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Auf den ersten Blick ähnelte die Bibliothek im Mount Mercy Hospital für psychisch kranke Straftäter dem typischen Leseraum eines Herrenclubs: dunkles, poliertes Holz, barocke Einrichtung, diskrete Beleuchtung. Bei näherer Betrachtung kamen jedoch gewisse einzigartige Unterschiede zum Vorschein. Die Lehnstühle und Refektoriumstische aus Holz waren am Boden festgeschraubt. Keine scharfen Gegenstände oder schwere, stumpfe Gebrauchsgegenstände waren zu sehen. Aus den Zeitschriften, in denen die Insassen blätterten, waren sämtliche Klammern entfernt worden. Und neben der einzigen Tür zum Raum stand ein muskelbepackter Pfleger in Uniform.
Dr. John Felder saß an einem kleinen runden Tisch in einer der gegenüberliegenden Ecken der Bibliothek. Sichtlich nervös spielte er mit seinen Händen herum.
Am Eingang war Bewegung zu sehen. Er warf einen schnellen Blick dorthin. Constance Greene stand in der Tür, begleitet von einem Wächter. Sie blickte sich um, sah ihn und kam herüber. Sie war züchtig gekleidet, trug einen weißen Plisseerock und dazu eine Bluse in einem ganz hellen Lavendelton. In der einen Hand hielt sie einen Brief, in der anderen einen Luftpostbriefumschlag.
»Dr. Felder«, sagte sie in ihrem höflichen, altmodischen Tonfall, als sie ihm gegenüber Platz nahm. Sie schob den Brief in den Briefumschlag und legte ihn mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch, aber erst, nachdem Felder gesehen hatte, dass auf dem Briefbogen nur ein einziges Wort stand. Es war in einer seltsamen Schrift geschrieben, Sanskrit oder Marathi oder etwas Ähnliches.
Er blickte vom Brief zu Constance. »Danke, dass Sie mich empfangen«, erwiderte er.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie so bald wiederkommen.«
»Ich auch nicht. Ich bitte um Verzeihung. Der Grund ist …« Er hielt inne und sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihrem Gespräch lauschte. Obwohl beruhigt, senkte er die Stimme. »Constance, ich finde es sehr schwierig, mit meiner Arbeit fortzufahren, wenn ich weiß … dass Sie mir nicht vertrauen.«
»Ich verstehe nicht, warum Sie verärgert sind. Ich bin doch nur eine ehemalige Patientin von Ihnen – zweifellos eine von vielen.«
»Ich würde gern einen Weg finden, wie ich die Sache wiedergutmachen kann.« Felder war es nicht gewohnt, über Gefühle zu reden, vor allem vor einer Patientin, und spürte, wie er vor Verlegenheit und Scham rot wurde. »Ich rechne nicht damit, Sie in Zukunft zu behandeln … ich respektiere Ihre Wünsche in dieser Hinsicht. Es ist nur, dass ich wünschte … nun ja, dass ich das Geschehene … mein Tun irgendwie wettmachen könnte. Wiedergutmachen. Damit Sie mir wieder vertrauen können.«
Die letzten Worte waren nur so aus ihm herausgesprudelt. Constance sah ihn an. Kühl, taxierend sah sie ihn mit ihren veilchenblauen Augen an. »Warum ist Ihnen das wichtig, Dr. Felder?«
»Ich …« Er merkte, dass er den Grund, streng genommen, nicht kannte. Beziehungsweise seine Gefühle nicht genau genug analysiert hatte.
Einen langen Augenblick war es still am Tisch. Dann sagte Constance: »Vor einiger Zeit haben Sie mir gesagt, Sie glaubten, ich sei in Wirklichkeit in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Water Street geboren worden.«
»Das habe ich einmal gesagt, ja.«
»Glauben Sie das immer noch?«
»Es … es ist so bizarr, so schwer zu begreifen. Und doch habe ich nichts gefunden, um Ihnen widersprechen zu können. Ich bin sogar auf unabhängige Nachweise gestoßen, die das von Ihnen Gesagte belegen. Außerdem weiß ich, dass Sie keine Lügnerin sind. Und wenn ich die klinischen Fragen untersuche – sie mir wirklich genau ansehe –, frage ich mich, ob Sie tatsächlich unter einer Psychose leiden. Mag sein, dass Sie mit emotionalen Problemen belastet sind, gewiss, und in Ihrer Vergangenheit gibt es sicherlich ein Trauma, das Sie bis heute verfolgt. Aber ich glaube einfach nicht, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden. Und ich bezweifle sogar zunehmend, dass Sie Ihr Kind über Bord geworfen haben. Ihr Brief an Pendergast schien darauf hinzudeuten, dass das Baby noch am Leben ist. Ich habe das Gefühl, dass hier etwas vor sich geht, ein Komplott oder vielleicht ein größerer Plan, der erst noch aufgedeckt werden muss.«
Als sie nichts entgegnete, fuhr er fort: »Alles natürlich nur Indizien – aber doch sehr überzeugende. Und dann ist da noch das hier.« Er zog seine Brieftasche hervor, klappte sie auf und zog ein kleines Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander und reichte es Constance. Es war die Fotokopie eines Kupferstichs aus einer alten Zeitung, der eine städtische Szene mit Kindern mit schmutzigen Gesichtern zeigte, die in einer Wohnstraße Stickball spielten. Ein wenig abseits stand ein weiteres Mädchen, dünn und verängstigt, mit einem Besen in der Hand. Sie hatte eine beinahe fotografische Ähnlichkeit mit einer jungen Constance Greene.
»Der Kupferstich stammt aus dem New-York Inquirer, Jahrgang achtzehnhundertneunundsiebzig«, sagte Felder. »Der Titel lautet Straßenkinder beim Spielen.«
Lange betrachtete Constance den Kupferstich. Dann strich sie sanft, geradezu liebevoll mit den Fingerspitzen darüber, bevor sie das Blatt wieder zusammenfaltete und Felder zurückgab. »Sie bewahren das in Ihrer Brieftasche auf, Dr. Felder?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich, ähm, konsultiere es von Zeit zu Zeit. Versuche, das Geheimnis zu entschlüsseln, nehme ich an.«
Constance musterte ihn weiter. Er bildete es sich vielleicht nur ein, aber Felder fand, dass der Ausdruck in ihren Augen ein wenig sanfter geworden war. Nach einem weiteren Moment ergriff sie das Wort.
»Damals, als der Kupferstich gemacht wurde, wurden Zeitungsillustrationen von Künstlern angefertigt. Sie fertigten Bleistift-und-Tusche-Zeichnungen an, Bleistiftskizzen, Kohlezeichnungen – was immer –, von Dingen, die sie für interessant oder berichtenswert hielten. Und dann reichten sie ihre Werke bei der Zeitung ein, wo professionelle Kupferstecher sie in einer Form reproduzierten, die gedruckt werden konnte.« Mit einem Nicken deutete sie in Richtung des gefalteten Blatts, das Felder immer noch in der Hand hielt. »Ich erinnere mich, wann diese Zeichnung angefertigt wurde. Der Künstler illustrierte eine Reihe von Artikeln über die Wohnbezirke in New York. Er hat diese Skizze angefertigt und mich dann – ich nehme an, mein Aussehen hat ihn für mich eingenommen – gefragt, ob er mein Porträt zeichnen dürfe. Meine Eltern waren bereits verstorben, deshalb hat er meine ältere Schwester gefragt. Sie willigte ein. Als die Arbeit fertig war, hat er ihr als Bezahlung seine vorläufigen Bleistiftskizzen geschenkt.«
»Wo sind die Studien?«, fragte Felder begierig.
»Längst verschwunden. Aber aus Dankbarkeit hat ihm meine Schwester eine Locke meines Haars geschenkt. Dass man Haarlocken verschenkte, war damals sehr verbreitet. Ich erinnere mich noch, dass der Künstler die Locke in ein kleines Kuvert steckte und in die Innenseite seines Mappendeckels klebte.« Sie machte eine Pause. »Der Künstler hieß Alexander Wintour. Wenn wir seine Mappe finden könnten, dann könnte sich die Locke doch immer noch darin befinden. Was jedoch, wie ich zugebe, reine Spekulation ist. Aber wenn Sie die Mappe finden könnten, und sie wäre noch vollständig, dann würde ein einfacher DNA-Test beweisen, was ich sage: dass ich fast anderthalb Jahrhunderte alt bin.«
»Ja«, murmelte Felder kopfschüttelnd. »Das wäre der Beweis.« Er notierte sich den Namen des Künstlers auf der Rückseite der Fotokopie, faltete sie und legte sie zurück in seine Brieftasche. »Nochmals vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben, Constance.« Er stand auf.
»Gern geschehen, Dr. Felder.«
Er schüttelte ihr die Hand und verließ die Bibliothek. Zum ersten Mal seit Tagen spürte er ein Federn in seinem Schritt, hatte er das Gefühl von erneuerter Kraft in seinen Beinen.
Dann aber, auf der Vordertreppe des Mount Mercy, blieb er kurz stehen.
Warum tat Constance das? Die Meinung der Leute war ihr doch, wie ihm schien, immer äußerst gleichgültig gewesen. Etwas hatte sich verändert.
Aber was? Und warum?