Drei

Die Ratte kam schon wieder. Brimstone konnte sie hören. Konnte sie riechen und ihre bösen, kleinen, rattigen Gedanken ahnen. Sie wollte ihn natürlich töten. Heutzutage wollte alles ihn töten. Besonders Dr. Philenor.

Brimstone hockte in der Ecke seiner Zelle, die von einem blassen Sonnenstrahl erleuchtet wurde, der durch das einzige Fenster hoch oben an der Wand fiel. Dies war sein Lieblingsplatz. Die Fliesen dort waren zerkratzt und von braun werdenden Blutflecken verdreckt, wo er einmal versucht hatte, sich mit den bloßen Händen den Weg ins Freie zu graben. Gewöhnlich hockte er nackt oder von Exkrementen bedeckt da, aber heute trug er einen Anzug. Heute war ein besonderer Tag.

Er dehnte seinen Wahrnehmungsapparat noch weiter aus, um herauszufinden, was ihn sonst noch bedrohen könnte. Seine mentalen Energien strömten durch die verschlungenen Korridore der Double Luck Mountain Irrenanstalt und hefteten sich an das linke Ohr einer der Schwestern, einer molligen attraktiven Nachtelfe, die gerade darüber nachdachte, dass sie später Sardinen für ihre Katze kaufen musste. Der Fischhändler auf ihrem Nachhauseweg hatte Sardinen im Sonderangebot. Sie konnte vier kaufen und dabei dreizehn Prozent sparen und sie für Tiddles zerkleinern, die sie gern roh aß. Vier gehackte Sardinen wären ein sehr zufriedenstellendes Abendessen für Tiddles, und sobald Tiddles versorgt war, konnte die Schwester mitten in der Nacht, wenn es ganz still in der Irrenanstalt war, wieder zurückkehren und ihren Spezialschlüssel benutzen, um hineinzugelangen und Brimstone zu ermorden. Alle wollten sie Brimstone ermorden. Auch die Katze der Schwester. Und der Fischhändler. Die Sardinen auch.

In den Wänden waren Kakerlaken. Er konnte mit seinen überwachen Sinnen genau hören, wie sie schabten, fraßen und Kampflieder sangen. Sie planten, sich über ihn herzumachen, diese Kakerlaken, sobald sie genügend Truppen beisammenhatten. Gleich hinter der Wand war ihre Armee stationiert, noch nicht groß genug, um ihn jetzt schon töten zu können, aber sie züchteten auf ihren speziellen Farmen pausenlos weitere Rekruten heran und trainierten junge Kakerlaken für den Dienst in der Kakerlakenarmee. Wenn sie genügend aufgestellt hatten – ungefähr 3,7 Milliarden –, würden sie aus den Mauern ausschwärmen und beginnen, ihn von den Füßen her aufzufressen. Kakerlaken fraßen einen immer von den Füßen her auf und ließen die Augen übrig, damit man ihnen bis zum bitteren Ende bei dem zusehen konnte, was sie da taten.

Eine Schmeißfliege kroch durch einen Riss in der Fensterscheibe und begann, träge in der Zelle herumzusummen. Das war mit Sicherheit eine Spionagefliege der Kakerlaken, dachte Brimstone. Insekten verbündeten sich, wenn es darum ging, Menschen zu töten. Insekten und Bakterien. Dr. Philenor züchtete natürlich Riesenbakterien: Kreaturen in Spatzengröße. Er hielt sie in alten Taschentüchern und ließ sie auf seine Feinde los. Sie flogen einem in die Nase und machten einen krank.

Die Schmeißfliege näherte sich Brimstone. Er schnappte sie sich gekonnt und aß sie auf.

Die Ratte kam eindeutig näher, und sie war nicht allein! Mit der erstaunlichen Reichweite seiner überreizten Sinne konnte Brimstone erkennen, dass die Kreatur Frau und Kinder dabeihatte, vier hungrige kleine Ratten, nicht einmal halb so groß wie ihre Eltern, aber mit scharfen Piranhazähnen ausgestattet. Das war ein Familienausflug, mit dem Ziel, Brimstone zu töten.

Sie alle planten, Brimstone zu töten – die Ratten und die Spionagefliegen, die Kakerlakenarmee und Dr. Philenors Riesenbakterien und die Krankenschwestern und ihre Katzen, die Sardinen und die Fischhändler und alles andere, was sich in seine Gummizelle graben, in sie hineinfliegen, sich in sie hineinquetschen oder sonst irgendwie Zugang zu ihr erlangen konnte. Aber Brimstone hatte keine Angst.

Er hatte George, der ihn beschützte.

Es gab ein Kritz-Kratz an seiner Zellentür, und einen Moment lang fragte sich Brimstone, ob die Rattenfamilie einen Umweg gemacht hatte, aber dann begriff er, dass es Krankenpfleger Nastes sein musste.

»Sind wir angezogen?«, fragte der Krankenpfleger Nastes, als er mit dem Tablett hereinmarschiert kam. »Das sind wir, wie ich sehe! Sehr gut, Silas. Heute ist ein wichtiger Tag für uns, oder? Wissen Sie, warum es ein wichtiger Tag für uns ist, Silas?«

»Ja«, murmelte Brimstone und blickte ihn finster an.

»Natürlich wissen Sie das!«, rief der Krankenpfleger Nastes fröhlich aus. Er war ein dicklicher, kahlköpfiger Mann, der unerwarteterweise lispelte und einen herabhängenden Schnurrbart trug, den er sich in Nachahmung Dr. Philenors zugelegt hatte. »Heute ist der Tag, an dem wir den Termin mit unserer Überprüfungs-Kommission haben. Und das bedeutet, dass wir unseren Sonntagsanzug tragen, nicht? Denn wir müssen so gut aussehen wie möglich.« Er stellte das Tablett auf den Boden neben Brimstone. Darauf stand ein Becher mit medizinischem Ale, einem Laib trockenen Brots und einem Stück schimmligen Käses.

»Danke«, murmelte Brimstone, der sorgsam darauf bedacht war, Pfleger Nastes nicht in die Augen zu sehen. Es war wichtig, den Pflegern nicht in die Augen zu sehen, da sie über besondere Einsätze in den Augen verfügten, die einem unsichtbare Strahlen in den Kopf schossen und einem das Gehirn schmolzen. Brimstone streckte die Hand nach dem Käse aus und begann, ihn in kleine Bröckchen zu zerbröseln.

»Wie geht’s George?«, fragte Pfleger Nastes im Plauderton.

Warum fragst du ihn nicht selber?, dachte Brimstone angesäuert. George war frühzeitig aufgetaucht, wie so oft, wenn Käse in der Nähe war. Er lehnte an der Wand, überragte sie deutlich und seine Hauer waren entblößt. Aber die Erfahrung hatte Brimstone gelehrt, dass Idioten wie Nastes Dinge, die sich direkt vor ihrer Nase befanden, selten bemerkten, und so murmelte er bloß: »Gut.« George lächelte und nickte zustimmend.

Pfleger Nastes hustete diskret. »Ein wohlgemeinter Rat, Silas. Wenn ich Sie wäre, würde ich George der Kommission gegenüber nicht erwähnen.« Er tippte sich an den Nasenflügel. »Haben Sie meinen Rat verstanden?«

»Ja«, brummelte Brimstone. Er wollte, dass Pfleger Nastes jetzt ging, damit er sein Ale trinken und George mit dem Käse füttern konnte. Wenn George Hunger hatte – und George hatte immer Hunger –, fraß er vielleicht Pfleger Nastes statt des Käses. Und wie sollte er das dann der Kommission erklären?

Aber Pfleger Nastes war schon auf dem Weg nach draußen. »Dann frühstücken Sie jetzt mal schön, Silas«, sagte er. »Die Schwester kommt dann in Kürze, um Sie zur Überprüfung zu bringen.« Er schüttelte sein Schlüsselbund und wählte den Dreier, der die Tür verschloss. »Tja, dann viel Glück.«

Sobald Nastes gegangen war, streute Brimstone den zerbröselten Käse auf dem Boden aus und legte hübsche kleine Käsebahnen, wie George das mochte. Aber George konnte überhaupt nicht hungrig gewesen sein, weil er den Käse nicht anrührte und das Essen dort liegen blieb, bis die Ratte, die Brimstone gehört hatte, vorsichtig aus einem Loch in der Fußleiste krabbelte. Sie starrte Brimstone, der unbeweglich in seiner Ecke saß, lange an, dann krabbelte sie vor und begann, an dem Käsekrümel in ihrer Nähe zu knabbern. Brimstone fing sie und aß sie, wobei er mit dem Kopf begann, da er keine Kakerlake war.

Sie schmeckte sogar noch besser als die Schmeißfliege.