumoren im Magen war noch immer da, aber wenigstens drohte es nicht sich auszuweiten. »Beim Täter könnte es sich also um einen Rechtsmediziner oder orthopädischen Chirurgen gehandelt haben?«

Langes Schweigen. »Es ist nicht meine Aufgabe zu spekulieren.«

»Ich möchte nur Ihre spontane Meinung hören, Doktor. Ich verlange keine wissenschaftliche Schlussfolgerung. Ich werde es nicht gegen Sie verwenden. Also, was meinen Sie?« Er bemühte sich um einen sanften Tonfall, damit sie sich nicht bedroht fühlte.

Wieder ein Zögern. Allmählich bekam D’Agosta eine genauere Vorstellung davon, warum Pizzetti so angespannt war: Vielleicht fragte sie sich, ob es sich bei dem Mörder um einen Kollegen handelte. »Es kommt mir vor, als hätte die Person, die das getan hat, eine Fachausbildung durchlaufen«, entfuhr es ihr.

»Vielen Dank.«

»Darüber hinaus hat der Täter chirurgische Werkzeuge benutzt, um das Fleisch bis auf den Knochen wegzuschneiden – und zwar erstaunlich präzise –, Wundhaken, um das Fleisch wegzuziehen – wir haben die Stellen dokumentiert – und, wie gesagt, mit der Stryker die Knochen durchtrennt. Sämtliche Schnitte wurde sehr präzise ausgeführt, keine Patzer, keine Fehler, ganz so, wie ein Knochenchirurg eine Amputation vornehmen würde. Außer natürlich, dass die Gefäße nicht abgebunden oder kauterisiert wurden.« Sie räusperte sich. »Der Leichnam wurde systematisch zerlegt: ein Schnitt acht Zentimeter unterhalb des Knies, einer acht Zentimeter oberhalb, einer fünf Zentimeter oberhalb des Ellbogens und noch einer fünf Zentimeter darunter. Und dann wurden die Ohren, die Nase, die Lippen, das Kinn und die Zunge entfernt. Alles mit chirurgischer Präzision.«

Sie wies auf die Leichenteile, die auf der zweiten Tragbahre neben dem Leichnam ausgebreitet lagen. Die Ohren, die Nase, die Lippen sowie weitere kleine Teile waren gewaschen worden und sahen aus wie aus einem Wachsfigurenkabinett oder Utensilien aus einem Clownskoffer.

D’Agostas Knoten in der Magengegend verdichtete sich, und er verspürte eine Art Brennen im Bauch. Verdammt, sogar das Glas Mineralwasser war ein Fehler gewesen.

»Und dann haben wir das hier.« Pizzetti wandte sich um und deutete auf einen 8-x-10-Zoll-Fotoabzug, der, zusammen mit zahlreichen anderen Fotos vom Tatort, an ein Korkbrett gepinnt war. D’Agosta hatte die schon am Tatort gesehen, wappnete sich aber trotzdem.

Der Täter hatte auf den Bauch des Opfers mit Blut eine Botschaft geschrieben. Sie lautete:

Na, stolz auf mich?

D’Agosta warf dem Fingerabdruckexperten einen Blick zu. Wie hieß der noch gleich? Jetzt war er an der Reihe, und am Glänzen in seinen Augen war abzulesen, dass er etwas zu sagen hatte.

»Ja, äh, Mr. –«

»Kugelmeyer«, kam die schnelle, eifrige Antwort. »Vielen Dank. Nun. Wir haben praktisch eine komplette Serie vom Täter. Rechter und linker Daumen, rechter und linker Zeigefinger, rechter Ringfinger, ein paar partielle Handflächen. Dazu noch zwei besonders hübsche Abdrücke auf der Botschaft dort, die mit dem Blut des Opfers mit dem linken Zeigefinger geschrieben wurde.«

»Sehr gut«, sagte D’Agosta. Das war mehr als gut. Der Mörder war schockierend sorglos vorgegangen, er hatte sich von einem halben Dutzend Überwachungskameras ablichten lassen und überall am Tatort Fingerabdrücke hinterlassen. Andererseits hatte die Spurensicherung am Tatort nicht viel gefunden: kein Speichel, Sperma oder Schweiß, kein Blut oder andere Körperflüssigkeiten des Täters. Natürlich waren Haare und Fasern sichergestellt worden – es handelte sich schließlich um ein Hotelzimmer –, aber nichts Vielversprechendes. Keine Bisswunden am Körper, keine Kratzspuren, bislang noch nichts, anhand dessen sich die DNA des Mörders bestimmen ließe. Allerdings hatte die Spurensicherung viele Fingerabdrücke genommen und hoffte, doch noch irgendwelches DNA-Material zu finden, außerdem war sie zuversichtlich, dass das Labor etwas damit anfangen konnte.

Pizzetti fuhr fort: »Es gibt keinerlei Hinweise auf sexuelle Aktivitäten, Penetration, sexuelle Gewalt oder Vergewaltigung. Das Opfer hatte kurz vorher geduscht, was die Sicherstellung potenziellen Beweismaterials erleichtert hat.«

D’Agosta wollte gerade eine Frage stellen, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte.

»Also wenn das nicht Lieutenant D’Agosta höchstpersönlich ist. Wie geht’s Ihnen, Vinnie?«

D’Agosta drehte sich um und erblickte die imposante Gestalt von Dr. Matilda Ziewicz, Leiterin des Gerichtsmedizinischen Instituts der Stadt New York. Sie stand da wie ein Footballverteidiger, ein zynisches Lächeln umspielte den mit knallrotem Lippenstift angemalten Mund, die toupierten blonden Haare steckten unter einer XXL-Haube, der extragroße Kittel bauschte sich. Sie war brillant, imposant, körperlich abstoßend, sarkastisch, von allen gefürchtet und äußerst effizient in ihrer Arbeit. New York hatte noch nie einen kompetenteren Chef der Rechtsmedizin gehabt.

Dr. Pizzetti wurde noch nervöser.

Ziewicz wedelte kurz mit der Hand. »Machen Sie nur weiter, achten Sie gar nicht auf mich.«

Es war zwar nicht möglich, sie nicht zu beachten, aber Pizzetti versuchte es trotzdem. Sie fuhr mit ihrer Aufzählung sämtlicher vorläufiger Ergebnisse fort, ob nun relevant oder nicht. Ziewicz hörte sehr genau zu, und dann, während Pizzetti weiterredete, verschränkte sie die Hände auf dem Rücken und ging aufreizend langsam um die beiden Bahren, die eine mit der Leiche, die andere mit den Leichenteilen, und besah sich das alles mit roten, geschürzten Lippen.

Nach mehreren Minuten gab sie ein leises Hmmmmm von sich. Und dann noch eines, dazu ein Nicken, ein Brummen und ein Murmeln.

Pizzetti verstummte.

Ziewicz richtete sich auf und wandte sich zu D’Agosta um. »Lieutenant, erinnern Sie sich noch an die Museumsmorde, damals, vor vielen Jahren?«

»Wie könnte ich sie je vergessen?« Damals war er der beeindruckenden Frau zum ersten Mal begegnet, als sie noch nicht die Leiterin des Gerichtsmedizinischen Instituts gewesen war.

»Ich hätte nicht geglaubt, noch mal einen so ungewöhnlichen Fall wie jenen zu erleben. Bis jetzt.« Sie wandte sich an Pizzetti und sagte: »Sie haben etwas übersehen.«

D’Agosta sah, wie Pizzetti förmlich erstarrte. »Etwas … übersehen?«

Ein Nicken. »Etwas Entscheidendes. Mehr noch: das, was diesen Fall in«, sie zeigte mit ihrer plumpen Hand in die Höhe, »die Stratosphäre katapultiert.«

Es folgte ein langes, peinliches Schweigen. Ziewicz drehte sich zu D’Agosta um. »Lieutenant, Sie überraschen mich.«

D’Agosta merkte, dass er eher amüsiert war, als sich herausgefordert zu fühlen. »Was denn, haben Sie da irgendwo drin eine Klammer entdeckt?«

Ziewicz legte den Kopf in den Nacken und stieß ein melodiöses Lachen aus. »Sie sind ja ein Komiker.« Sie drehte sich wieder zu Pizzetti um, während alle anderen Anwesenden einander verwirrt anschauten. »Ein guter gerichtsmedizinischer Pathologe geht völlig ohne vorgefertigte Meinungen an eine Obduktion.«

»Ja«, sagte Pizzetti.

»Aber Sie sind mit einer vorgefertigten Meinung hier rangegangen.«

Pizzetti reagierte sichtlich verängstigt. »Das glaube ich nicht. Ich war für alles offen.«

»Sie haben es versucht, aber ohne Erfolg. Schauen Sie, Doktor, Sie haben angenommen, dass Sie es mit etwas zu tun haben – und zwar einer Leiche.«

»Bei allem Respekt, Dr. Ziewicz, das habe ich nicht. Ich habe jede Wunde untersucht und dabei insbesondere nach ersetzten Körperteilen gesucht. Aber jedes Teil passt zu den anderen. Sie gehören alle zusammen. Kein Teil stammt von einem anderen Leichnam.«

»So hat es den Anschein. Aber Sie haben keine vollständige Bestandsaufnahme gemacht.«

»Bestandsaufnahme?«

Ziewicz schob ihren mächtigen Leib zur zweiten Tragbahre, auf der saubergespülte Teile des Gesichts lagen. Sie zeigte auf ein kleines Stückchen Fleisch. »Was ist das?«

Pizzetti beugte sich vor und betrachtete es. »Ein Stück … Lippe, vermute ich.«

»Vermuten Sie.« Ziewicz nahm sich von einem Tablett eine lange Pinzette und hob den Körperteil ganz vorsichtig hoch. Dann legte sie ihn auf den Objektträger eines Stereo-Zoom-Mikroskops, schaltete das Licht ein und trat einen Schritt zurück, wobei sie Pizzetti aufforderte, einen Blick darauf zu werfen.

»Was sehen Sie da?«, frage Ziewicz.

Pizzetti blickte durchs Mikroskop. »Noch einmal: Es sieht aus wie ein Stück Lippe.«

»Sehen Sie da Knorpel?«

Eine Pause. Pizzetti stieß mit der Pinzette gegen das Stückchen Fleisch. »Ja, ein winziges Bruchstück.«

»Ich frage also noch einmal: Was ist das?«

»Also keine Lippe, sondern … ein Ohrläppchen. Das ist ein Ohrläppchen.«

»Sehr gut.«

Pizzetti richtete sich auf; ihre Gesichtszüge wirkten starr vor Anspannung. Ziewicz erwartete aber offenbar mehr, weshalb Pizzetti nach einem Moment zum Leichentisch ging und die beiden Ohren untersuchte, die wie blasse Muscheln auf dem Edelstahl lagen.

»Hm, ich sehe, dass beide Ohren vorhanden und unbeschädigt sind. Die Ohrläppchen fehlen nicht.« Pizzetti hielt inne. Nach kurzem Zögern ging sie wieder zurück zum Zoom-Mikroskop und blickte noch einmal durch die Okulare, während sie das Ohrläppchen mit der Pinzette drehte und wendete. »Ich bin mir nicht sicher, ob das hier zum Täter gehört.«

»Nein?«

»Dieses Ohrläppchen«, sagte Pizzetti mit Bedacht, »scheint nicht im Laufe eines Kampfes abgerissen oder abgeschnitten worden zu sein. Vielmehr wurde es vermutlich chirurgisch entfernt, und zwar sehr sorgfältig mit einem Skalpell.«

D’Agosta fiel ein kleines Detail aus den Überwachungsvideos ein, die er sich stundenlang angesehen hatte. Plötzlich spürte er eine Art Schock. Er räusperte sich. »Ich möchte hier zu Protokoll geben, dass die Überwachungsvideos darauf hindeuten, dass der Täter am linken Ohrläppchen einen kleinen Verband trug.«

»O mein Gott«, platzte Pizzetti in die jähe Stille, die dieser Aussage folgte. »Sie glauben doch nicht, dass er sich das eigene Ohrläppchen abgeschnitten und am Tatort zurückgelassen hat?«

Ziewicz lächelte ironisch. »Eine ausgezeichnete Frage, Doktor.«

Ein langes Schweigen senkte sich über den Raum. Schließlich sagte Pizzetti: »Ich werde eine komplette Analyse des Ohrläppchens anordnen: Mikroskopie, Toxikologie-Test, DNA, das volle Programm.«

Dr. Ziewiczs Lächeln wurde breiter, sie streifte die Handschuhe ab, zog ihren Mundschutz herunter und warf beides in den Abfalleimer. »Sehr gut, Dr. Pizzetti. Sie haben sich rehabilitiert. Meine Damen und Herren, Ihnen allen noch einen guten Tag.«

Und damit verließ sie den Raum.

Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
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