Chalkhill schlang den Schattenmantel ein wenig enger um sich und lugte hinter der Mülltonne hervor. Was machte Brimstone ausgerechnet in der Seething Lane? Der alte Knabe hatte einst eine Wohnung in dieser Gegend gehabt, aber das war lange her. Und ihnen beiden zusammen hatte hier eine Firma gehört – die Chalkhill’s & Brimstone’s Wunderleim-Fabrik –, aber das war auch schon lange her, sie war durch das Eingreifen des jungen Wichtigtuers Pyrgus Malvae zerstört worden. War Brimstone auf dem Weg zu ihrem alten Fabrikgelände? Das schien unwahrscheinlich. Die zerstörten Gebäude waren durch eine Schule ersetzt worden, aber die Bauunternehmer hatten es versäumt, das Kopfsteinpflaster-Minenfeld zu entschärfen, das zur ursprünglichen Fabrik gehört hatte, sodass weder die Schule noch ihre Schüler sehr lange existierten. Danach verwandelten die städtischen Behörden das Grundstück in einen Parkplatz für Kutschen, aber die hohe Vandalismusrate führte dazu, dass er selten benutzt wurde. Schwarmkraut aus den nahe gelegenen Wildmoor Broads überwucherte schließlich alles, sodass die alte Stätte inzwischen zu einem Gebiet geworden war, das man besser mied.
Eins war sicher: Brimstone war nicht hierhergekommen, um die Reise nach Buthner anzutreten, auf die sie sich geeinigt hatten, so wenig, wie Chalkhill nach einer Transportmöglichkeit nach Haleklind Ausschau hielt. Chalkhill hatte Brimstone die Geschichte über die Drachensäule keinen Moment lang abgekauft. Aber trotzdem war er sich sehr sicher, dass Brimstone wusste, wo Mella war. Der alte Knacker wusste es ganz genau: Er sagte es bloß nicht. Chalkhill konnte nur vermuten, dass er sich das Mädchen selber unter den Nagel reißen wollte, es entweder gegen Lösegeld eintauschen oder als Sklavin verkaufen wollte. Völliger Wahnsinn, natürlich, aber Brimstone – haha – war ja nun wahnsinnig, oder nicht? Wenn er nicht durch den Wolkentänzer ein wenig gaga geworden wäre, hätte er Mella gar nicht aufspüren können. Wie auch immer, Brimstones Wahnsinn garantierte, dass man durch seine Verfolgung auch Mella fand. Und wenn Chalkhill erst mal Mella gefunden hatte, dann musste er bloß noch still und leise Brimstone entsorgen, der zu nichts mehr nutze und außerdem eh zu alt war, und dann das Mädchen zum Abschlachten an Hairstreak ausliefern. Auftrag erfüllt, doppelt so schnell erledigt, fettes Honorar erhalten und dann auf zum nächsten Job. Heißa! Juchheißassa!
Aber was machte Brimstone in der Seething Lane? Versteckte sich Mella irgendwo in diesem Misthaufen?
Brimstone blieb vor einem Friseurladen stehen, sah sich misstrauisch um, konnte Chalkhill in seinem Schattenmantel nicht sehen, wieselte über die Straße und die drei Stufen hoch in einen schäbigen kleinen Laden auf der anderen Straßenseite. Chalkhill wartete einen Moment lang, schob sich dann näher heran. Vor dem Laden hing ein verblasstes Schild:
Chalkhill öffnete seinen Schattenmantel und marschierte gebieterisch in den Friseurladen. Der Stuhl stand, so erinnerte er sich, am Fenster, und man hatte von dort einen ungehinderten Blick auf den Tattoosalon. »Hinten und an den Seiten etwas weniger«, sagte er barsch, als er sich hinsetzte.
»Ich schneide nicht länger Haare«, sagte der Friseur, ein kleiner, plumper Mann mit beginnender Glatze, dessen Name … Chalkhill suchte in seinem Gedächtnis und fand ihn … Nathalis war. Dreckiger, kleiner Arsch, eine Nachtelfe natürlich – in dieser Gegend gab es nur Nachtelfen – voller blöder Witze, aber er lebte schon seit Jahren hier in der Straße.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Chalkhill. »Auf dem Schild steht geöffnet.«
»Ich schneide Haare bloß kürzer!« Nathalis brach in einen Lachkrampf aus, der sich unter Chalkhills finsterem Blick nur langsam wieder legte. »Ach, ist der gut. Fallen jedes Mal wieder darauf rein, die Leute. Aber ganz im Ernst, schön, Sie wiederzusehen, Mr Chalkhill.«
Chalkhill sah überrascht zu ihm auf. »Sie wissen, wer ich bin?«
»’türlich tu ich das, Mr Chalkhill. Die Gegend hier ist nicht mehr dieselbe, seit Sie die Fabrik dicht gemacht haben, aber wir erinnern uns alle an Sie. Na ja, jedenfalls die alten Bewohner. Haben viel von unserem Umsatz eingebüßt, seit Sie weg sind, das kann man wohl sagen. Und manchen von uns fehlt der Gestank.« Er griff nach einer Schere. »Nur schneiden, stimmt’s?«
Chalkhill machte es sich bequem. »Ja, aber lassen Sie sich ruhig Zeit.«
»Sicher, Sir. Ganz, wie Sie meinen.« Nathalis fuhr mit den Fingern durch Chalkhills Haar und begann, langsam zu schneiden, wobei er den Kopf geneigt hielt und die Zunge rausstreckte, um sich besser konzentrieren zu können.
»Wer betreibt denn den Tattoosalon jetzt?«, fragte Chalkhill nach einer Weile beiläufig.
»Fremder Typ namens Feniseca Tarquinius. Na, das hört man schon am Namen, oder? Diese ganzen Ausländer haben alle blöde Namen. Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter halst Ihnen den Namen Feniseca auf. Man will sofort los und sich umbringen. Aber genau so ist es. Die meisten von uns nennen ihn bloß Fens, den Hehler.«
»Weil er gestohlene Ware verkauft?«, fragte Chalkhill.
»Das haben Sie aber nicht von mir gehört«, sagte Nathalis mit Unschuldsmiene.
Chalkhill runzelte die Stirn. Dass Brimstone versuchte, gestohlene Ware an den Mann zu bringen, war unwahrscheinlich: Er war doch gerade erst raus aus der Anstalt. Vielleicht wollte er etwas kaufen. Aber was? Und warum? »Hat er noch einen anderen kleinen Nebenjob?«, fragte er.
»Dies und das«, sagte Nathalis wenig hilfreich. Er schnippelte eine kleine Locke ab. »Dann sind Sie immer noch im Klebstoffgeschäft, Mr Chalkill?«
»Nicht mehr«, sagte Chalkhill.
»Sind nicht dran hängen geblieben, oder, was? Haha. Was machen Sie denn jetzt, wenn ich Sie so direkt fragen darf, Sir?«
»Ich bin ein Auftragskiller«, sagte Chalkhill.
»Sie sind ein Auftragskiller, Sir? Töten Leute für Geld?«
»So ungefähr«, sagte Chalkhill.
»Das Geschäft läuft gut, ja?«
»Kann mich nicht beschweren.«
Nathalis zögerte. »Sie sind nicht gerade bei der Arbeit, oder?«
»Ein oder zwei Aufträge sind zurzeit aktuell«, sagte Chalkhill. Er ließ den Mann aus lauter Bosheit einen Augenblick schwitzen, dann fügte er hinzu: »Aber nicht exakt in dieser Minute, nein.«
»Bin erleichtert, das zu hören, Sir.«
»Sie erzählten mir gerade etwas über Mr Tarquinius´ kleine Nebenjobs«, erinnerte ihn Chalkhill.
»Fälschungen«, sagte Nathalis schnell.
Überrascht hob Chalkhill eine Augenbraue. »Geld?«
»Dokumente. Normalerweise Reisedokumente. Pässe, Passierscheine, Ausweise, solche Sachen. Man sagt, er sei sehr gut. Hat wohl mit seiner künstlerischen Ader zu tun, vermute ich. Ist ja kein so weiter Weg von der Anfertigung eines Tattoos zur Anfertigung eines neuen Passes.«
»Teuer?«, fragte Chalkhill beiläufig.
»Nicht allzu sehr, wenn Sie verzweifelt sind. Kriegen das volle Programm für unter fünfhundert.«
Was genau die Summe war, die er Brimstone als Vorschuss gegeben hatte. »Interessant«, murmelte er.
Nathalis legte die Schere ab und sprühte irgendetwas Duftendes auf Chalkhills Kopf. »Mir ist aufgefallen, dass es bei Ihnen oben ein wenig ausdünnt, Sir. Soll ich unser magisches Haarwuchsmittel einsetzen? Es wirkt ausgezeichnet, und Sie bekommen es ohne Aufpreis, Sir, weil Sie doch hier an der Lane mal im Geschäft waren.«
Brimstone kam aus dem Tattoosalon, hatte eine braune Papiertüte in der Hand und lief die Seething Lane zurück in Richtung Cheapside.
»Nein danke, Nathalis«, sagte Chalkhill höflich. »Die Glatze gehört zu meiner Verkleidung.«
»Hatten Sie nicht gesagt, Sie wären gerade nicht bei der Arbeit, Mr Chalkhill?«
»Das war gelogen«, sagte Chalkhill.
Als Chalkhill den Friseurladen verließ, schlenderte er über die Straße zum Tattoosalon. An den Wänden hingen lauter Zeichnungen von Drachen, Ankern, Herzen, Blumen, Fabeltieren, Haniels, Maschinenteilen, Schwertern und Waffen, gelegentlich auch von etwas Exotischem wie einem Londoner Doppeldeckerbus oder einem Teller mit Fish and Chips. Ein dunkelhäutiger, breitschultriger Mann, nackt bis zur Taille, war die einzige Person im Laden. Er reinigte ein Set mit Nadeln mit einem öligen Lappen.
»Ah, Fens!«, grüßte ihn Chalkhill lässig. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Fens nenne, oder? Ich finde bloß, dass Feniseca so ein blöder Name ist.«
Feniseca blinzelte, stand dann auf. »Hör mal zu, du Blödmann …«
Chalkhill erwischte ihn nach Ninja-Art an der Nase und steckte ihm einen Stimlus ins Ohr. »Jetzt hör du mir mal gut zu, du Arschgesicht«, flüsterte er. »Einer deiner Kunden ist hier erst vor ein paar Minuten mit einer braunen Papiertüte raus, und der sah ganz und gar nicht tätowiert aus. Alter Knabe, der nach verfaulten Dämonen stinkt. Ich will wissen, was du ihm verkauft hast, und ich will es sofort wissen.«
Feniseca war starr vor Angst. »Reisedokumente«, sagte er prompt. »Das ganze Paket.«
»Reiseziel?«
»Gegenwelt.«
»Wo genau?«
»London, England. Das heißt ein Ort in der Nähe: Kann mich an den genauen Namen aber nicht erinnern. Muss ich nachgucken. Hören Sie, können Sie bitte Ihren Finger von dem Knopf an dem Ding wegnehmen? Wenn das aus Versehen losgeht, wird einem das Gehirn geröstet.«
»Nur wenn man überhaupt ein Gehirn hat«, sagte Chalkhill fröhlich und behielt seinen Finger genau da, wo er war. »Sie werden jetzt in Ihren Unterlagen nachschauen?«
»Absolut, Sir«, sagte Feniseca.