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Mit gemächlichen Schritten ging Kyoko Ishimura den Flur entlang und fegte den blankpolierten Holzdielenboden vor sich mit einem traditionellen Hanfbesen. Der Flur war zwar schon makellos sauber, aber Miss Ishimura fegte ihn aus langjähriger Gewohnheit trotzdem, tagaus, tagein. In der Wohnung – drei Wohnungen im Grunde, die der Eigentümer zu einer zusammengelegt hatte – herrschte eine friedliche, wohltuende Stille. Hier oben, fünf Stockwerke über der Straße, drang der Verkehrslärm auf der West 72nd Street kaum durch die dicken Mauern.
Nachdem sie den Besen in die nahegelegene kleine Kammer zurückgestellt hatte, nahm sie ein Staubtuch, ging ein paar Schritte weiter den Flur entlang und betrat ein kleines Zimmer mit Täbris- und Isfahan-Teppichen auf dem Boden und einer alten Kassettendecke darüber. Der Raum war voller wunderschön gebundener illuminierter Handschriften und Inkunabeln, die in Mahagonibücherschränken hinter Bleiglas standen. Miss Ishimura putzte erst die Bücherschränke, dann die Glasscheiben und schließlich, mit einem separaten Spezialtuch, die Bücher selbst, wobei sie ganz vorsichtig über die gerippten Buchrücken und den Kopfgoldschnitt wischte. Auch die Bücher waren bereits sauber, aber sie staubte trotzdem jedes einzelne ab. Das lag nicht nur an der Macht der Gewohnheit, denn wenn Miss Ishimura sich wegen etwas sorgte, fand sie Trost im Reinemachen.
Seit ihr Arbeitgeber vor vier Tagen ohne Vorankündigung zurückgekehrt war, führte er sich eigenartig auf. Er war ohnehin ein seltsamer Kauz, aber dieses ihr bislang unbekannte Verhalten fand sie über alle Maßen beunruhigend. Er verbrachte seine Tage in der riesengroßen Wohnung, bekleidet mit einem Seidenpyjama und einem seiner englischen Hausmäntel, sagte kein Wort, starrte stundenlang in den Marmor-Wasserfall im Gesellschaftsraum oder saß den größten Teil des Tages starr und reglos in seinem Zen-Garten. Er las keine Zeitungen mehr, ging nicht mehr ans Telefon, hatte aufgehört, auf irgendeine Art zu kommunizieren, sogar mit ihr.
Und er aß nicht – nichts. Sie hatte versucht, ihn mit seinen Lieblingsspeisen zu verführen – Mozuku, Shiokara –, aber er hatte nichts davon angerührt. Noch beunruhigender war: Er hatte angefangen, Tabletten einzunehmen. Heimlich hatte sie die Namen auf den Pillenfläschchen gelesen – Dilaudid und Levorphanol –, hatte im Internet recherchiert und erschrocken festgestellt, dass es sich um wirkungsstarke Narkosemittel handelte, die er allem Anschein nach in immer größeren Mengen missbräuchlich einnahm.
Zunächst war es ihr so vorgekommen, als sei er in einer tiefen, nahezu unvorstellbaren Trauer gefangen. Doch im Laufe der Tage schien er auch körperlich zusammenzubrechen, seine Haut wurde fahl, seine Wangen waren eingefallen, seine Augen blickten dunkel und leer. Und während er zusehends in Schweigen und Apathie versank, spürte sie, dass er nicht trauerte, sondern kein Gefühl mehr in ihm übrig war. Es schien, als habe ein furchtbares Erlebnis alle Gefühle in ihm ausgelöscht, ihn ausgehöhlt und als vertrocknete, aschgraue Hülle zurückgelassen.
Neben der Tür ging eine kleine LED-Leuchte an – für Miss Ishimura, die taubstumm war, das Zeichen, dass das Telefon klingelte. Sie ging zu einem Ecktisch, auf dem ein Telefon stand, und betrachtete die Nummer des Anrufers. Lieutenant D’Agosta, der Polizist. Er rief schon wieder an.
Sie starrte auf das klingelnde Telefon. Dann nahm sie, einem Impuls folgend, trotz ausdrücklichen Verbots ab. Sie legte den Hörer in eines des Teletype-Geräte, die sie benutzte, und tippte eine Nachricht: Bitte warten Sie. Ich werde ihn rufen.
Sie verließ das Zimmer und schritt über den langen Flur, bog, als dieser eine scharfe Biegung machte, ab und ging einen weiteren Flur entlang, dann blieb sie stehen und klopfte leise an eine shoji – eine Reispapier-Trennwand, die als Tür diente –, zog sie nach einem Augenblick auf und trat ein.
In dem Raum stand eine große japanische ofuro-Badewanne aus hellem Hinoki-Holz. Agent Pendergast lag in der Wanne, lediglich der Kopf und die schmalen Schultern ragten aus dem dampfenden Wasser. Hinter ihm standen in Reih und Glied Tablettenfläschchen und Flaschen französischen Mineralwassers. Nackt schockierte seine äußere Erscheinung sie noch mehr: Das Gesicht war furchtbar ausgezehrt, die blassen Augen waren trüb und blutunterlaufen. Auf dem breiten Wannenrand lag, neben einem schweren, glänzenden Rasiermesser, ein Exemplar der Vier Quartette von T. S. Eliot. Sie hatte gesehen, wie er im Badezimmer das Rasiermesser geistesabwesend gestriegelt hatte, manchmal stundenlang, bis die Klinge ausgesprochen gefährlich funkelte. Das Badewasser war leicht rosafarben getönt – wahrscheinlich war sein Wundverband am Bein wieder undicht. Er hatte nichts dagegen unternommen, trotz ihrer dringenden Bitten.
Sie reichte ihm einen Zettel: Lieutenant D’Agosta.
Pendergast blickte sie nur an.
Sie hielt ihm das Telefon hin und sagte lautlos: Dozo.
Er sagte immer noch nichts.
Dozo, sagte sie noch einmal lautlos, mit Nachdruck.
Endlich sagte er, sie solle die Freisprecheinrichtung in der Wand einschalten. Sie tat es, dann trat sie ehrfürchtig einen Schritt zurück. Sie hörte nichts, konnte aber absolut fehlerfrei von den Lippen lesen. Und sie hatte nicht die Absicht zu gehen.
»Hallo?«, ertönte die Stimme blechern und dünn durch die Freisprechanlage. »Hallo? Pendergast?«
»Vincent«, antwortete Pendergast mit leiser Stimme.
»Pendergast! Wo haben Sie denn gesteckt? Ich versuche schon seit Tagen, Sie zu erreichen.«
Pendergast sagte nichts, sondern lehnte sich nur weiter in der Wanne zurück.
»Was ist passiert? Wo steckt Helen?«
»Helen ist ermordet worden«, antwortete Pendergast mit tonloser, ausdrucksloser Stimme.
»Wie bitte? Was soll das heißen? Wann?«
»In Mexiko. Ich habe sie begraben. In der Wüste.«
Hörbares Seufzen, dem ein kurzes Schweigen folgte, dann meldete sich D’Agosta wieder zu Wort: »O verdammt. Verdammt. Wer hat sie umgebracht?«
»Die Nazis. Mit einem Schuss ins Herz. Aus kürzester Distanz.«
»O mein Gott. Es tut mir leid, so leid. Haben Sie … sie gekriegt?«
»Einer ist entkommen.«
»Okay. Wir schnappen uns den Dreckskerl. Zerren ihn vor Gericht …«
»Und warum?«
»Warum, was meinen Sie damit: warum?«
Agent Pendergast blickte auf, sah Miss Ishimura an und bedeutete ihr mir einer kleinen Drehung des rechten Ringfingers, die Freisprecheinrichtung auszuschalten. Die Haushälterin – die ihm während des kurzen Gesprächs genau auf die Lippen geschaut hatte – trat nach kurzem Zögern vor, drückte den Aus-Knopf und machte einige Schritte rückwärts über den Schieferboden des Badezimmers. Und dann schloss sie ganz leise die shoji und ließ Pendergast wieder allein.
Nun wusste sie, worin das Problem bestand. Aber das half ihr gar nicht. Ganz und gar nicht.