Neunundzwanzig

Chalkhill schien sich in Lord Hairstreaks Bergfried ziemlich gut auszukennen, dachte Brimstone. Er wurde auf jeden Fall von den Sicherheitsvorkehrungen erkannt, sonst wären sie jetzt beide tot. Aber erkannt zu werden hieß nicht automatisch, willkommen zu sein, wie ihnen klar wurde, als sie auf Seine Lordschaft selbst trafen.

»Was macht der denn hier?«, fragte Hairstreak ganz offenkundig verärgert.

Brimstone starrte ihn finster und misstrauisch an. Irgendetwas stimmte hier nicht. Chalkhill hatte ihm erzählt, dass Seine Lordschaft mittlerweile ein körperloser Kopf sei, aber Chalkhill hatte ohne Zweifel gelogen. Hairstreak war körperlich äußerst vollständig, ganz der Alte in jeglicher Hinsicht, fit und absolut strotzend vor Gesundheit. Er schien sogar ein paar Zentimeter gewachsen zu sein, obwohl dieser Eindruck wahrscheinlich nur die Folge von Brimstones lückenhaftem Gedächtnis war. Worauf Chalkhill offensichtlich zu bauen schien. Er zählte wahrscheinlich darauf, dass Brimstone schon wieder vergessen hatte, was er über den körperlosen Kopf gesagt hatte. Offenbar hatten Lord Hairstreak und Chalkhill einen hinterhältigen Plan ausgeheckt, um Brimstone zu ermorden. Das wäre absolut typisch für die beiden. Nicht dass sich Brimstone irgendwelche Sorgen machte: Er hatte ja George, der ihn beschützte. Eine Schmeißfliege flog durch Hairstreaks Fenster herein. Brimstone fing sie geschickt und steckte sie sich in die Tasche, als kleinen Imbiss für später.

»Er hilft mir bei meinen Nachforschungen«, teilte Chalkhill Hairstreak knapp mit.

Hairstreak reagierte mit einem Schulterzucken. Er streckte sich genüsslich, ging zum Fenster und blickte hinaus, sah durch den zaubergetriebenen Regen auf die steilen Klippen und schroffen Felsen, an die das wütende Meer brandete. »Damals bin ich auf diesen Felsen beinahe gestorben«, bemerkte er zusammenhanglos. Dann drehte er sich mit glitzernden Augen wieder um. »Wo ist das Mädchen?«

»Wir haben sie nicht«, sagte Chalkhill und fügte dann schnell hinzu: »Noch nicht.«

»Die Uhr läuft«, knurrte Hairstreak.

Chalkhill nickte. »Ich weiß.«

»Was macht ihr Hael noch mal dann hier?«, schrie Hairstreak plötzlich. »Verschwendet eure und meine Zeit! Warum seid ihr nicht da draußen und sucht sie? Glaubst du wirklich und allen Ernstes, dass ich dir dein unverschämtes Honorar dafür bezahle, dass du alle fünf Minuten hier bei mir hereinschneist, um eine Tasse Tee zu trinken?«

»Nein, Sir«, sagte Chalkhill, und Brimstone begriff plötzlich, dass Chalkhill trotz seines ganzen Getöses immer noch Angst vor diesem kleinen Haufen Scheiße hatte – oder vor diesem großen Haufen, in den Hairstreak sich inzwischen verwandelt hatte.

»Was macht«, fauchte Hairstreak, »ihr dann hier?«

»Es hat neue Entwicklungen gegeben«, sagte Chalkhill steif.

»Oooooh Entwicklungen!«, rief Lord Hairstreak aus. Er führte einen kleinen Tanz auf, wobei er mit seinen Armen ausladend herumwedelte. Brimstone beobachtete ihn fasziniert. Vielleicht, dachte Brimstone, hatte Chalkhill gar nicht gelogen, was den körperlosen Kopf anbelangte. Hairstreak benahm sich tatsächlich wie jemand, für den ein Körper etwas ganz Neues war. Seit sie durch die Tür spaziert waren, hatte er kaum mehr als einen Augenblick lang ruhig bleiben können. Aber wo hatte er diesen neuen Körper her? »Dann erzähl mir bitte mal«, sagte Hairstreak, breitete die Hände wie ein Hausierer aus und scharrte mit dem rechten Fuß, »was für Entwicklungen du meinst?«

Chalkhill warf ihm ein triumphierendes Lächeln zu. »Wir haben Kaiserin Blue und den Kaiserlichen Prinzgemahl Henry.«

Im Empfangsraum herrschte absolute Stille und Lord Hairstreak stand auf einmal vollkommen regungslos da. Er starrte Chalkhill an, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. (Seinen neuen Ohren, dachte Brimstone kurz, dann fiel ihm aber ein, dass Hairstreaks Ohren, falls er ein körperloser Kopf gewesen war, der gerade wieder einen neuen Körper bekommen hatte, seine alten Ohren wären. Wahrscheinlich.)

»Ihr … habt wen?«, fragte Lord Hairstreak.

Das Lächeln breitete sich nun auf Chalkhills ganzem Gesicht wie eine grinsende Blüte aus. Er war schon immer ein Narr gewesen, der subtile Signale nie erkannt hatte – oder gar nicht mal so subtile, genau genommen. »Kaiserin Blue und den Kaiserlichen Prinzgemahl Henry«, wiederholte er. »Wir haben sie beide geschnappt. Wir halten sie in meiner Villa gefangen. Jetzt in diesem Moment.«

Hairstreak machte ein, zwei Schritte in den Raum hinein und griff nach einem marmornen Zierei, das auf einem Beistelltisch lag. Er wiegte es vorsichtig in der Hand, während sein Blick auf Chalkhill ruhte. »Ihr haltet die Kaiserin und ihren Gemahl in deiner Villa gefangen? Hinter Schloss und Riegel?«

Chalkhill, der immer noch wie ein Idiot grinste, schüttelte den Kopf. »Oh nein, die können sich in der Villa frei bewegen. Wie meine Ehrengäste. Sie können nur nicht entkommen – die Villa liegt mitten in den Wildmoor Broads.« Offensichtlich bemerkte er Hairstreaks Gesichtsausdruck, denn er fügte hinzu: »Falls sie versuchen zu entkommen, wird das Schwarmkraut sie kriegen.«

»Schwarmkraut …«, wiederholte Hairstreak.

»Ja, Sir«, sagte Chalkhill enthusiastisch. »Das ist eine fleischfressende Pflanze, die in den ganzen Broads wild wuchert. Der einzige Weg, meine Villa zu erreichen …«

»… führt durch die Luft«, beendete Hairstreak den Satz für ihn. Er sprach jetzt sehr, sehr leise. »Und während unsere Kaiserin und ihr Gemahl sich wie ›Ehrengäste‹ frei in deiner Villa bewegen können – das Schwarmkraut wird ihnen allerdings die Haut abziehen, sollten sie zu fliehen versuchen –, forderst du zweifellos gleichzeitig ein Lösegeld vom amtierenden Torhüter?« Er runzelte die Stirn. »Wer ist das eigentlich gerade – ich habe ja so völlig den Überblick verloren … Ach ja, das ist eine von Madame Carduis Aufgaben heutzutage, nicht? Lösegeldforderungen entgegenzunehmen. Das und gleichzeitig den Mann aufzuspüren, der sie gestellt hat, denn sie ist ja die Chefin des staatlichen Geheimdienstes. Ich hoffe doch, du hast nicht erwähnt, wo du sie gefangen hältst. Das würde ihr geradezu den Spaß verderben.«

Brimstone, der Sarkasmus bewunderte, rückte von Chalkhill ab, für den Fall, dass Seine Lordschaft beschloss, den Sarkasmus durch eine körperliche Attacke zu ersetzen. Was auch immer sich hier entwickelte – und etwas entwickelte sich gerade mit Sicherheit –, war etwas zwischen Hairstreak und Chalkhill. Die Kaiserin und den Kaiser zu entführen war Chalkhills Idee gewesen – das hatte nichts mit Brimstone zu tun.

»Tatsächlich«, sagte Chalkhill (und man konnte praktisch das Geräusch des Spatens hören, mit dem er sich gerade sein Grab schaufelte), »habe ich noch keine Lösegeldforderung gestellt. Bei niemandem.« Wieder dieses Lächeln. Dieses glitzernde, zauberbeschichtete, funkelnde und völlig ausdruckslose Lächeln. Hairstreak hatte jetzt die Haltung einer gespannten Sprungfeder, kurz vor einer unkontrollierten Explosion, wenn man die Metaphern so vermischen durfte.

»Das hast du noch nicht?«, fragte Hairstreak und tat überrascht.

Und Chalkhill erkannte die Signale immer noch nicht! »Tatsächlich«, sagte er wieder, »dachte ich, Sie hätten sie vielleicht gern.« Biete sie ihm bloß nicht zum Verkauf an, dachte Brimstone, biete sie ihm bloß nicht zum Verkauf an. »Für eine kleine Aufmerksamkeit, natürlich«, schloss Chalkhill.

Ein Geräusch wie von einem krachenden Pistolenschuss erklang. Brimstone brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass Lord Hairstreak das Marmorei so fest gepackt hatte, dass es zerbrochen war. Durch seine Finger rann Marmorstaub. »Wie wäre es«, schlug Lord Hairstreak vor und sein Blick ruhte auf Chalkhill, »mit der kleinen Aufmerksamkeit, dass ich dir erlaube, dein elendes Leben noch ein paar Wochen weiterzuleben?«

Chalkhill blinzelte. »Wie bitte?«

»Lass sie frei, du Kretin!«, schrie Lord Hairstreak. Sein Gesicht wurde knallrot und auf seiner Stirn pulsierte eine Ader. »Verschwinde auf der Stelle und lass sie frei!«

Chalkhills Kinnlade klappte herunter. »Sie wollen sie nicht? Sie könnten ein weitaus höheres Lösegeld für sie verlangen, als ich Sie kosten würde.«

»Du Schwachsinniger! Du Schädling! Du hässliche Kröte! Du Dummbeutel! Du Trottelbeere! Deine Blödheit könnte all meine Pläne ruinieren! Geh zurück zu deiner Villa und lass sie frei. Lass sie sofort frei!«

»Aber wenn Sie sie nicht wollen, könnte ich selbst Lösegeld für s…«

»Kein Lösegeld«, kreischte Hairstreak. »Lass sie frei! Entschuldige dich! Kriech vor ihnen zu Kreuze! Sag ihnen, du hast einen schrecklichen Fehler begangen! Denk dir irgendeine Geschichte aus. Und flieg sie aus! Flieg sie nach Hause! Flieg sie, wo immer sie hinwollen!«

»Aber, Eure Lordschaft, was soll ich denn …«

Hairstreaks nicht allzu großer Vorrat an Geduld war restlos aufgebraucht. Brimstone, der den Ärger schon einen Kilometer im Voraus herannahen sah, suchte diskret hinter einer Couch Schutz. Er gab George das Zeichen, sich fernzuhalten, und sah zu, wie Hairstreak quer durch den Raum schoss, um Chalkhill an den Aufschlägen seines Designerjacketts zu packen. Zu Brimstones Überraschung hob er Chalkhill mit Leichtigkeit in die Luft und warf ihn gegen eine Wand, etwas, zu dem Seine (kleinere und schmalere) Lordschaft in früheren Zeiten kaum in der Lage gewesen wäre.

Etwas Seltsames geschah. Später kam Brimstone zu dem Schluss, dass Chalkhill sein Ninja-Training übertrieben und reflexhaft reagiert haben musste, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Während Hairstreak ihn festhielt, ließ Chalkhill eine ganze Serie tödlicher Schläge auf ihn los, schneller, als das bloße Auge registrieren konnte, und traf Hairstreak mit Fäusten, Händen, Ellbogen, Knien und Füßen.

»Iiiijah!«, schrie Chalkhill.

Nichts geschah.

»Flieg sie nach Hause«, verlangte Lord Hairstreak. »Dann bring mir Culmella.«

Es war faszinierend. Brimstone sah, dass Chalkhill immer noch instinktiv agierte, als er ein langes, gezacktes Messer hervorholte und es tief in Lord Hairstreaks Herz rammte.

Nichts geschah.

Lord Hairstreak lockerte seinen Griff, sodass Chalkhill langsam die Wand herabglitt. »Bring mir Culmella.« Hairstreak packte das Messer und zog es sich mit einem ekelhaft saugenden Geräusch langsam wieder aus dem Herzen. Er lächelte Chalkhill ins Gesicht. »Sonst werde ich dich jagen.«

 

»Das hätte besser laufen können«, bemerkte Brimstone im Ouklo.

Chalkhill starrte ihn finster an, sagte aber nichts.

»Jetzt hast du die Kaiserin des Elfenreiches und ihren Prinzgemahl und Lord Hairstreak gegen dich aufgebracht. Mächtige Feinde.«

Chalkhill starrte ihn finster an, sagte aber nichts.

»Und du weißt nicht, wo du Prinzessin Mella finden kannst«, erinnerte ihn Brimstone. »Also hast du überhaupt keine Chance, bei Hairstreak je wieder gut dazustehen.«

Chalkhill starrte ihn finster an, sagte aber nichts. George saß auf dem Sitz neben ihm und hatte die Knie fast bis an die Brust gezogen, weil seine Beine selbst für eine Stretch-Limousine zu lang waren. Nicht, dass Chalkhill irgendetwas bemerkt hätte.

»Und dann«, sagte Brimstone fröhlich, »ist da das Problem, wie du entkommen kannst, nachdem du Kaiserin Blue freigelassen hast. Sie weiß natürlich, wer sie entführt hat – sie hat dich mit Sicherheit erkannt, bevor ich den Zauberkegel geknackt habe. Außerdem kennt sie dein Haus. Aus dieser Klemme kannst du dich nicht herausreden, oder? Sobald sie wieder im Purpurpalast ist, wird sie jeden Wächter, jeden Soldat und jeden Polizisten im Kaiserreich nach dir suchen lassen. Dennoch gibt es immerhin einen Trost …«

»Und der wäre?«, fragte Chalkhill und brach zum ersten Mal, seit sie Lord Hairstreaks Bergfried verlassen hatten, sein Schweigen.

»Es kann nicht mehr schlimmer kommen!«, kicherte Brimstone.

Aber er irrte sich. Als sie Chalkhills Villa erreichten, entdeckten sie, dass Kaiserin Blue und der Kaiserliche Prinzgemahl Henry nicht mehr dort waren.