Es war sooo aufregend. Mella hatte noch nie zuvor eine Menschenküche gesehen. Die Küchen im Purpurpalast waren riesig, hatten große schwarze Kamine, in denen man Holzscheite verbrannte, riesige Bratstellen und nicht weniger als sieben regenbogenfarbene Aromakammern, die vor Zauberkräften summten. Diese Menschenküche war im Vergleich dazu winzig klein, hatte überhaupt kein offenes Feuer und das Einzige, was entfernt an eine Aromakammer erinnerte, war eine weiße Metallbox auf einem Tresen, in die kaum ein Huhn passte, geschweige denn ein Ochse. All das führte zu der Frage: Wie kochten diese Leute? Es war nichts, absolut nichts da, das so aussah, als könnte es dafür geeignet sein. Und doch hingen Töpfe und Pfannen von Haken an der Decke, also musste man auch irgendwie kochen können.
»Was ist das?«, fragte sie Tante Aisling und zeigte auf einen sargförmigen Schrank, der aufrecht an einer Wand stand. Wie eine Menge der Geräte hier war er weiß, sodass es unwahrscheinlich war, dass er einen Leichnam enthielt. Aber man konnte sich da nie so sicher sein. Einige der ältesten Elfen-Geschichtsbücher sprachen von Menschen, die einander fraßen!
Aisling blickte sie überrascht an. »Das ist bloß ein Kühlschrank. Habt ihr keinen zu Hause?«
Mella zuckte beinahe zusammen. Zu Hause war ja angeblich Neuseeland, wo es, wie sie annahm, gewiss Kühlschränke gab, was auch immer Kühlschränke waren. Aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. »Oh doch, natürlich. Unserer sieht nur ganz anders aus …« Sie musste wirklich sehr vorsichtig sein. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, Tante Aislings Misstrauen zu wecken, obwohl es sehr, sehr unwahrscheinlich war, dass Tante Aisling erriet, wo sie wirklich herkam. Mella gestattete sich ein kleines, heimliches Lächeln.
»Hättest du gern eine Tasse Tee?«, fragte Aisling.
Mellas Lächeln verschwand abrupt. Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass es zwei Getränke gebe, die gefährlich für Elfen seien, wenn sie die Gegenwelt besuchten. Na ja, nicht richtig gefährlich, nicht giftig oder so, sondern trügerisch. Eins davon war Kaffee, was auf Menschen kaum eine Wirkung zu haben schien – alles, was es bewirkte, war, sie wach zu halten –, bei Elfen aber eine psychedelische Wirkung entfaltete und Visionen auslöste. Das andere war Tee, den Tante Aisling gerade anbot. Das Problem war, dass Mella sich nicht daran erinnern konnte, was Tee laut Henry bei Elfen bewirkte. Er hatte das nur einmal erwähnt, als sie noch sehr viel jünger war und nicht genau aufgepasst hatte. Sie zögerte, merkte dann, dass dieses Zögern verdächtig wirken könnte, dachte daran, dass Teetrinken ein übliches Ritual bei Menschen war, dass man Teetrinken von Neuseeländern erwartete, dass Neuseeländer vermutlich verpflichtet waren, Tee zu trinken, dachte außerdem daran, dass sie bloß eine Halbelfe war, sodass Tee vermutlich gar keine Wirkung bei ihr entfaltete, und sagte dann: »Ja, bitte.«
»Du setzt den Kessel auf«, sagte Aisling. »Ich suche die Kanne. Ist Earl Grey in Ordnung? Mutti hat anscheinend nie etwas anderes da.«
Wer war Earl Grey? Was war Earl Grey? Vielleicht gab es unterschiedliche Arten von Tee. Sie holte tief Luft.
Jetzt war es sowieso zu spät, und es machte wohl kaum einen Unterschied, welche Art von Tee sie trank. »Ja, klar«, sagte sie. Sie hatte irgendwo gelesen, dass Menschenmädchen in ihrem Alter ihre Zustimmung signalisierten, indem sie cool sagten, aber sie hatte auch gelesen, dass die Engländer Tee immer heiß tranken, sodass eine solche Antwort wohl kaum passend war. Das Leben in der Gegenwelt stellte sich als weit schwieriger heraus, als sie erwartet hatte.
Der Kessel allerdings war ganz einfach. Das Design war hier fast genauso wie im Elfenreich, und auch wenn der Kessel auf dem Tresen kleiner war als die in der Palastküche und hinten am Boden so eine komische kleine Röhre rausguckte, war es dennoch ganz gewiss ein Kessel. Sie sah sich noch einmal nach einem Feuer um. »Wo stell ich ihn hin, damit das Wasser aufkocht?«
»Ist denn Wasser drin?«, fragte Aisling.
Oh ihr Götter, dachte Mella. Wo war der Brunnen in dieser kleinen Küche? Hatte er eine Pumpe oder musste sie das Wasser mit einem Eimer hochholen? Es gab keine Zauber, das war das Problem. Man musste absolut alles selber machen. Sie schüttelte den Kessel auf gut Glück und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass er bereits halb voll war. »Ja, ist drin.«
»Dann steck ihn neben dem Spülbecken rein.«
Steck ihn rein? Wenn Diener Wasser in einem Kessel zum Kochen bringen wollten, ohne einen Zauberkegel zu benutzen, hängten sie ihn über offenes Feuer. Aber ihn reinstecken? Wie steckte man einen Kessel rein? Um Zeit zu gewinnen, ging sie langsam zum Spülbecken hinüber – sie wusste, was ein Spülbecken war – und sah sich vage um.
»Der Stecker ist neben der Mikrowelle«, sagte Aisling hilfsbereit.
Was im Namen der Alten Götter war eine Mikrowelle? Zum ersten Mal, seit sie in der Gegenwelt angekommen war, hatte Mella das Gefühl zu ertrinken. Dann bemerkte sie plötzlich die Schrift auf der Aromakammer in Hühnergröße: Siemens HF26056GB 1000 Watt Mikrowelle. Großartig, aber was nun? Steck sie in die Mikrowelle? Nein, Tante Aisling hatte neben der Mikrowelle gesagt. Mella spürte, wie ihr Verstand einen Gang höherschaltete, wie er es manchmal tat, wenn sie sich einer Notsituation gegenübersah. Neben der Mikrowelle befanden sich mehrere Küchenutensilien, aber nur eine von ihnen sah ansatzweise so aus wie das, was sie suchte: eine schwarze Gummischlange mit einem kurzen, dicken Rohrende. Ein Stecker? Vielleicht ein Stecker. Vielleicht der Stecker. Aber das Interessante, das Wichtige, was ihr rasend arbeitender Verstand ihr sagte, war, dass der Stecker (?) so aussah, als könnte er vielleicht in die Röhre passen, die hinten aus dem Kessel ragte. Sie versuchte, ihn da reinzustecken. Zuerst passte er nicht, dann drehte sie ihn ein bisschen, und er glitt rein. Mella stellte triumphierend den Kessel ab.
»Du musst ihn an der Wand anstellen«, sagte Aisling.
Mellas Blicke folgten der schwarzen Schlange. Am anderen Ende des Kessels führte sie mithilfe einer merkwürdigen Scheibe in die Wand. Auf dieser Scheibe war ein Schalter. Aber Mella wusste, was man mit Schaltern machte. Mit einem Triumphgefühl drückte sie ihn herunter. Zu ihrer Erleichterung sah ihr Tante Aisling nicht mehr zu, sondern hatte einen Geschirrschrank geöffnet und einen kleineren, dickbauchigen Kessel herausgeholt, der auf dem Rücken einen Griff besaß. Anders als der richtige Kessel gab es ein solches Gefäß im Elfenreich überhaupt nicht, aber sie wusste von Abbildungen, was das war: eine Teekanne. Fasziniert sah sie zu, wie Tante Aisling getrocknete Kräuter aus einem gelben Behälter hineinlöffelte.
»Ich hasse Teebeutel, du nicht auch?«, bemerkte Aisling rätselhafterweise.
»Kann sie absolut nicht ausstehen«, sagte Mella.
Minuten später goss Aisling zwei Tassen einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. »Ich hoffe, du nimmst keine Milch zu deinem Earl Grey«, murmelte sie.
Mella ließ ein ostentatives Schaudern erkennen, als sie ihre Tasse zum Tisch trug. »Rühr ich nie an.« Sie konnte sich durch dieses Gespräch hindurchmogeln, sie wusste, sie konnte es. Sie hatte sich schon so schön durchgemogelt, denn Tante Aisling hatte ganz eindeutig überhaupt keinen Verdacht geschöpft. Alles, was sie zu tun hatte, war jetzt, das Ganze richtig zu steuern. Und ihre Sinne beieinanderzuhalten. Und dabei so viel wie möglich über die Gegenwelt in Erfahrung zu bringen. Die Dinge entwickelten sich eigentlich ganz gut. Tante Aisling war ziemlich blöd, dem Journal ihres Vaters zufolge. Und es war bestimmt nicht das Schlechteste, ein bisschen mit ihr zu üben, bevor Mella Großmutter Martha kennenlernte, die überhaupt nicht blöd war. Sie lächelte. Sie lächelte Aisling liebenswert an und trank ihren ersten Schluck Earl Grey.
Sofort schmeckte sie das Bergamotte-Aroma und mochte die Art, wie es sich mit dem rauchigen, staubigen Geschmack des Tees selbst vermischte. Kein Wunder, dass dieses Getränk in der Gegenwelt so beliebt war: Es war wirklich köstlich. Sie nahm noch einen Schluck, bevor ihr wieder einfiel, dass sie es langsam angehen lassen sollte. Dies war eine Flüssigkeit, vor der man Elfen warnte, und auch wenn sie bloß eine Halbelfe war, gab es immer noch eine 50 / 50-Chance, dass der Tee eine Wirkung auf sie haben würde. Also war das Schlüsselwort: Vorsicht. »Leckerer Tee«, bemerkte sie. Es schien etwas Unverfängliches und Angebrachtes zu sein.
Plötzlich fragte Aisling: »Wie alt bist du, Mella?«
»Fünfzehn. Beinahe sechzehn. Warum fragst du, Tante Aisling?«
Aisling zuckte mit den Schultern. »Ich war bloß überrascht, dass Henry dich ganz allein auf diese Reise hat gehen lassen.« Ernsthaft blickte sie Mella an. »Ohne uns Bescheid zu sagen. Wir hätten dich am Flughafen abholen können.«
Diese Bemerkung hatte sie erwartet. Mella lächelte. »Ich war tatsächlich überrascht, dass ihr es nicht getan habt. Ich habe mich gefragt, ob Großmutter Vaters Brief vielleicht nicht bekommen hat.« Unschuldig klapperte sie mit den Lidern. Dies war das Herz der Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, die sie schlau zusammenfabuliert hatte, um nicht bloß erklären zu können, warum sie so unerwartet aufgetaucht war, sondern auch allen anderen in diesem Zusammenhang Schuldgefühle einzuflößen. Natürlich gab es überhaupt keinen Brief: Wie sollte es auch einen geben?
»Henry hat wegen deines Besuchs an Mutter geschrieben?«
Mella nickte begeistert. »Oh ja, natürlich. Er hat ihr alles über meinen Besuch geschrieben und sie gefragt, ob ich bei ihr bleiben könnte. Er hatte nichts dagegen, dass ich alleine fliege – er sagte, er wollte, dass ich lerne, unabhängiger zu sein –, aber er dachte, dass Großmutter mich vielleicht am Flughafen abholt oder dafür sorgt, dass es jemand anders macht.« Sie nahm noch einen Schluck Tee und sah Aisling freundlich an. »Es war aber nicht wirklich schlimm für mich, als niemand da war. Es ist ja gar nicht so weit weg von Heathrow. Ich habe ein Taxi genommen.«
»Was?«, fragte Aisling. »Den ganzen Weg aus dem Märchenreich?«