Vierzig

Mella saß auf ihrem Stuhl und starrte nachdenklich auf den Fußboden. Sie hätte glücklich sein müssen. Der Mann, der behauptete, ihr Onkel zu sein, würde sie bald nach Hause bringen und ihr Gedächtnis wiederherstellen. Bald würde sie wieder wissen, wer sie war und wie sie hierhergekommen war. Bald wäre sie wieder in der Lage, ihr altes Leben fortzusetzen, und es hörte sich nach einem interessanten Leben an, wenn sie einen Lord als Onkel hatte. Was konnte man mehr wollen? Dennoch empfand sie ein Unbehagen, und als sie versuchte, sich das auszureden, wurde dieses Unbehagen noch größer. Onkel hin oder her, irgendetwas an Lord Hairstreak stieß sie regelrecht ab.

Sie hörte, wie die Sicherheitsmaßnahmen gelöst wurden, bevor sich die Tür öffnete und Hairstreak hereinkam. Hinter ihm war eine Frau. Beide lächelten. »Zeit für den Aufbruch«, sagte Lord Hairstreak fröhlich. Er hielt ihr seine Hand hin.

»Wer ist die da?«, fragte Mella misstrauisch. Die Frau sah passabel aus und war sehr gut angezogen, aber auf Mella hatte sie so ziemlich die gleiche Wirkung wie Lord Hairstreak, obwohl das auch daran liegen konnte, dass sie bei ihm war und offensichtlich mit ihm befreundet.

Hairstreak sah sich um und lächelte die Frau liebenswürdig an. »Dies ist deine Tante Aisling«, sagte er.

Mella starrte die Frau an. Sie war ein ganz kleines bisschen übergewichtig und in ihrem Lächeln lag etwas Selbstgefälliges. Onkel Hairstreak und Tante Aisling. »Sie ist deine Frau?«, fragte Mella. Tante Aisling sah zu jung aus, um Lord Hairstreaks Frau zu sein viel zu jung.

Lord Hairstreaks Lächeln wurde breiter. Das Lächeln der Frau verwandelte sich in ein affektiertes Grinsen. »Noch … nicht!«, sagte Lord Hairstreak. Tante Aisling kicherte wie ein Schulmädchen.

Mella fragte sich jetzt, ob die Leute ihr wohl die Wahrheit sagten. Wie konnte sie sicher sein, dass Lord Hairstreak wirklich ihr Onkel war? Und wie konnte sie sicher sein, dass diese Aisling-Frau tatsächlich ihre Tante war? Wie konnte sie überhaupt sicher sein, dass Hairstreak ein Lord war oder dass er wirklich Hairstreak hieß? Er konnte irgendwer sein. Vielleicht war er ein Bandit oder ein Axt-Mörder oder irgendein grässlicher Perverser, der junge Mädchen mochte. Die Frau war vielleicht seine Komplizin. Wie konnte man ein Opfer wohl besser in Sicherheit wiegen? Erst löschte man ihr Gedächtnis aus, dann stellte man sich lässig als ihr Onkel und ihre Tante vor. Lullte ihr Misstrauen ein. Nur dass Mellas Misstrauen definitiv nicht eingelullt war. Sie hatte einfach keinen Beweis dafür, dass dieses unheimliche Pärchen das war, was es zu sein behauptete, überhaupt keinen Beweis.

Mella ignorierte die ausgestreckte Hand. Nach einer Pause zuckte Hairstreak mit den Schultern (falls sein Name wirklich »Hairstreak« war) und sagte: »Aisling, Liebste, vielleicht führst du sie nach draußen zum Ouklo. Du weißt ja, was zu tun ist, wenn du dort bist. Ich werde Ysabeau bitten, dafür zu sorgen, dass dich niemand außer unseren eigenen Wächtern zu sehen bekommt.«

Für einen Augenblick wich der selbstgefällige Ausdruck einem Stirnrunzeln. »Ouklo?«

»Mein Fahrzeug«, erklärte Lord Hairstreak. »So nennen wir im Elfenreich ein Fluggerät. Du kannst es nicht übersehen – es ist vergoldet.«

»Ooooh«, sagte Aisling. »Vergoldet.«

Mellas Gedanken rasten. Warum musste man Aisling diesen Begriff erläutern? Selbst mit ausgelöschtem Gedächtnis wusste Mella immer noch, was ein Ouklo war. Und warum sagte er: So nennen wir das im Elfenreich, als wüsste Aisling nicht, wie man die Dinge im Elfenreich nannte? Kam sie von irgendwo anders her? Sie war ganz ersichtlich kein Gestaltwandler und konnte daher nicht aus Hael stammen. Die einzige andere Möglichkeit war die Gegenwelt. Aber was machte eine Frau aus der Gegenwelt mit einem sogenannten Lord des Elfenreiches? Und diese Antwort Hairstreaks noch nicht – legte doch nahe, dass sie, auch wenn sie derzeit nicht verheiratet waren, es bald sein würden. (Bei dieser Aussicht hatte diese Frau derart begeistert ausgesehen.) Warum würde ein Adliger des Elfenreiches ausgerechnet jemanden aus der Menschenwelt heiraten wollen? Das kam einfach nicht vor. Oder jedenfalls sehr selten. Irgendetwas mit diesem Paar stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht.

»Tante« Aisling (die auf gar keinen Fall Mellas Tante sein konnte) setzte ein falsches (das allerfalscheste) Lächeln auf und kam herüber, um Mella fest am Arm zu packen. »Komm schon, meine Liebe«, sagte sie. »Je schneller wir dich nach Hause bringen, umso zügiger können wir dein Gedächtnis wiederherstellen, dann fühlst du dich auch nicht mehr so verwirrt und elend.« Sie war überraschend stark. Mella stellte fest, dass sie aus der Kammer regelrecht abgeführt wurde, dass Aisling dabei en passant Lord Hairstreak den Rücken streichelte, und fragte sich, ob sie sich wehren sollte, entschied sich aber einstweilen dagegen. Was sollte es bringen, in einer kleinen Kammer eingesperrt zu bleiben? Wenn sie mit Aisling ging, gab es immer die Möglichkeit zu fliehen. Tatsächlich (plötzlich kam ihr der Gedanke) konnte sie sie vielleicht, wenn sie so tat, als würde sie den beiden ihre Geschichte abkaufen, in falscher Sicherheit wiegen, was ihr die Flucht sicher ein bisschen leichter machen würde.

Sie hatte sich gar nicht wirklich gewehrt, aber jetzt gab sie jeden Widerstand auf und überdeckte ihr Misstrauen mit einem plötzlichen Lächeln. »Danke, Tante Aisling«, sagte sie fröhlich. »Das wäre wunderbar.« Es gelang ihr sogar, in Richtung Ihrer merkwürdigen Lordschaft ein zweites Lächeln zu verströmen, wobei sich Aislings Griff auf der Stelle lockerte. Diese Frau war eine Idiotin. Solange Hairstreak sie nicht begleitete, sollte es ein Leichtes sein, ihr zu entkommen.

Zu Mellas Freude kam Hairstreak tatsächlich nicht mit. Aisling führte sie aus der Kammer und einen Korridor entlang. Auch der Wächter vor ihrer Tür begleitete sie nicht. Die Sonne kletterte gerade über den Horizont, als sie nach draußen kamen, und Mella entdeckte, dass sie ein riesiges, allein stehendes Gebäude verließen. Aisling nahm wieder ihren Arm. »Nur einen Augenblick …« Sie standen oben an einer kurzen Steintreppe und sahen zu, wie bewaffnete Soldaten einer nach dem anderen ihren Posten verließen und etwas formten, was Mella zunächst für eine Eskorte hielt. Aber zu ihrer Überraschung marschierten sie einfach davon und verschwanden, ohne ein einziges Mal in ihre Richtung geblickt zu haben. Während sie verschwanden, sagte Aisling: »Jetzt komm …«

Das Ouklo war nicht zu übersehen. In der frühen Morgensonne glänzte seine Goldverkleidung kupfern. Mella leckte sich die Lippen. Vielleicht war dieser Hairstreak tatsächlich ein Lord: Er war auf jeden Fall extrem reich, wer auch immer er nun war. Aber dass er ein Lord war, bedeutete nicht, dass er ihr Onkel war, und falls er doch ihr Onkel war, bedeutete das nicht, dass er die Wahrheit sagte. Ihr Misstrauen verstärkte sich. Hairstreak hatte etwas an sich, das sie ganz einfach nicht mochte. Und dieses Missfallen erstreckte sich auch auf Aisling. Außerdem, wenn die beiden nicht verheiratet waren noch nicht … wie konnte sie ihre Tante sein und Hairstreak ihr Onkel? Mella runzelte die Stirn. Nun, das konnten sie sehr wohl, ganz einfach. Sie konnte die Schwester ihrer Mutter oder ihres Vaters sein, ohne mit Hairstreak in irgendeiner Weise verbunden zu sein. Und Hairstreak konnte der Bruder ihrer Mutter oder ihres Vaters sein oder ein Stiefbruder oder selbst ein Freund der Familie – manchmal gab man den Freunden der Familie den Ehrentitel eines »Onkels«. Und es spielte eigentlich auch überhaupt keine Rolle, weil an Onkel Hairstreak und Tante Aisling etwas absolut gruselig war.

»Komm jetzt«, sagte Aisling wieder, diesmal voller Ungeduld.

Mella ging mit ihr mit. Sie konnte sehen, dass Aisling von dem Ouklo beinahe geblendet war und nicht bloß im wörtlichen Sinne. Sie sah aus wie ein Kind, dem man eben das tollste Spielzeug auf der ganzen Welt gezeigt hatte. Gold schien sie offenbar aus der Fassung zu bringen, zumindest die Menge Goldes, mit der man das Fluggerät verkleidet hatte. Was bedeutete, dachte Mella, dass sie verwundbar war, weil abgelenkt.

Mella blickte sich um. Eine gerade Straße führte von der Eingangstreppe weg. Zu ihrer Rechten lagen offene Felder. Zu ihrer Linken, hinter den verlassenen Wachhäuschen, war Rasen, einige Ziersträucher und dahinter eine Baumreihe. Weder die Straße noch die offenen Felder würden ihr irgendeine Deckung geben, aber das Terrain zu ihrer Linken sah vielversprechender aus. Sie fragte sich, warum die Wachposten abgezogen waren. Offenkundig ging hier mehr vor, als sie verstand, aber jetzt war nicht die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt war die Zeit, sich bei ihren Schutzgöttern zu bedanken, dass keine Soldaten sie verfolgen würden … zumindest nicht, bis Aisling die Wachen alarmierte. Aber bis dahin hätte sie vielleicht schon einen guten Vorsprung.

Sie gingen bis zum Fuß der Treppe. Das Ouklo war keine hundert Meter mehr entfernt. Mella blickte wieder verstohlen nach links. Jetzt konnte sie die entfernten Bäume sehen, hochragende Formen vor dem heller werdenden Himmel. Das war vielleicht nicht mehr als ein Hain oder eine kleine Schonung, aber falls das der Rand eines Wäldchens oder besser noch eines großen Waldes war, würden die Bäume ihr Schutz gewähren. Wenn sie sie erst einmal erreicht hatte, hatte sie eine ausgezeichnete Chance zu fliehen.

Und was dann?, flüsterte ein dünnes Stimmchen in ihrem Kopf. Du hast kein Gedächtnis mehr. Mella schob die Bedenken beiseite. Sie würde sich über Und was dann? später Gedanken machen. Im Moment musste sie sich darauf konzentrieren, vom gruseligen Onkel Hairstreak und dieser Tante Aisling wegzukommen.

Sie traf ihren Entschluss. Sie würde nach links rennen. Sie würde zwischen den ersten beiden Wachhäuschen hindurchrennen, schnell rennen, bis sie die Ziersträucher erreichte, sie dann als Deckung nutzen, bis sie die Bäume erreichte. Selbst wenn Aisling ihr sofort folgte, war Mella jünger und leichter und garantiert schneller. Aber sie glaubte nicht, dass Aisling sie verfolgen würde. Irgendwie kam sie ihr ein wenig zu … verweichlicht vor, ein bisschen zu sehr besorgt, sich womöglich ihre schönen Sachen schmutzig zu machen. Mella vermutete, dass Aisling, wenn sie überhaupt irgendetwas tat, um Hilfe rufen würde, und wenn die Hilfe dann kam, wäre Mella schon lange weg.

Als sie die ersten beiden Wachhäuschen passierten, ergriff Aisling wieder ihren Arm, und an ihrem Griff war überhaupt nichts Verweichlichtes.

»Alles in Ordnung«, sagte Aisling beruhigend, wobei ihre Stimme vor Verlogenheit regelrecht troff. »Da ist jemand im Ouklo, den ich eben noch zu deinem Onkel bringen muss. Du kannst so lange warten, dann bringen wir dich nach Hause und machen dich wieder gesund.«

Am Ouklo standen vier Wächter! Ihre schwarzen Uniformen trugen die gleichen Insignien, die Lord Hairstreak auf seinem Gewand hatte. Die Wachen waren ihr vorher gar nicht aufgefallen: Sie standen hinter dem Ouklo und wurden von seinem Rumpf verdeckt. Wie sollte sie denn jetzt entkommen? Die Wachen würden sie sofort verfolgen – durchtrainierte, starke junge Männer, die wahrscheinlich mit Netz- und anderen Fangzaubern ausgestattet waren. Und wie konnte sie sich aus Aislings festem Griff herauswinden? Mit einer Überraschungsattacke konnte sie sich vielleicht befreien, aber wenn es ihr beim ersten Versuch nicht gelang, würde es zu einem Gerangel kommen. Wenn Aisling die Wachen rief – und natürlich würde Aisling die Wachen rufen –, schwand jede Chance auf Entkommen.

Die schwarz uniformierten Wächter rückten vor, um Aisling in Empfang zu nehmen. Merkwürdigerweise wirkten sie fast bedrohlich, aber sie traten sofort zurück, als Aisling ihre rechte Hand öffnete, um ihnen eine Autorisationsmünze zu zeigen. Mella drang der Geruch nach Magie in die Nase, und die Münze bewies, dass Aisling ohne jeden Zweifel von Lord Hairstreak autorisiert war, dem echten und einzigen Hairstreak. (Wer auch immer Lord Hairstreak sein mochte, die Wächter akzeptierten ihn ohne Murren.) Mella wurde zum Flieger geschubst, Aisling hielt sie immer noch fest im Griff, und die Wächter umringten sie jetzt, sodass es keine Möglichkeit zur Flucht gab. Die Tür des Fahrzeugs öffnete sich.

»Mella!«, rief Tante Aisling. Der Name klang seltsam vertraut.

Mella stürzte hinein, schoss durch das Gefährt und stob auf der anderen Seite wieder durch die Tür hinaus. Im Vorbeirennen hatte sie jemanden gesehen, der zusammengekauert dasaß. Aber sie hatte keine Zeit für irgendetwas anderes, als hinter sich die Tür zuzuschlagen, über den Rasen zu rennen und hinter den Sträuchern abzutauchen, und dann schoss sie wie eine beschwingte Gazelle auf die Baumlinie zu.

Sie hatte fast schon den Wald erreicht, als die blöde alte Tante Aisling endlich daran dachte, Alarm zu schlagen.