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Felder war noch nie in Southport, Connecticut, gewesen und stellte fest, dass ihm die Stadt unerwartet gut gefiel. Eine hübsche, ein wenig verschlafene Hafenstadt in dem ansonsten boomenden Fairfield County. Als er von der Pequot Avenue auf die Center Street bog, um ins historische Viertel zu gelangen, dachte er, dass man es sehr viel schlechter treffen könne, als in einem solchen Ort zu wohnen.
Die Stadt verströmte New-England-Atmosphäre in Reinkultur. Die Häuser waren überwiegend im Kolonialstil erbaut, dem Aussehen nach zu Beginn des 20. Jahrhunderts, waren komplett mit weißen Schindeln verschalt und hatten gepflegte, eingezäunte Grundstücke mit Baumbestand. Auch die Stadtbibliothek war beeindruckend – ein weitläufiges Natursteingebäude im neoromanischen Stil mit skurrilen Details. Der einzige Fleck auf der weißen Weste der Stadt schien eine ein paar Häuser von der Bibliothek entfernt gelegene alte Villa zu sein: ein verwahrloster Kasten im Queen-Anne-Stil, wie entsprungen aus der Addams Family mit seinen löchrigen Fensterläden, den losen Dachschindeln und dem Rasen voller Unkraut. Fehlte nur noch, dachte er sarkastisch im Vorbeifahren, ein grinsender Onkel Fester in einem der oberen Fenster.
Seine Laune stieg wieder, als er in den eigentlichen Ortskern kam. Er bog auf einen Parkplatz gegenüber dem Yachtclub, warf einen Blick auf eine handgeschriebene Notiz und überquerte federnden Schritts die Straße auf ein freundlich wirkendes, einstöckiges Fachwerkhaus mit Blick auf den Hafen zu.
Im Historischen Museum von Southport roch es angenehm nach alten Büchern und Möbelpolitur. Es war mit diversen gut erhaltenen Antiquitäten eingerichtet. Bis auf eine wohlfrisierte Frau in gewissem Alter – ebenfalls gut erhalten –, die in einem Schaukelstuhl saß und stickte, schien niemand da zu sein.
»Guten Tag. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Ja, durchaus. Hätten Sie etwas dagegen, mir einige Fragen zu beantworten?«
»Ich beantworte Ihnen gern alles, was ich kann. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Die Frau deutete auf einen Schaukelstuhl ihr gegenüber.
Felder setzte sich. »Ich forsche ein wenig über den Maler und Illustrator Alexander Wintour. Wie ich höre, stammt seine Familie hier aus der Gegend.«
Die Frau nickte. »Ja, das stimmt.«
»Ich interessiere mich für seine Arbeiten. Insbesondere seine Skizzenbücher. Ich wüsste gern, ob sie noch existieren und ob Sie mir einen Tipp geben könnten, wo ich meine Suche nach ihnen beginnen sollte.«
Behutsam legte die Frau sich die Stickereiarbeit auf den Schoß. »Nun, junger Mann, ich kann Ihnen mit einiger Sicherheit sagen, dass sie höchstwahrscheinlich wirklich existieren. Und ich weiß auch, wo Sie sie finden können.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Felder und spürte, wie ihn ein kurzer Schauer überlief. Die Sache gestaltete sich einfacher, als er gedacht hatte.
»Wir wissen hier eine ganze Menge über die Familie Wintour«, fuhr die Frau fort. »Alexander Wintour hat es nie ganz bis an die Spitze geschafft, könnte man sagen. Er war ein guter Illustrator mit einem guten Auge, aber nicht, was man einen echten Künstler nennen würde. Trotzdem sind seine Arbeiten in historischer Sicht interessant. Aber damit erzähle ich Ihnen sicherlich, was Sie schon wissen.« Sie lächelte freundlich.
»Nein, nein«, beeilte sich Felder, ihr zu versichern. »Bitte sprechen Sie weiter.«
»Was seine Familie angeht, hat der Sohn seines Bruders – sein Neffe – eine ausgezeichnete Partie gemacht. Er heiratete die Tochter eines örtlichen Schiffsmagnaten. Alexander, der nie geheiratet hat, zog aus dem Familienbungalow der Wintours an der Old South Road aus und in das sehr viel größere Haus seines Neffen in der Nähe.«
Felder nickte eifrig. »Erzählen Sie weiter.«
»Der Schiffsmagnat war ein begeisterter Sammler von literarischen Memorabilia – Bücher, Manuskripte, hin und wieder eine Lithographie und vor allem Briefe. Während seiner Reise durch Kalifornien im Jahr achtzehnhundertzweiundachtzig soll er die vollständige Sammlung von Albert Bierstadts Korrespondenz erworben haben, darunter auch Dutzende Skizzen. Es ist ihm auch gelungen, eine Reihe von Liebesbriefen zu erstehen, die Grover Cleveland an Frances Folsom schrieb, bevor sie seine Frau wurde – er war der einzige Präsident, der jemals im Weißen Haus geheiratet hat, wie Sie vielleicht wissen.«
»Nein, das habe ich nicht gewusst«, sagte Felder und beugte sich ein wenig weiter vor.
»Nun ja! Und dann sind da noch die Briefe, die Henry James an seinen Lektor bei Houghton Mifflin geschickt hat, als er am Bildnis einer Dame schrieb. Wirklich, eine äußerst beeindruckende Sammlung.« Sie faltete die Hände über ihrer Stickereiarbeit. »Wie auch immer, Alexander Wintour ist jung verstorben. Er hat nie geheiratet, und seine Schwester hat angeblich viel von seinem künstlerischen Werk geerbt, außer einer Sammlung von Gemälden, die, glaube ich, der New-York Historical Society gespendet wurde. Die Mappen und Notizbücher müssen wohl an ihren Sohn weitervererbt worden sein. Der Sohn und seine wohlhabende Frau hatten nur ein Kind – eine Tochter, Alexanders Großnichte. Sie lebt noch und wohnt hier in Southport. Wir hier im Museum hegen wenig Zweifel, dass sich Wintours Skizzenbücher noch immer in ihrer Bibliothek befinden, zusammen mit den Sammlungen der Briefe und Manuskripte ihres Großvaters. Natürlich würden wir diese liebend gern haben, aber …« Die Frau lächelte.
Felder presste die Hände vor lauter Aufregung fest zusammen. »Das sind wunderbare Nachrichten. Sagen Sie mir, wo diese Urgroßnichte wohnt, bitte, damit ich ihr einen Besuch abstatten kann.«
Das Lächeln der Frau erstarb. »Nun.« Sie zögerte kurz. »Also das ist ein bisschen ein Problem. Ich haben Ihnen keine unberechtigten Hoffnungen machen wollen.«
»Was meinen Sie damit?«
Wieder zögerte die Frau. »Ich sagte Ihnen ja, ich weiß, wo Sie die Skizzenbücher finden können. Aber nicht, dass Sie sie sehen können.«
Felder blickte sie ungläubig an. »Und warum nicht?«
»Miss Wintour – nun, ich möchte nicht drum herumreden, aber sie ist ein wenig seltsam, schon seit ihrer Kindheit. Geht nie aus, hat nie Gesellschaft, trifft sich mit niemandem. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie das Haus nicht mehr verlassen. Und ihr fürchterlicher Diener …« Die Frau schüttelte den Kopf. »Es ist ein Trauerspiel, wirklich, ihre Eltern waren solche Stützen der Gesellschaft.«
»Aber ihre Bibliothek –?«, begann Felder.
»Oh, viele Leute haben bereits versucht, Zutritt zu bekommen – Forscher und dergleichen, wissen Sie, vor allem die Briefe von Henry James und Grover Cleveland sind von historischer und literarischer Bedeutung –, aber sie hat alle abgewiesen. Jeden Einzelnen. Eine Delegation aus Harvard ist extra hierhergekommen, um sich die Bierstadt-Briefe anzusehen. Die haben ihr ein hübsches Sümmchen dafür geboten, sagen jedenfalls die Leute. Aber sie hat ihnen nicht einmal die Tür aufgemacht.« Die Frau beugte sich vor und tippte sich an die Schläfe. »Plemplem«, flüsterte sie vertraulich.
»Es gibt … gar nichts, was ich tun könnte? Die Angelegenheit ist schrecklich wichtig.«
»Offen gestanden, wäre es ein Wunder, wenn sie Sie ins Haus ließe. Ich sage das zwar nur höchst ungern, aber ich weiß von gar nicht so wenigen Forschern an anderen Universitäten, die nur«, sie senkte die Stimme, »darauf warten, dass sie nicht mehr unter uns ist und den Zutritt nicht mehr blockieren kann.«
Felder stand auf.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen konnte.«
Felder seufzte. »Ich bin den weiten Weg aus New York hergekommen. Solange ich hier bin, kann ich ja versuchen, Miss Wintour meine Aufwartung zu machen.«
Ein mitleidsvoller Ausdruck trat in das Gesicht der Frau.
»Können Sie mir bitte sagen, wo ich ihr Haus finden kann? Es kann doch nicht schaden, einmal bei ihr anzuklopfen, oder?«
»Es kann nicht schaden, aber ich an Ihrer Stelle würde mir keine Hoffnungen machen.«
»Das mache ich schon nicht. Wenn ich vielleicht die Adresse bekommen könnte –« Felder zog seine handgeschriebene Notiz aus der Tasche und wollte sich die Adresse notieren.
»Oh, die werden Sie nicht brauchen. Sie können das Haus gar nicht verfehlen. Die große Villa in der Center Street, nur etwas weiter die Straße herunter, hinter der Bibliothek.«
»Doch nicht … der alte Kasten?«, fragte Felder, dessen Stimmung noch tiefer sank.
»Genau der. Schrecklich, wie sie das Familienanwesen hat verkommen lassen. Ein echter Schandfleck in unserer Gemeinde. Wie gesagt, nicht wenige hier warten nur darauf …« Ihre Stimme verklang auf schickliche Weise, als sie sich wieder ihrer Stickerei zuwandte.