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Pendergast steuerte das Boot längsseits an einen Pier, sprang heraus und lief über den Kai. Mehrere Angehörige der Zwillingsbrigade waren dort, sie bewachten die Hafenanlagen und starrten ungläubig auf die endgültige Zerstörung der Insel. Das Chaos nach der letzten, fürchterlichen Detonation hatte sich gelegt, und im Feuerschein der explodierenden Insel konnte er sehen, dass ein halbes Dutzend Boote verschiedener Größe der finalen Feuersbrunst entkommen waren und über den See auf die Stadt zusteuerten. Während er zusah, näherte sich ein kleines, schnittiges Boot dem Kai mit hoher Geschwindigkeit. Laut dröhnend fuhr es heran, knallte dabei gegen die Kaimauer, und die Insassen kletterten an Land. Sie waren benommen, hatten einen glasigen Blick, versengtes Haar und versengte Augenbrauen, waren dreckig von Ruß, husteten und würgten. Taumelnd liefen sie den Kai entlang in Richtung Stadt und sprachen kein Wort. Die Zwillingsbrigade beobachtete, wie sie an ihnen vorbeigingen, hielt sie aber nicht auf. Stattdessen richteten sie ihre Waffen gegen ein zweites ankommendes Boot, in dem sich ein halbes Dutzend Männer in SS-Kluft befanden. Auch sie hatten unter den Auswirkungen der Explosion gelitten, ihre Gesichter waren geschwärzt, die Uniformen angesengt. Einige schienen verletzt zu sein.
Während sich das Boot dem Kai näherte, ging die Brigade in Stellung und eröffnete das Feuer. Eine Minute lang wurde das Feuer von den Nazis im Boot sporadisch erwidert, aber der Schusswechsel war fast so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Die Nazis warfen ihre Waffen weg und hoben die Hände zum Zeichen der Kapitulation, während das Boot im Leerlauf an den Kai glitt. Eine Abordnung der Zwillinge führte die Männer ab.
Pendergast blickte zurück über den See. Seine schwarze Oberfläche war jetzt ein feuriges Spiegelbild der Insel, ein klaffender Kegel kochender Lava, nur wenige kaputte Befestigungen verblieben an den Rändern. Ein kleines Boot war zu sehen, raste über das Wasser und steuerte in schiefem Winkel auf den Kai zu, wobei es so weit wie möglich dem Licht der lodernden Flammen auswich. Pendergast sah es sich genauer an. Ein einzelner Mann saß im Heck, die eine Hand am Steuerhebel des Außenbordmotors. Er war großgewachsen, kräftig gebaut, mit einem dichten Schopf weißer Haare, der im brennenden Widerschein der zerstörten Festung zu leuchten schien.
Fischer.
Pendergast zog seine Waffe und lief den Kai entlang in Richtung des herankommenden Boots. Aber noch während er dies tat, erblickte Fischer ihn, gab Gas, schwenkte scharf weg vom Kai und steuerte daran vorbei auf den Strand und den dahinterliegenden Wald zu. Pendergast gab einen Schuss ab und verfehlte sein Ziel. Auch Fischer zog die Waffe und erwiderte das Feuer, aber aus dem fahrenden Boot ging der Schuss ins Leere. Pendergast blieb stehen und zielte sorgfältig, diesmal jagte er eine Kugel in den Außenbordmotor, der zu spucken und zu stottern begann, während Wölkchen stinkenden schwarzen Qualms in die von Asche erfüllte Luft aufstiegen. Fischer versuchte, das Boot wieder vom Land wegzusteuern, auf die Seemitte zu, aber Pendergast schoss ein drittes Mal. Fischer taumelte, griff sich an die Brust und stürzte mit einem Aufschrei über das Dollbord ins Wasser.
Das brennende Boot trieb weiter, während Pendergast über das Ende des Kais hinauslief, zum Kieselstrand gegenüber der Stelle, wo Fischer ins Wasser gefallen war. Als er die Formation der drei großen getrennten Felsen sah, die unmittelbar hinter dem Kai aus dem Wasser ragten, sprang er auf den nächstgelegenen und suchte das dunkle Wasser nach irgendwelchen Anzeichen seines Feindes ab.
Ein Schuss ertönte. Pendergast spürte, wie ein scharfes, brennendes Gefühl, ähnlich dem Schnitt eines Messers, seinen linken Arm unmittelbar unter der Messerwunde streifte. Er fiel rücklings auf den glitschigen Felsen, wobei er es kaum schaffte, seine Waffe in der Hand zu behalten, und verfluchte sich wegen seiner mangelnden Vorsicht. Als er imstande war, in Deckung zu gehen und das Gelände auszuspähen, wurde ihm klar, dass Fischer hinter einem der zwei anderen Felsen in Deckung gegangen sein musste; dem, der am weitesten im See lag.
Fischers Kugel hatte den Arm kaum gestreift, aber trotzdem spürte Pendergast, wie das warme Blut seinen Ellbogen hinunterrann.
Fischers Stimme erklang hinter dem Felsen. »Anscheinend habe ich Sie unterschätzt. Es ist Ihnen gelungen, ein ziemliches Chaos anzurichten. Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich werde Sie töten.«
»Einer von uns wird sterben, aber ich werde es nicht sein. Ich bin bewaffnet und unverletzt. Der kleine Sturz über Bord war nur Schau, wie Sie vielleicht erraten haben.«
»Sie haben meine Frau getötet. Sie müssen sterben.«
»Sie gehörte uns, niemals Ihnen. Sie war unsere Schöpfung. Teil unseres großen Projekts.«
»Ihr Projekt ist tot. Ihre Labors, Ihre Operationsbasen sind zerstört. Selbst Ihre Probanden haben sich gegen Sie gewendet.«
»Mag sein. Aber nichts wird unseren Traum töten – den Traum, die menschliche Rasse zu vervollkommnen. Es ist das größte, das ultimative wissenschaftliche Streben. Wenn Sie glauben, dass dies hier das Ende ist, dann haben Sie sich leider getäuscht.«
»Ich fürchte sehr, dass Sie der Getäuschte sind, mein Oberst-Gruppenführer«, erklang eine Stimme hinter Pendergast. Er drehte sich um und sah Alban, der ihnen aus dem Wald entgegenkam. Er war tropfnass, sein Hemd blutverschmiert, und eine Seite seines einstmals schönen Gesichts war entsetzlich verbrannt, rosa und aufs furchtbarste verkohlt, die Lederhaut an einigen Stellen angekokelt, an anderen zeigten sich die Muskeln, ja sogar die Knochen. Er hielt seine P38 in der Hand.
Behende sprang Alban auf den dritten Felsen und stand da, umrissen von der brennenden Insel. Obwohl er verbrannt und verletzt war, bewegte er sich mit der gleichen gazellenhaften Anmut, die Pendergast schon so oft aufgefallen war.
»Ich habe nach Ihnen gesucht, Herr Fischer. Ich wollte Ihnen berichten, dass die Dinge nicht genau so gelaufen sind, wie Sie geplant hatten.« Mit einem Nicken deutete er in Richtung der brennenden Hülle der Insel. »Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben.«
Im Sprechen warf er die Pistole von einer Hand in die andere und stieß ein seltsames Kichern aus. Eine exzentrische Laune schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. »Kommt mal beide hinter den Felsen hervor, hinter denen ihr euch versteckt, steht auf und schaut einander ins Gesicht wie richtige Männer. Das Endspiel wird ein ehrenhaftes sein – stimmt’s, Herr Fischer?«
Fischer reagierte als Erster. Wortlos kletterte er auf den Felsen und blieb dort stehen. Kurz darauf tat Pendergast das Gleiche. In den infernalisch orangefarbenen Schein getaucht, sahen sie einander an.
In verbittertem Ton sagte Fischer zu Alban: »Ich gebe dir die Schuld an dieser Sache, mehr noch als deinem Vater. Du hast mich enttäuscht, Alban. Ganz und gar. Nach allem, was ich für dich getan habe, nach Generationen der genetischen Pflege und Perfektionierung, nach fünfzehn Jahren der anspruchsvollsten und sorgfältigsten Erziehung führst du dich so auf.« Er spuckte ins Wasser.
»Und wie habe ich Sie enttäuscht, Herr Fischer?« In Albans Stimme lag ein seltsamer, neuer Klang.
»Du hast bei der finalen Probe deiner Männlichkeit versagt. Du hattest viele Gelegenheiten, diesen Mann, deinen Vater, zu töten, und hast es nicht getan. Darum wird die Blüte deiner Jugend, der Same, der das Neue Reich säen sollte, verstreut. Ich sollte dich abknallen wie einen Hund.« Fischers Waffe schwenkte kurz in Albans Richtung.
»Warten Sie, mein Oberst-Gruppenführer. Ich kann meinen Vater immer noch töten. Ich mache das jetzt gleich. Schauen Sie mir zu. Erlauben Sie mir, ihn zu erschießen.« Alban hob seine Waffe und zielte damit auf Pendergast.
Einen langen, eisigen Augenblick standen die drei Männer da, Endpunkte eines Dreiecks, jeder auf einem der drei Felsen, die aus dem See ragten. Albans Waffe war auf Pendergast gerichtet. Pendergast schwenkte seine weg von Fischer und richtete sie auf seinen Sohn.
Quälend lange Minuten stand Alban da, die beiden richteten ihre Waffen aufeinander, getaucht in den höllischen Lichtschein vor dem Hintergrund der donnernden Eruptionen auf der Insel, dem Geräusch sporadischer Schüsse in der Stadt.
»Also?«, sagte Fischer schließlich. »Worauf wartest du noch? Es ist, wie ich vermutet habe. Du hast nicht den Mumm zu schießen.«
»Meinen Sie?«, sagte Alban. Plötzlich und schnell wie eine zupackende Schlange schwenkte er seine Waffe zu Fischer herum und drückte ab. Die Kugel traf Fischer in die Brust. Er keuchte, fasste sich an den Bauch und sackte auf die Knie; dabei ließ er die Waffe fallen.
»Sie sind der Versager«, sagte Alban. »Ihr Plan war fehlerhaft – fundamental fehlerhaft. Niemals hätten Sie den Schwächlingen erlauben dürfen zu überleben. Das erkenne ich jetzt. Rückgriff auf eine Organbank zu haben, das war ein zu hoher Preis für die Vater-Sohn-Bindung, die Sie niemals herauszuzüchten vermocht haben. Sie haben mich im Stich gelassen, mein Oberst-Gruppenführer – und vor langer Zeit haben Sie mich gelehrt, was der Preis für Versagen sein muss.«
Wieder zielte er mit der Waffe und schoss noch einmal auf Fischer, diesmal mitten in die Stirn. Die Rückseite von Fischers Schädel löste sich vom Körper, verwandelte sich in einen Nebel aus Blut, Knochen und Hirnmasse. Lautlos fiel er nach hinten, seine Leiche glitt vom Felsen und verschwand unter der Oberfläche des Sees.
Pendergast sah, dass der Schlitten der P38 eingerastet war – das Magazin seines Sohnes war leer.
Auch Alban hatte das bemerkt. »Wie’s aussieht, ist mir die Munition ausgegangen«, sagte er und steckte die Waffe hinter den Hosenbund. »Anscheinend werde ich dich doch nicht töten.« Obwohl es ihm furchtbare Schmerzen bereiten musste, lächelte er schief. »Und jetzt, wenn du mich bitte entschuldigst, muss ich los.«
Pendergast starrte Alban an, erst jetzt hatte er vollständig zu erfassen vermocht, was gerade geschehen war. Er fragte sich, wie sein Sohn trotz der schrecklichen Verbrennungen, den Wunden, dem Verlust von allem seine überhebliche Einstellung, sein anmaßendes Gebaren aufrechterhielt.
»Keine Worte des Abschieds an deinen Sohn?«
»Du wirst nirgends hingehen«, sagte Pendergast langsam und hielt seine Waffe weiter auf ihn gerichtet. »Du bist ein Mörder. Von der übelsten Art.«
Alban nickte. »Gewiss. Und ich habe mehr Menschen getötet, als selbst du dir vorstellen kannst.«
Pendergast hielt weiter die Waffe auf Alban gerichtet. »Und jetzt bist du es, der für seine Verbrechen sterben muss.«
»Ach ja?« Alban lachte auf. »Wir werden sehen. Ich weiß, du bist hinter meinen einzigartigen Zeitsinn gekommen. Nicht wahr?«
»Das Kopenhagener Fenster.«
»Genau. Das Konzept leitet sich von der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik her, die du ohne Zweifel kennst.«
Pendergast nickte beinahe unmerklich.
»Die Interpretation besteht in der Vorstellung, dass es sich bei der Zukunft um nichts weiter als eine sich vergrößernde Gruppe von Wahrscheinlichkeiten handelt, Zeitreihen der Möglichkeit, die sich beständig zu einer Wirklichkeit fügen, während Beobachtungen oder Messungen vorgenommen werden. Es handelt sich um die Standardinterpretation der Quantenmechanik, die an den Universitäten gelehrt wird.«
»Wie es scheint«, sagte Pendergast, »ist dein Geist irgendwie in die Lage versetzt worden, das zu verstärken – in die nahe Zukunft zu gelangen und diese sich verästelnden Möglichkeiten zu sehen.«
Alban lächelte. »Brillant! Siehst du, die meisten Menschen haben nur ein flüchtiges Gespür für die unmittelbar bevorstehende Zukunft, vielleicht ein paar Sekunden, höchstens. Man kann sehen, wie ein Auto auf ein Stoppschild zufährt, und spürt intuitiv die Wahrscheinlichkeit, dass es halten wird – oder auch weiterfährt. Oder man weiß vielleicht, was jemand sagen wird, Momente bevor er es sagt. Unsere Wissenschaftler haben den Nutzen dieser Eigenschaft vor über einem halben Jahrhundert erkannt und sich darangemacht, sie durch Züchtung und genetische Manipulation zu verstärken. Ich bin das Endprodukt.« In seinem Tonfall klang hörbar Stolz mit. »Mein Gespür für die sich verästelnden, wahrscheinlichen Zeitlinien ist sehr viel entwickelter als in anderen. Ich kann bis zu fünfzehn Sekunden in die Zukunft sehen, und mein Geist kann Dutzende sich verästelnde Wahrscheinlichkeiten erkennen – wie durch ein Fenster – und die wahrscheinlichste herauspicken. Das scheint nicht viel zu sein, aber was macht das für einen Unterschied! In gewisser Weise kann sich mein Hirn auf die Wellenfunktion selbst einstimmen. Aber es ist nicht das Gleiche wie die Zukunft vorherzusagen. Und wie du so scharfsinnig erkannt hast, kann meine Fähigkeit durch plötzliche, unlogische oder unvorhersehbare Verhaltensweisen eingeschränkt werden.« Sein Lächeln, das wegen der furchtbaren Verbrennungen grauslich aussah, wurde breiter. »Aber selbst ohne die Verwendung meines speziellen Zukunftssinns, Vater, weiß ich eines ohne den geringsten Zweifel: Du kannst mich nicht töten. Ich werde jetzt davongehen. In den Wald. Um mich aufzuhalten, musst du mich erschießen – und das wirst du nicht tun. Und deshalb: Auf Wiedersehen.«
»Sei kein Narr, Alban. Ich werde dich töten.«
Der Jugendliche breitete die Arme aus. »Ich warte.«
Ein langes Schweigen folgte, und dann sprach er fast fröhlich weiter. »Jetzt, wo der Bund verschwunden ist, bin ich frei. Ich bin erst fünfzehn und habe noch ein langes und produktives Leben vor mir. Die Welt liegt mir, wie man so sagt, zu Füßen – und ich verspreche dir, es wird ein interessanterer Ort sein, wenn ich mich frei darin bewege.«
Und damit sprang er behende von dem Felsen in das seichte Wasser.
Pendergast folgte ihm mit seiner Waffe. Blut tropfte langsam von den Fingern seiner linken Hand, während er zusah, wie Alban an den Strand watete und ihn entlangschlenderte. Pendergast blieb stehen, die Waffe noch immer auf seinen Sohn gerichtet, während der ohne Eile weiter zum grasbewachsenen Uferrand ging, die flache Böschung hinaufstieg, in ein Grasfeld schlenderte und schließlich mit der schwarzen Mauer aus Bäumen am Waldrand verschmolz. Erst jetzt senkte Pendergast ganz langsam seine Waffe mit zitternder Hand.