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Diesmal hatte Felder draußen vor dem Fenster der Bibliothek über eine Stunde lang im Dunkeln gestanden, in der eiskalten Nacht, angespannt und ängstlich. Das Haus wirkte wie ausgestorben: kein Licht, keine Bewegungen. Und vor allem: kein Dukchuck. Schließlich war er beruhigt, versuchte, nicht den Mut zu verlieren, öffnete das Fenster und stieg ein.
Das Fenster ließ er offen, für den Fall, dass er schnell fliehen musste. Einen langen Augenblick stand er reglos in der kühlen Luft und lauschte. Nichts. Genau so, wie er gehofft hatte.
Alle nötigen Vorkehrungen waren getroffen. In den vergangenen Nächten hatte er die Bibliothek im Auge behalten und aus der Sicherheit im Gebüsch überwacht. Alles war still gewesen. Die mitternächtliche Fast-Begegnung mit Dukchuck musste ein irrer Zufall gewesen sein, denn der Mann schien nicht die Gewohnheit zu haben, des Nachts im Haus umherzustreifen. Am gestrigen Nachmittag hatte Miss Wintour ihn noch einmal zum Tee gebeten, und weder sie noch ihr furchteinflößender Diener hatten auch nur den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass etwas nicht stimmte. Sie ahnten nichts, schien es.
Aber er konnte nicht ewig warten, das wusste Felder. Heute Nacht musste er handeln. Wenn er die Sache noch länger hinauszögerte, würde er seinen Mut völlig verlieren. Unter den gegebenen Umständen kamen ihm Constance und das Mount Mercy allmählich weit, weit weg vor.
Er ging an den Reihen der Bücherschränke entlang und tastete sich im Dunkeln vor, indem er über das geriffelte Bleiglas der Türen strich. Die Ws müssten am Ende der Sammlung stehen, so dass Alexander Wintours Mappe nahe der Kassettentür stehen würde, die hinaus zum Hauptflur führte. Zu seiner Erleichterung war die Tür fest verschlossen.
Vor dem vorletzten Bücherschrank blieb Felder stehen und horchte, aber im Haus war es so still wie zuvor. Er zog die Taschenlampe aus seiner Tasche, schirmte sie sorgfältig ab und richtete den Lichtschein kurz über die vor ihm befindlichen Bücher. Trapp. Traven. Tremaine.
Er knipste die Taschenlampe aus und ging zum nächsten und letzten Bücherschrank weiter. Erneut zögerte er und lauschte auf das geringste Geräusch. Dann hob er die Lampe und leuchtete damit auf die oberen Regale. Voltaire, in sieben wunderschön gebundenen Lederbänden – und daneben ein halbes Dutzend Bündel von etwas, das wie gefaltetes Pergament aussah, zusammengehalten von bröseligen karmesinroten Kordeln.
Er ließ die Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf das nächste Regal, dann das nächste, und dann ließ er ihn schräg über die Titel gleiten. Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray. P. G. Woodhouse’ My Man Jeeves. Beides anscheinend Erstausgaben. Und zwischen ihnen drei dicke Mappen aus schwarzem Leder, schlicht und abgewetzt, ohne Titel oder Beschriftung.
Felders Herz begann ziemlich schnell zu schlagen.
Während er die Taschenlampe zwischen den Zähnen hielt, öffnete er die Glastür und zog die erste Mappe behutsam vom Regal. Sie war staubbedeckt und sah aus, als wäre sie in hundert Jahren nicht angefasst worden. Als er sie vorsichtig aufschlug, hatte er beinahe Angst zu atmen. Darin befanden sich Dutzende Blätter von etwas, bei dem es sich offenbar um rohe Skizzen und Vorstudien zu Gemälden handelte. Sie waren stockfleckig und verblasst und ähnelten im Stil stark jenen, die er in der Historischen Gesellschaft gesehen hatte.
Felders Atem ging schneller.
Mit zitternden Händen begann er in den Studien zu blättern. Die ersten waren unsigniert, aber die dritte trug in der unteren rechten Ecke eine Signatur: WINTOUR, 1881.
Schnell blätterte er nach hinten in der Mappe. Dort – innen am hinteren Deckel, mit einem schmalen Leimstrich befestigt – befand sich ein Briefumschlag, brüchig und vergilbt. Er holte das Skalpell aus seiner Tasche und schnitt den Umschlag los. Seine Finger waren so taub und ungelenk, dass er zwei Versuche benötigte, um das Kuvert zu öffnen.
Darin befand sich eine kleine Locke dunklen Haars.
Einen Augenblick lang starrte er wie gebannt darauf, mit einer seltsamen Mischung der Gefühle: Triumph, Erleichterung, ein wenig Skepsis. Also stimmte es – es war alles wahr.
Aber halt – war das denn das richtige Haar? Es gab ja noch zwei weitere Mappen. Hatte Wintour womöglich auch Haarlocken von anderen Mädchen gesammelt? Das kam ihm zwar unwahrscheinlich vor, aber er musste es überprüfen.
Felder steckte den Umschlag ein und legte die Mappe zurück aufs Regal, zog die nächste Mappe herunter und sah sie schnell durch. Weitere Skizzen und Aquarelle. Er spürte, wie sein Atem vor Angst schneller ging, er wollte die Sache endlich hinter sich bringen. Hier drin war keine Locke. Er schob die Mappe zurück ins Regal und nahm die dritte herunter, blätterte rasch darin, wobei er in seiner Hast mehrere Seiten einriss. Wieder nichts. Er klappte die Mappe zu und schob sie zurück, aber in seiner Hast war er nicht so behutsam wie zuvor, so dass er ein dumpfes Geräusch verursachte, als er sie ganz bis zur Rückwand des Bücherschranks schob.
Er erstarrte, sein Herz klopfte. In der großen, kalten Stille des Hauses hallte der leise Laut wie ein Donnerschlag.
Felder wartete.
Aber in dem eiskalten Haus war es mucksmäuschenstill. Er spürte, wie er sich allmählich entspannte, seine Atmung sich verlangsamte. Kein Mensch hatte etwas gehört. Er war bloß paranoid.
Er tastete nach dem Briefumschlag in seiner Tasche, was ein trockenes, knisterndes Geräusch produzierte. Erst jetzt, als seine Angst nachließ, begriff er vollends, was seine Entdeckung bedeutete. Alle Zweifel waren verschwunden. Constance war tatsächlich hundertvierzig Jahre alt. Sie war gar nicht verrückt. Sie hatte von Anfang an die Wahrheit gesagt.
Seltsamerweise schockierte ihn diese Erkenntnis nicht so sehr, wie er gedacht hatte. Irgendwie wusste er bereits, dass es stimmte: wegen der ruhigen, sachlichen Art, mit der sie stets an ihrer Version der Geschichte festgehalten hatte; weil sie haarklein das zeitgenössische Aussehen der Water Street in den 1880er Jahren hatte schildern können; und weil sie einen grundehrlichen Charakter hatte. Tatsache war: Das hier wollte er glauben, weil …
Mit lautem Krachen öffnete sich die Kassettentür zur Bibliothek – und Dukchuck kam zum Vorschein. Gekleidet in seine formlose Batik-Robe, in der Hand dieselbe grausige Waffe, die Felder schon einmal gesehen hatte, starrte er ihn aus schwarzen Knopfaugen an.
Mit einem Schreckensschrei rannte Felder zum Fenster, aber Dukchuck war schneller. Mit langen Schritten lief er durch den Raum und knallte das Fenster zu. Dabei bewegte er sich derart leise, dass es beinahe furchterregender war als ein Schrei, und entblößte seine Zähne zu einem animalischen Grinsen. Und da fiel Felder auf, dass sie spitz zugeschliffen waren. Mit einem Aufschrei versuchte Felder, sich zu wehren, aber Dukchuck war auf ihm, ein tätowierter Arm schlang sich um seinen Hals und zog sich wie eine Garotte zu, was seinen Schrei erstickte.
Felder wehrte sich wie verrückt und spürte einen jähen, weißglühenden Ausbruch von Schmerz, als der Knüppel gewaltig seine Schläfe traf. Seine Knie knickten ein, Dukchuck schleuderte ihn zu Boden, versetzte ihm einen wüsten Hieb auf die Brust, der ihn zu Boden warf, wo Felder sich weiter wehrte, aber unfähig zu atmen.
Ein roter Nebel stieg vor seinen Augen auf, er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, und fasste sich an die Brust, bis er schließlich imstande war, nach Luft zu schnappen. Als der Nebel sich langsam verzog und sein Gesichtsfeld klarer wurde, sah er Dukchuck im schwachen Licht des Flurs über ihm stehen, die mächtigen tätowierten Unterarme verschränkt, die unnatürlich kleinen Augen wie Kohlen. Hinter ihm stand die kleine Gestalt von Miss Wintour.
»Also!«, sagte Miss Wintour. »Du hattest recht, Dukchuck. Dieser Mann ist nichts weiter als ein gewöhnlicher Dieb, hier unter dem Vorwand, ein Mieter zu sein!« Sie sah Felder wütend an. »Und wenn ich daran denke, welche Unverfrorenheit Sie besaßen, unter meinem Dach Tee mit mir zu trinken, meine Gastfreundschaft zu genießen, während Sie gleichzeitig planten, eine schwache, hilflose Frau wie mich ihrer mageren Besitztümer zu berauben. Sie hassenswerter Mann!«
»Bitte.« Felder versuchte, sich auf die Knie aufzusetzen. Sein Schädel dröhnte, seine Rippen waren gebrochen. Gleichzeitig schmeckte er diese metallische Mischung von Blut und Angst im Mund. »Bitte, ich habe nichts genommen. Ich war einfach nur neugierig. Ich wollte mich nur umschauen, ich habe ja so viel gehört …«
Er verstummte, als Dukchuck erneut drohend den Knüppel hob. Sie würde die Polizei rufen; er würde festgenommen werden; er würde im Gefängnis landen. Das wäre das Ende seiner Karriere. Was um alles in der Welt hatte er sich dabei gedacht?
Der Diener sah über die Schulter zu Miss Wintour; in seinem Blick lag unübersehbar die Frage: Was soll ich mit ihm machen?
Felder schluckte schwer. Das war’s. Sie würden die Polizei anrufen, und dann würden die ganzen Grässlichkeiten beginnen. Er könnte alles genauso gut hinnehmen. Und anfangen, sich eine überzeugende Geschichte auszudenken.
Miss Wintour funkelte ihn einen Augenblick länger an. Dann wandte sie sich zu Dukchuck um.
»Töte ihn«, sagte sie. »Und dann kannst du seine Überreste unter dem Boden des Rübenkellers begraben. Bei den anderen.« Sie wandte sich ab und verließ die Bibliothek, ohne sich noch einmal umzuschauen.