Dreiundfünfzig

Es war so cool! Erstens gab es haufenweise wirklich leckeres Essen, einschließlich ihres Lieblingsgerichts: kandierte Pilze. Dann durfte sie am Toptisch sitzen und die andere Mella neben ihr. (Sie selbst trug ihre offizielle Prinzessinnenkrone und für Mella II hatten sie, was wirklich lieb war, eigens eine Kopie angefertigt, was bewies, dass ihre Eltern richtig nett sein konnten, wenn sie sich bloß Mühe gaben.) Und dann war da noch die Tatsache, dass jeder, aber wirklich jeder ihre Geschichte hören wollte, obwohl sie doch schon Stadtgespräch war und sie ohnehin schon jeder kannte. Aber das Beste war Victorinus – Papilio Victorinus – der Enkel des Herzogs, der einen so athletischen Körper hatte, dass es einfach der Hammer war. Sie konnte es kaum erwarten, ihn mit nacktem Oberkörper bei den Festspielen zu sehen. Er saß neben ihr, starrte ihr in die Augen und bat sie, ihm (noch mal!) zu erzählen, wie sie das Elfenreich gerettet hatte. Sie konnte sich schon vorstellen, dass Victorinus einen klitzekleinen, winzigen Streit zwischen ihr und ihrer neuen Schwester hätte auslösen können, wenn er nicht einen Zwillingsbruder gehabt hätte. Sein Bruder Papilio Pharnaces saß neben Mella II und war versunken in ihren Anblick.

»Ich bin völlig verwirrt, meine Holde«, gestand Victorinus. »Ich hörte, dass du von der Bestie gefressen wurdest.« Er breitete die Hände aus und lächelte. »Und doch bist du hier und so schön, dass mein armes Herz schmerzt.« Seine Augen waren riesig und braun, und er hatte lange Wimpern. Er war zwei Jahre älter als sie – wie großartig war das denn?

Mella stieß ein brüchiges, kleines Lachen aus. »Ich wurde nicht gefressen, Dummkopf«, sagte sie fröhlich. »Das war alles getürkt, um Lord Hairstreak irrezuführen.« Ihre Mutter hatte sie ermahnt, den Namen Lord Hairstreaks nicht zu erwähnen, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie die Geschichte ohne ihn erzählen sollte. Außerdem wusste sowieso jeder von Lord Hairstreaks Beteiligung, obwohl er hartnäckig leugnete. »Mella II und ich haben unsere Kleider getauscht, damit er glaubte, dass sie ich bin und ich sie, und der Yidam – du weißt doch, wer der Yidam ist, oder, Victorinus?«

Träge streckte Victorinus die Hand aus und griff nach einer Traube. »Riesiger, furchterregender Alter Gott«, sagte er.

»… der Yidam konnte die Mantikore dazu bringen, absolut alles für ihn zu tun, und ließ diesen einen besonderen Mantikor, der Aboventoun heißt, vortäuschen, er würde mich töten. Er hatte lauter künstliches Blut und tat so, als würde er mich angreifen und wegschleppen, nur dass es eben in Wirklichkeit nicht ich war, sondern Mella II, und ich guckte zu und schrie und war wie Mella II gekleidet, damit Hairstreak mich mit zum Palast nahm, weil er dachte, ich sei Mella II. Verstehst du, er dachte, Mella II würde alles tun, was er ihr sagte, und meinen Platz im Palast einnehmen, aber stattdessen hat er mich genau dahin gebracht, wo ich hinwollte, damit ich meinen Eltern alles erzählen konnte und sie überzeugen, falls sie es nicht geglaubt hätten. War das nicht cool?«

»Ich wünschte, ich hätte dabei zusehen können, wie du und deine Schwester Kleider getauscht habt«, flüsterte Victorinus ihr zu.

Ein Stück entfernt redete Mella II mit Victorinus’ Bruder Pharnaces. Das heißt, sie hörte zu, vom stetigen Blick seiner dunklen Augen erwärmt. »So schön und doch so mutig«, sagte er. »Was für eine verheerende Mischung.«

Mella II kicherte nervös. »Oh, ich würde nicht sagen, dass ich so besonders mutig war«, sagte sie schüchtern.

»Oh doch, meine Holde, das warst du, das warst du!«, rief Pharnaces aus. »Du hast im Alleingang das grässliche Regime von Haleklind gestürzt und die größte Bedrohung unseres geliebten Elfenreichs aus dem Weg geräumt.«

Mella II hatte wegen all der unvertrauten Empfindungen ihres Körpers Mühe, Luft zu holen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Haut kribbelte und ihr Mund schien dauernd von allein zu lächeln. Als wäre sie an einem schrecklich-schönen Fieber erkrankt. Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Wohl kaum im Alleingang«, protestierte sie. »Mehr als tausend Mantikore haben mir geholfen.«

»Ah, die Schöne und die Biester!«, hauchte Pharnaces mit dieser heiseren Stimme, die ihr Schauer über den Rücken jagte. »Erzähl mir noch mal, was dann passierte, meine Holde!«

»Oh, das war eigentlich nichts«, seufzte Mella II. »Aber ich erzähl’s dir trotzdem«, fügte sie schnell hinzu. »Als Aboventoun mich wegschleppte, brachte er mich zurück zur Herde, und der Yidam – du weißt doch, wer der Yidam ist?«

Pharnaces streckte die Hand aus und nahm eine Traube. »Riesiger, furchterregender Alter Gott«, sagte er.

»… der Yidam konnte die Mantikore dazu bringen, absolut alles für ihn zu tun, und er meinte, es würde mir helfen, wenn ich die ganze Herde mit zum Karcist Kreml nehmen würde, um die Tafel der Sieben davon zu überzeugen, die Mantikore nicht als Waffe einzusetzen, aber als die Kameraden sie sahen – du weißt doch, wer die Kameraden sind?«

Pharnaces schob die Traube zwischen seine perfekten weißen Zähne und biss ganz langsam hinein. Nicht einen einzigen, zitternden Augenblick lang ließ er sie dabei aus den Augen. »Große furchterregende alte Haleklinder«, sagte er leise.

Mella II schluckte. »… als die Kameraden die Mantikore sahen, rannten sie weg, denn Mantikore sind zwar wirklich lieb, aber gleichzeitig auch richtig gefährlich, besonders wenn es ein ganzer Haufen von ihnen ist, und dann kam Onkel Pyrgus, und ich hatte ihn natürlich noch nie vorher gesehen und wusste deshalb gar nicht, wer er war, aber er hatte diesen Haleklinder Freund namens Corin dabei, der die verrottete alte Tafel der Sieben stürzen und die Mantikore befreien und Haleklind viel netter machen wollte, und der übernahm die Regierungsgewalt und sagte den ganzen Krieg ab. Corin war’s.« Sie sprudelte das alles in einem Aufwasch heraus, was leider nicht ansatzweise cool war, aber Pharnaces sah sie immer noch bewundernd an, und daher war das auch okay.

Kaiserin Blue stand auf. Auf der Stelle brachen alle Gespräche an den Tischen ab, während sich sämtliche Köpfe in ihre Richtung wandten. »Meine Freunde …«, sagte Blue. Sie sprach leise, hatte aber die Gabe, ihre Stimme so zu fokussieren, dass sie im ganzen Festsaal deutlich zu verstehen war. »… wir haben uns an diesem Abend hier versammelt, um den Zuwachs der Kaiserlichen Familie durch ein neues Mitglied zu feiern.« Daraufhin brach begeisterter Applaus aus und ein paar schrille Pfiffe waren zu hören. Blue wartete, dass sich der Lärm wieder legte, und fuhr dann fort. »Ein Zuwachs zur Kaiserlichen Familie von ganz und gar« – sie zögerte und tat so, als suche sie nach dem passenden Ausdruck – »unerwarteter Stelle.«

»Und Kaiser Henry hat nichts damit zu tun!«, brüllte ein junger Graf, der offensichtlich zu viel getrunken hatte.

Blue wartete lächelnd, bis sich das Gelächter wieder legte. »Ein Geschenk von meinem Onkel – der leider heute Abend nicht bei uns sein kann –, meinem Onkel, dem früheren Anführer der Nachtelfen, der erfreulicherweise inzwischen gänzlich wiederhergestellt ist von seinem tragischen … Unfall, mein Onkel Lord Hairstreak …« Sie wartete auf Applaus, und er brandete auf, wenn auch etwas spärlicher. »Mein Onkel Lord Hairstreak, der uns großzügigerweise eine perfekte, ausgewachsene Klonschwester für unsere geliebte Tochter Mella geschenkt hat.« Sie wandte sich lächelnd an Mella II. »Mylords, meine Damen und Herren, ich möchte Sie nun bitten, Ihre Gläser zu erheben zu Ehren von … Mella II!«

Als Blue sich wieder setzte, murmelte Henry: »Das mit dem Onkel hast du etwas übertrieben.«

Blue lächelte immer noch und nahm die Glückwünsche ihrer Gäste entgegen. Aus dem Mundwinkel entgegnete sie: »Ich wollte die Zusammengehörigkeit der Familie betonen. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist ein neuer Riss zwischen Licht- und Nachtelfen.«

»Wir hätten den alten Schädling einsperren und den Schlüssel wegschmeißen sollen.«, knurrte Henry.

Blue wandte sich zu ihm. »Unter welcher Anklage? Wir haben keinerlei Beweise, dass er sich mit Haleklind verbündet hat, nichts außer Gerüchten. Wenn wir anführen, dass er unsere Tochter durch einen Klon ersetzen wollte, würde er behaupten, er hätte Mella II bloß als Geschenk erschaffen. Es wäre politischer Wahnsinn, ohne wasserdichte Beweise gegen ihn zu Felde zu ziehen. Denk daran, er war der Führer der Nachtelfen und könnte es sehr gut wieder werden, jetzt, wo er einen neuen Körper hat. Wir können nichts anderes tun, als das Spiel mitzuspielen.« Sie griff nach ihrem Becher. »Ein Gutes haben die Ereignisse aber: Hairstreak ist jetzt auf dem Präsentierteller, wo wir ihn gut im Auge behalten können.«

»Zwei«, sagte Henry.

Blue runzelte verwirrt die Stirn. »Zwei?«

»Zwei gute Dinge …« Er sah den Tisch hinunter. Blue folgte seinem Blick.

»Wir haben jetzt Zwillinge«, sagte Henry grinsend.