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Während Pendergast durch den Wald lief, war er sich völlig bewusst, dass Alban ihn verfolgte, obwohl hinter ihm alles still war. Und ohne Zweifel würde er ihn bald einholen.
Während er weiterhastete, analysierte er seine Erleuchtung von vorhin. Er glaubte, Albans ungewöhnliche Fähigkeit zu verstehen. Eine Eigenschaft, die er selbst und auch andere ebenfalls besaßen – aber nur verkümmert, schwach. In Alban war sie enorm verstärkt. Er musste nur aufpassen, wie er seine Erkenntnis einsetzte; er musste auf den richtigen Augenblick warten, durfte Alban nicht erkennen lassen, dass er sich seines speziellen Vorteils bewusst war: Er konnte es sich nicht leisten, das Überraschungsmoment zur falschen Zeit preiszugeben.
Er kam auf einen Saumpfad im Wald, der in die Richtung des Lagers der »Schwächlinge« führte. Mit äußerster Kraftanstrengung spurtete er auf dem Pfad entlang. Der Weg schlängelte sich in Serpentinen eine niedrige Anhöhe hinauf, nach ein paar hundert Metern gelangte er auf den Kamm des Kraters, der die Felder und das Lager umschloss. Er sprang auf der anderen Seite hinunter, ignorierte die Serpentinen und lief mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den steilen Hang in gerader Linie hinunter.
Er brach aus der Vegetation hervor, die sich am Rand der bestellten landwirtschaftlichen Flächen entlangzog. Ein Feld mit hohem Mais bot etwas Deckung, und er rannte hinein, die Reihen verliefen im 90-Grad-Winkel zur Route. Er lief weiter, wurde nur wenig langsamer und schlängelte sich durch die Reihen der hohen Pflanzen. Aber jetzt konnte er hinter sich seinen Verfolger hören; das Rascheln, das er produzierte, kam näher, immer näher.
Pendergast bog im 90-Grad-Winkel ab und lief eine Reihe mit Mais entlang; dann änderte er, so schnell er konnte, seine Taktik, stürmte durch die Reihen und lief im Zickzack von einer zur anderen. Es war sinnlos; es gab keine Möglichkeit, Alban abzuschütteln, und keine Möglichkeit, ihn in einen Hinterhalt zu locken. Alban war bewaffnet, er nicht. Das hier würde kein gutes Ende nehmen.
Vor sich sah er Licht, rennend kam er auf der anderen Seite des Maisfelds heraus. Er überquerte ein Feld mit heller Baumwolle, die niedrigen Pflanzen boten überhaupt keine Deckung. Er konnte Alban hinter sich laufen hören, schwer atmend. Jetzt war es zu einem Wettrennen geworden – und zwar einem, das er verlieren würde.
Noch während ihm klarwurde, dass er es nicht bis zum Eingang des unterirdischen Lagers schaffen würde, entdeckte er die sogenannten Fehlerhaften. Verwirrt strömten sie von den fernen Feldern, gekleidet in Häftlingslumpen, zerdrückte Strohhüte auf den Köpfen, Werkzeuge und Gerätschaften über die Schultern gelegt. Es war eine seltsame, stille, ungeordnete Gruppe. Die an der Spitze blieben stehen und staunten mit offenem Mund, als sie das Rennen bemerkten. Er ließ den Blick schweifen, konnte Tristram aber nicht unter ihnen ausmachen.
Gleichzeitig hörte er, dass bizarrerweise gesungen wurde – und zwar ein kriegerisches Lied. Er blickte nach rechts und sah, aus Richtung Hafen kommend, Dutzende Soldaten – die Zwillinge. Es waren wohl hundert, dieselbe Anzahl wie die der Fehlerhaften: Männer und Frauen, Mädchen und Jungen, im Alter von vielleicht vierzehn bis etwa vierzig, gekleidet in schlichte graue Uniformen, das Eiserne Kreuz auf der Brust, anscheinend das Symbol der neuen Herrenrasse, angeführt von mehreren Offizieren in zackiger Nazi-Uniform. Sie waren schwer bewaffnet. Im Näherkommen nahmen sie mühelos Aufstellung und begannen laut zu singen.
Es zittern die morschen Knochen
Der Welt vor dem großen Krieg.
Das war’s. Er konnte seinem Sohn nicht entkommen. Er blieb stehen, drehte sich um und sah ihm ins Gesicht.
Hundert Meter hinter ihm verlangsamte Alban sein Tempo, und in seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln, während er näher kam. Er nahm sein Gewehr von der Schulter, während die Soldaten heranrückten.
Wir haben den Schrecken gebrochen,
Für uns war’s ein großer Sieg.
Aber Alban erschoss ihn nicht. Während er herankam, erkannte Pendergast am Triumph in Albans Augen, dass er es hinauszögern, den Moment des Sieges genießen und ihn nicht vorzeitig mit einem armseligen Schuss beenden wollte. Denn jetzt hatte er Publikum. Jetzt gab es Spannung pur und eine Gelegenheit für Alban, sich zu beweisen: Vergeltung vor aller Augen.
Es machte Pendergast ganz krank, wie gut er seinen Sohn kannte.
Wir werden weiter marschieren,
Wenn alles in Scherben fällt.
Mit unüberbietbarem Selbstbewusstsein näherte sich Alban Pendergast, musterte ihn und nahm ihm seine letzte Waffe ab, ein kleines Messer. Er hielt es in die Höhe und steckte es sich hinter den Gürtel: ein Souvenir.
Jetzt kamen die marschierenden Soldaten vor ihnen zum Stehen – jung, strahlend, mit rosigen Wangen, strotzend vor Gesundheit und Sportlichkeit. In Reihen stehend, beendeten sie ihr Lied.
Denn heute, da hört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt!
Der Kommandant, Scheermann, war gekleidet in eine Waffen-SS-Uniform. Er schlenderte an der Reihe der inzwischen stillen Soldaten entlang, drehte sich um und blickte erst zu Pendergast und dann zu Alban. Langsam umkreiste er sie.
»Gut gemacht«, sagte er zu Alban in perfektem Englisch. »Er ist der Letzte. Ich gebe die Sache in deine Hände.«
»Vielen Dank, Oberführer«, entgegnete Alban. Mit einem Lächeln wandte er sich zu Pendergast um. »Tja, das war’s wohl, Vater.«
Pendergast wartete. Er blickte hinüber zu den Feldarbeitern, den Sklaven-Zwillingen; sie standen in einem unorganisierten Pulk da und starrten mit offenen Mündern herüber. Offenbar hatten sie nicht die geringste Ahnung, was vor sich ging. Die Arbeiter und die Soldaten, die beiden Gruppen der Zwillinge, starrten einander an über eine unfassbare Kluft der Biologie und der Genetik hinweg …
Als Pendergast von den Soldaten zu den versklavten Feldarbeitern blickte, sah er viele fast identische Gesichter. Aber während die Fehlerhaften entmutigt und leer dreinschauten, hatten die Soldaten den Ausdruck jener, die ihren Platz in der Welt gefunden hatten und absolut zufrieden waren. So sollte es sein. Alles war in Ordnung.
Das Ganze war so grauenhaft, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Er konnte das Wissen, dass seine Frau von hier gekommen war, dass sie hier gezüchtet worden war, eine frühe Version dieses riesigen eugenischen Experiments war, das sich über mindestens drei Generationen aus den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs bis in die Wälder Brasiliens erstreckte, fast nicht ertragen. Ohne Zweifel gezüchtet mit dem Ziel, eine wahre Herrenrasse zu erschaffen, imstande, ein Viertes Reich zu gründen und aufrechtzuerhalten, und zwar ohne die Unzulänglichkeiten – Erbarmen, Mitgefühl, Kurzsichtigkeit – ihrer bloß menschlichen Vorfahren.
Die Idee war monströs. Ungeheuerlich.
Leise sagte Scheermann: »Alban? Wir warten.«
Alban trat einen Schritt vor, sein Lächeln wurde breiter. Mit einem kurzen Blick auf den Oberführer holte er aus und versetzte Pendergast mit solcher Kraft einen Faustschlag an die Schläfe, dass der FBI-Agent zu Boden ging.
»Kämpfe.«
Pendergast erhob sich, Blut tröpfelte aus seinem Mund. »Ich fürchte, ich kann dir diese Genugtuung nicht verschaffen, Alban.«
Ein weiterer Schlag schickte ihn erneut zu Boden.
»Kämpfe. Ich werde nicht zulassen, dass mein Vater wie ein feiger Hund stirbt.«
Wieder erhob sich Pendergast, die blassen Augen auf seinen Sohn gerichtet. Wieder ein schwerer Schwinger. Erneut ging er zu Boden.
Ein Ruf erhob sich unter den zerlumpten Sklaven. Und jetzt, wie aus dem Nichts, erschien Tristram.
»Hör auf!«, rief er. »Das ist mein Vater. Und auch dein Vater!«
»Genau«, sagte Alban. »Und ich freue mich, dass du gekommen bist, um das hier zu sehen, Schwächling.«
Er drehte sich um und versetzte Pendergast noch einen Schlag. »Was für ein Feigling dein Vater ist. Wie enttäuschend.«
Tristram stürmte auf Alban zu, war aber äußerst ungeschickt. Alban trat behende beiseite, während er den Fuß ausstreckte – ein Schuljungentrick –, so dass Tristram lang hinschlug.
Ein mannhaftes Lachen erhob sich unter den Soldaten.
Pendergast stand auf und stand schweigend da in Erwartung des nächsten Hiebs.