Zwölf

Mella lächelte gequält. »Märchenland? Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Ich glaube, du weißt haargenau, wovon ich rede«, sagte Aisling. »Du kommst nicht aus Neuseeland, oder? Ich nehme an, dass du nicht einmal weißt, wo Neuseeland liegt.«

»Doch, das tue ich!«, sagte Mella wütend. »Neuseeland ist ein Inselstaat im Südpazifik. Es ist ein entlegenes Land. Es ist eines der letzten größeren Gebiete, das noch bevölkert und besiedelt werden kann, und liegt mehr als 1000 Meilen – das sind 1600 Kilometer – südöstlich von Australien, dem nächsten Nachbarn. Das Land besteht aus zwei Hauptinseln – der Nördlichen und der Südlichen Insel – und einer Anzahl kleinerer Inseln, von denen einige Hunderte Meilen von den Hauptinseln entfernt liegen. Die Hauptstadt ist Wellington und das größte städtische Ballungsgebiet ist Auckland, beide liegen auf der Nordinsel. Neuseeland verwaltet die südpazifische Inselgruppe Tokelau und beansprucht auch einen Teil der Antarktis für sich. Niue und die Cook-Inseln sind selbstverwaltete Territorien in freier Assoziierung mit Neuseeland.« Sie hatte diese Rede Wort für Wort aus der Encyclopedia Britannica entnommen und auswendig gelernt und hätte ohne Weiteres fortfahren und über die geographischen Eigenschaften des Landes berichten können, wenn ihr nicht die Luft ausgegangen wäre. Nicht, dass es ihr allzu viel genützt hätte. Vom Gesichtsausdruck ihrer Tante zu schließen, kaufte die ihr das Ganze nicht ab.

»Dein Vater lebt ebenfalls nicht in Neuseeland, oder?«, fragte Aisling.

Mella öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und sagte: »Äh …« Sie wusste sofort, dass sie zu lange gezögert hatte, aber jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern.

»Ich wusste es!«, rief Aisling aus. »Ich wusste es ganz genau, diese verlogene, kleine Kröte!« Sie sah sich mit gekräuselten Lippen um. »Es war immer das Gleiche mit ihm, er ist immer abgehauen und hat irgendwas gemacht, ohne es Mami zu erzählen. So ein Egoist.« Finster starrte sie Mella an.

Um ihre Verwirrung zu kaschieren, nahm Mella einen ordentlichen Schluck Tee. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie überlegte, wie sie sich aus dieser Zwickmühle wieder herausreden könnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Tante Aisling an. »Äh … äh … ich … äh …«, sagte sie. Es war komisch, aber um Aislings Lippen begann die winzige Andeutung eines Lächelns zu spielen. Ein triumphierendes Lächeln.

Aber dann begriff Mella plötzlich, dass das überhaupt keine Rolle spielte. Was machte es schon, wenn Tante Aisling wusste, dass sie aus dem Elfenreich kam? (Wie hatte sie es genannt? Märchenland?) Was kümmerte es sie, wenn die ganze Welt von ihrem Vater wusste? Es war ja nicht so, dass ihm irgendwer etwas anhaben konnte. Mella nahm noch einen Schluck Tee und verspürte ein wirklich schönes warmes Gefühl im Bauch. Schönes warmes Gefühl. Die Großmutter würde ihn ja nicht gleich verhauen. Mella rülpste leise und kicherte. Er war jetzt ein erwachsener Mann, ein großer Junge. Der wurde nicht mehr verhauen. Außerdem, falls die Großmutter versuchen würde, ihn zu verhauen, bekäme sie es mit Mellas Mutter zu tun. Und Mellas Mutter war eine Kaiserin.

Mella nahm noch einen Riesenschluck Tee, griff nach der Kanne und goss sich mehr ein. Der Tee war wirklich gut. Man war entspannt und fröhlich, und zwar beides gleichzeitig. Man fühlte sich groß und stark, was sie natürlich auch war, also musste sie sich auch nicht darum scheren, ob Tante Aisling irgendetwas herausfand. Weder über ihren Vater noch über sie.

»Und?«, fragte Aisling.

Mella zuckte mit den Schultern. »Du hast recht«, sagte sie. »Ich bin nicht aus Neuseeland.«

»Aber du bist die Tochter meines Bruders?«

»Daschtimmt, oh ja. Das sagt Mami nämlich immer, wenn ich was falsch gemacht hab: Du bist die Tochter deines Vaters, sagt sie. Vater sagt sie, weil er das nämlich ist und nicht ihr Bruder natürlich, er ist ja ihr Ehemann. Aber es ist trotzdem der gleiche Mann, nicht? Mein Vater, dein Bruder, Blues Mann.«

»Blue?«

»Mami«, sagte Mella. Sie wollte schon wieder kichern, tat es aber nicht. Das hier war zu einem sehr ernsten Gespräch geworden.

»Dann gibst du also zu, dass du aus dem Märchenland kommst? Du gibst zu, dass du da wohnst und Henry auch?«

Trocken sagte Mella: »Wir nennen das nicht Märchenland – wir nennen es das Elfenreich.« Sie zögerte. »Nein, tun wir gar nicht. Wir nennen es bloß das Reich. Aber es ist das Elfenreich. Und meine Mami regiert es.«

Aisling sah sie mit einem stechenden Blick an. »Deine Mutter regiert das Elfenreich?«

»Kaiserin«, sagte Mella.

Aisling starrte sie einen langen Augenblick bloß an. Dann sagte sie: »Das wird ja immer besser. Henry ist mit der Kaiserin des Elfenreichs verheiratet?«

»Richich.« Mella nickte. Sie fragte sich, warum sie solche Schwierigkeiten hatte, ihre Worte richtig auszusprechen, und beschloss, dass ein Schluck Tee sicher hilfreich wäre.

»Und was ist mit Mr Fogarty?«, fragte Aisling plötzlich. »Lebt er bei euch oder ist er tatsächlich in Neuseeland?«

»Tot«, sagte Mella. Kurze Wörter waren nicht so schlimm; es waren die ganzen Sätze, die ihr schwerfielen. Trotzdem dachte sie, dass sie sich besser die Mühe machen sollte, die Sache mit Mr Fogarty anständig zu erklären. Sie nahm noch einen tiefen, tröstlichen, wunderbaren Schluck Tee. »Ist krank geworden. Gestorben. Jetzt kann man mit ihm nur noch mithilfe einer Charaxeslade sprechen.«

Aisling starrte sie an. »Fogarty ist tot?«

»Schtimmt.«

»Aber Henry redet trotzdem noch mit ihm? So, wie du jetzt mit mir redest?«

Mella schüttelte den Kopf und kicherte. »Nein, nein, du Dummchen. Das wäre doch Quatsch. Ich sagte doch, sie benutzen eine Charaxeslade.«

»Was ist eine Charaxeslade?«

»Dassis eine Kiste, mit der man mit den Toten reden kann. Henry – Papa – hat sie von seinen Freunden, den Luchti, bekommen. Sie hatten schon seit Ewigkeiten eine und haben ihm eine zweite gebaut. Er ist natürlich ein Blutsbruder der Luchti. Er wurde einer, als er Lorquin dabei geholfen hat, seinen Draugr zu töten.« Sie lächelte. »Das ist Jahre her. Lorquin ist jetzt der Stammeshäuptling.«

Aisling sah einen Moment lang verwirrt aus, schüttelte dann den Kopf und sagte: »Du willst mir erzählen, dass Henry eine Kiste hat, eine Art Maschine, mit der er mit den Toten reden kann?«

»Schtimmt. Jedenfalls mit Mr Fogarty kann er reden.«

»Und Mr Fogarty antwortet ihm?«

Mella nickte. »Schtimmt.«

Plötzlich runzelte Aisling die Stirn. »Hast du was getrunken, Mella?«

»Tee.«

»Ich meinte Alkohol.«

»Tee«, wiederholte Mella. Sie hielt Aislings Blick stand.

Nach einer langen Pause sagte Aisling: »Setz dich hierher und rühr dich nicht vom Fleck. Geh nicht weg. Ich will dir etwas zeigen.« Sie stand auf und eilte aus der Küche. »Rühr dich nicht vom Fleck«, rief sie über die Schulter.

Mella hatte gar nicht das Bedürfnis, sich vom Fleck zu rühren, sondern blieb genau da, wo sie war, und trank noch mehr Tee. Die Wärme in ihrem Bauch, dem guten alten Bauch, breitete sich im ganzen Körper aus, und die Welt, diese Gegenwelt, sah wunderbar aus. Selbst diese winzige kleine Küche sah wunderbar aus. Und es war wirklich wunderbar, dass sie sich so gut mit Tante Aisling angefreundet hatte, die sich offensichtlich so gründlich für das Elfenreich und dafür, was dort geschah, interessierte.

Aisling kam zurück und verbarg etwas in ihrer Hand. Sie stellte es vor Mella auf den Tisch. »Weißt du, was das ist?«

Mella blinzelte. Es fiel ihr ebenso schwer, den Blick auf etwas zu konzentrieren wie zu sprechen, aber auch wenn sie etwas vor ihren Augen verschwamm, erkannte sie die Portal-Bedienung sofort. Sie strengte sich mächtig an. »Ja«, sagte sie mit bemerkenswerter Klarheit.

»Was ist das?«, fragte Aisling. Sie beugte sich jetzt vor und schien tatsächlich vor Aufregung ein wenig zu zittern.

»Das ist ein Transporter. Eine tragbare Portalbedienung«, sagte Mella. Auch wenn sie sich stark konzentrierte, verwischte sie die Ps und Bs. Aber das lag an dem Wortungetüm tragbare Portalbedienung. Wenn das nicht so ein langes Wort gewesen wäre, hätte sie überhaupt kein Problem gehabt. Bestimmt. »Das hat Mr Fogarty erfunden«, fügte sie hinzu. »Als er noch lebte, natürlich.«

»Damit öffnet man einen Eingang zum Elfenreich, oder?«

Mella nickte. »Schtimmt.« Sie begann sich dann doch zu wundern, wie es Tante Aisling gelungen war, diesen Transporter in die Hände zu bekommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater ihr einen gegeben hatte – er mochte, wenn man seinem Journal Glauben schenkte, Tante Aisling nicht allzu sehr. Außerdem, schrieb er in seinem Journal, hatte er das Elfenreich vor seiner Familie geheim gehalten.

»Weißt du, wie man sie bedient?«

»Du zielst einfach und drückst auf den Knopf.«

Aisling zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich neben sie. »Genau. Es funktioniert nur nicht mehr. Kannst du erkennen, warum es nicht mehr funktioniert?«

Mella griff nach der Bedienung und drehte sie zwischen den Händen. Ihre Finger fühlten sich an wie Wackelpudding, aber es gelang ihr, die Bedienung nicht fallen zu lassen. Es war ein frühes Modell, ziemlich wahrscheinlich, dass es sogar einer von Mr Fogartys ersten Prototypen war, größer und gröber in der Ausführung als die modernen Bedienungen, aber die Grundelemente waren immer noch die gleichen. Sie fuhr mit dem Daumen an der Seite entlang und entdeckte, dass die Sicherung auf on stand. Tante Aisling musste, ohne es bemerkt zu haben, darauf gedrückt haben. Eine Bedienung würde auf keinen Fall ein Portal öffnen, solange die Sicherung eingeschaltet war. Sie knipste sie aus und gab Aisling die Bedienung zurück. »Jetzt sollte sie funktionieren.«

Aisling hielt die Bedienung, als wäre sie ein kostbares Schmuckstück. »Ich muss bloß zielen und auf den Knopf drücken?«

Mella nickte. »Genau.« Von irgendwo in der Ferne hörte sie Gesang. Süßen Gesang. »Aber besser nicht hier drinnen. Bei diesen alten Modellen gibt das manchmal Probleme.« Sie lächelte freundlich. Tante Aisling hörte nicht richtig zu, aber das war auch egal: Es war solch ein lieblicher Gesang.

Aislings Augen glänzten fiebrig vor Aufregung. »Wir gehen jetzt auf die Reise, Mella, du und ich«, sagte sie laut. »Ich bin vorher nicht allzu weit gekommen, aber wenn ich dich als Reiseführerin dabeihabe, wird das alles ganz anders werden. Ich drücke bloß auf den Knopf, oder? Bloß auf den Knopf drücken?« Sie drückte auf den Knopf.

Ein glühendes Portal öffnete sich in der Küche, aber Mella sah es nicht. Mella war sanft vom Stuhl geglitten und lag leise schnarchend auf dem Fußboden.