Es war völlig ausgeschlossen, zu dieser Kreatur George zu sagen. So, wie sie zwischen Existenz und Nichtexistenz zu schimmern schien, fragte Mella sich, ob sie ihnen irgendwie gestattete, sie zu sehen, ob sie den Mantikoren gestattete, sie zu sehen. Sie wirkten respektvoll, aber gelassen, obwohl dieses Ding, dieser Yidam, größer war als sie selbst und eine Aura von Macht ausstrahlte, die beinahe überwältigend war. Mella wusste, auf was sie da blickte, obwohl sie nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen oder auch nur den Namen gehört hatte. Ich bin einmal deiner Mutter begegnet. Wenn das stimmte, dann war es etwas, worüber ihre Mutter nie gesprochen hatte.
Mella spürte, wie Mella II an ihre Seite trat. »Was ist das?«, flüsterte Mella II.
»Das ist einer der Alten Götter«, flüsterte Mella zurück, ohne den Blick von der Kreatur abzuwenden. »Manchmal mischen sie sich in die Elfenangelegenheiten ein.« Blue hatte ihr oft die Geschichte erzählt, wie Henry sie vor dem Drachen gerettet hatte. Obwohl Mella immer dachte, dass das Ganze reichlich übertrieben sein musste – ihre Eltern glaubten tatsächlich, dass sie absolut naiv war –, gab es ein Detail, das sich fest in ihren Gedanken verankert hatte. Ein anderer der Alten Götter – sein Name war Loki – hatte in der ganzen Sache erheblichen Einfluss ausgeübt.
Aber es war nicht diese Einmischung, die Mella beeindruckte. Schließlich gab es haufenweise alte Legenden über Götter, die erschienen, wenn man sie am wenigsten erwartete. Nein, was Mella beeindruckte, war der Grund, den Blue für diese Einmischung angab:
»Ein Priester hat mir einmal erzählt, dass die Alten Götter glauben, das Leben der Sterblichen diene dazu, bestimmte Geschichten wahr werden zu lassen. Manchmal greifen sie ein, damit die Geschichten auch so ausgehen, wie sie ausgehen sollen – so, wie das Schicksal sie bestimmt hat.« Dann ein schüchternes kleines Lächeln. »Also nehme ich an, dass dein Vater und ich vom Schicksal dazu bestimmt waren, zu heiraten und dich zu bekommen.«
Die Sentimentalität dieses Schicksalsglaubens sorgte normalerweise dafür, dass Mella sich übergeben wollte, aber auch wenn sie lieber gestorben wäre, als es zuzugeben, lag doch etwas Faszinierendes in der Idee, die eigene Geschichte, die eigene heroische Geschichte, mithilfe der Götter zu leben. War auch sie in eine Geschichte verwoben, so, wie ihre Mutter es einst gewesen war? Andere Worte von Blue kamen ihr in den Sinn:
»Komm nie auf den Gedanken, dass die Gefahren nicht echt sind. Die Geschichten sind nicht gänzlich festgelegt: Sie geben nur den Rahmen vor, in dem wir unser Leben leben. Manche von ihnen enden tragisch. Dein Vater hätte vom Drachen gefressen werden können – ja wir beide. Er war mutig und stark, und es ist nicht dazu gekommen … aber es hätte passieren können. Es gibt keine Garantie.«
Mella fragte sich, ob sie den Mut und die Kraft hatte, die Art von Geschichte zu leben, der sich ihre Eltern einst ausgesetzt hatten. Vielleicht musste sie das nicht, aber sicher bedeutete doch die Tatsache, dass der Yidam vor ihr stand, dass sie eine wichtige, heroische Geschichte zu leben hatte. Die Frage war, welche? Tatsächlich war die Frage die, ob sie sie überleben würde? Wie ihre Mutter sagte, es gab keine Garantie.
An ihrer Seite murmelte Mella II, als könnte sie ihre Gedanken lesen: »Wir können das hier gemeinsam durchstehen.«
Mella spürte, wie Mut sie durchströmte. »Yidam, Herr«, sagte sie, »wie seid Ihr meiner Mutter begegnet?« War es gestattet, einen Gott zu fragen? Zu spät – sie hatte es gerade getan.
Falls der Yidam es missbilligte, gab er es nicht zu erkennen. »Sie hat mich gerufen, um mir eine Frage über Krieg und Frieden zu stellen.«
»Das hat sie mir nicht erzählt«, murmelte Mella. Ihre Mutter hatte den Yidam überhaupt nie erwähnt. Nicht ein einziges Mal. Was wirklich merkwürdig war. Wenn man einen der Alten Götter traf, würde man doch jahrelang damit prahlen?
»Das sollte sie auch nicht. Das war ein Teil ihrer schamvollen Last.« Der Yidam beugte sich vor und hielt Mellas Blick fest. »In deiner Geschichte finden sich Echos davon.«
Mella leckte sich über die trockenen Lippen. »Wie meint Ihr das, Yidam, Herr?« Ihr war bewusst, dass die Alten Götter gefährlich waren, weit gefährlicher als jeder Mantikor, aber aus irgendeinem Grund verspürte sie keine Angst vor diesem Gott. Respekt und Achtung schon, aber keine echte Angst. Mella II an ihrer Seite zu haben war, als hätte sich ihr ganzer Mut verdoppelt.
»Lauert nicht die Gefahr eines Krieges?«, fragte der Yidam.
»Doch«, sagte Mella II sofort. Sie wandte sich an Mella und flüsterte: »Was ich dir gesagt habe – die Haleklinder, die Mantikore, Lord Hairstreak und alles.«
»Ja, ja, ich weiß!«, zischte Mella ungeduldig zurück.
»Und seid ihr nicht die Einzigen, die ihn stoppen können?«, fragte der Yidam.
Mella blinzelte.
Sie hielten eine Konferenz ab, sie drei, kauerten mit überkreuzten Beinen auf der Erde, von der Mantikor-Herde umgeben. Der Kopf des Yidam schwebte höher als ein Mantikor-Rücken, der Alte Gott überragte die beiden Mellas immer noch, und dennoch schien ihr kleiner Kreis irgendwie … freundlich. Was sie besprachen, war allerdings furchterregend.
»Warum ich?«
»Es ist deine Geschichte.«
»Wie kann eine einzelne Person einen Krieg beenden?«
»Ihr seid nicht eine Person: Ihr seid zwei.«
»Wie können zwei Leute einen Krieg beenden?« In Mellas Stimme lag jetzt ein Hauch von Verzweiflung, aber der Yidam war gnadenlos.
»Deine Geschichte ist dein Schicksal.« Der Yidam starrte sie schweigend an.
Nach einer Weile versuchte es Mella: »Wirst du uns helfen?«
»Die Alten Götter können sich nicht in die Angelegenheiten der Elfen einmischen«, sagte der Yidam ruhig.
Mella verlor die Geduld. »Natürlich kannst du das!«, kreischte sie. »Du mischst dich doch schon die ganze Zeit ein! Du mischst dich sogar jetzt ein!« Sie brüllte einen der Alten Götter an und es war ihr egal. Loki hatte sich eingemischt. Der Yidam kannte ihre Mutter. Der Yidam war der Anführer der Mantikore. Natürlich mischten sich die Alten Götter ein! Die Alten Götter waren geradezu Kontrollfreaks!
Der Yidam lächelte sie liebenswürdig an.
Nach einer Weile hatte sich Mella so weit beruhigt, dass sie fragen konnte: »Was soll ich denn nun tun?« Sie hatte ein lebhaftes Bild von sich selbst als absolut winziger Gestalt an der Spitze einer Rebellenarmee vor Augen. Es war lächerlich, aber das Bild wollte nicht verschwinden. Vielleicht könnte sie High Heels tragen.
»Das zu sagen steht mir nicht zu«, sagte der Yidam ärgerlicherweise.
»Er meint, dass wir es selbst herauskriegen müssen«, sagte Mella II clever.
»Das ist es, was ich meine«, bestätigte der Yidam.
Mella blickte, halb vor Wut, halb in Panik, vom einen zum anderen. »So etwas kann man nicht einfach herauskriegen!«, rief sie so laut, dass ein Mantikor in der Nähe scheute. »Das ist Politik, Militärstrategie, das Schicksal von Nationen, die Zukunft des Elfenreiches, und ich bin noch nicht mal sechzehn! So etwas können wir nicht tun! Das können wir nicht!!«
»Doch, das können wir«, sagte Mella II.
»Besinnt euch auf die grundlegenden Dinge«, schlug der Yidam vor.
Mella beschloss, dass sie den Yidam nicht ausstehen konnte, selbst wenn er ihre Mutter gekannt hatte. Er war schmierig, autoritär und überhaupt nicht hilfreich. Und auf Mella II war sie in diesem Moment auch nicht besonders gut zu sprechen: Sie war viel zu gutgläubig. Mella holte tief Luft und fragte säuerlich: »Was für grundlegende Dinge?«
Der Yidam antwortete nicht, aber ihre irritierende Schwester tat es. »Er meint, wir sollten sorgfältig über das nachdenken, was hier passiert; und was demnächst passieren wird. Er meint, wir sollten über Lord Hairstreaks finsteren Plan, das Elfenreich zu erobern, nachdenken, und darüber, wie weit er damit schon gekommen ist. Wir wissen …« Sie setzte sich aufrecht hin und begann schnell, an ihren Fingern abzuzählen: »… finsterer Plan, Phase eins, dass Hairstreak mich gemacht hat, um dich zu ersetzen. Dann, finsterer Plan, Phase zwei, dass er einen Putsch organisiert hat, um die legitime Regierung von Haleklind abzusetzen. Und dann, finsterer Plan, Phase drei, dass er die neue revolutionäre Tafel der Sieben ermuntert hat, Mantikore als Waffen zu züchten. Und schließlich, finsterer Plan, Phase vier, dass er plant, die Mantikore auf das Reich loszulassen, wahrscheinlich jeden Augenblick.«
»Ja, ich weiß all das …«, begann Mella.
Aber Mella II ließ sich nicht unterbrechen. »Also das Großartige ist doch, dass wir den ersten Schritt des finsteren Plans bereits vereitelt haben. Er kann dich nicht durch mich ersetzen, weil wir beide bereits seinen finsteren Klauen entkommen sind.«
»Ich wünschte, du würdest mal aufhören, von ›finster‹ zu sprechen«, murmelte Mella. »Es hört sich albern an.«
»In Ordnung«, sagte Mella II milde. »Wir sind seinen finsteren Klauen entkommen – ich werde das jetzt nicht mehr sagen –, und wir arbeiten zusammen, sodass er dich nicht durch mich ersetzen kann, und selbst wenn er es täte, würde ich nicht tun, was er mir sagt, also wäre es sinnlos. Das bedeutet, alles, was wir jetzt zu tun haben, ist, auch die anderen Schritte seines finst… seines Plans zu vereiteln, und dann haben wir gewonnen. Wir müssen unsere Eltern vor dem warnen, was gerade passiert, und besonders über Lord Hairstreaks Beteiligung informieren. Das ist wahrscheinlich das Allerwichtigste. Wir müssen nur eine Nachricht an den Purpurpalast schicken.« Sie zögerte. »Ich nehme an, dass Ihr das nicht tun könnt, Yidam, Herr?«
»Nein«, sagte Yidam knapp. Aber er betrachtete sie interessiert.
»Nein, das dachte ich mir schon«, murmelte Mella II und runzelte die Stirn. »Unsere Eltern werden einer Nachricht wahrscheinlich nur glauben, wenn wir sie persönlich überbringen.« Sie sah wieder Mella an. »Das Ideale wäre, wenn wir die Tafel der Sieben daran hindern könnten, einen Angriff zu starten. Wenn wir das schaffen würden, ergibt sich alles andere von selbst. Der Krieg wäre abgewendet, die Eltern gerettet, Lord Hairstreak würde in irgendeinen Kerker eingelocht, das perfekte Ende deiner Geschichte. Unserer Geschichte.«
»Lass uns doch gleich die ganze Welt retten, wo wir gerade dabei sind?!«, schnauzte Mella sie an. »Wie denn? Sag mir einfach wie! Wir sind von Mantikoren umzingelt, irgendwo in Haleklind, ohne Transportmöglichkeit, ohne Geld, ohne Waffen und mit einer riesigen, fetten, übernatürlichen Wesenheit mit furchterregendem Gebiss, die uns sagt, was wir tun sollen, aber keinen Finger rührt, um uns zu helfen.« Sie starrte den Yidam finster an. »Also, komm schon – sag mir wie!«
Der Alte Gott betrachtete sie beinahe liebevoll. »Niemand kennt deine Geschichte, es sei denn du selbst«, sagte er. »Aber du solltest dir jetzt schnell etwas überlegen. Lord Hairstreak ist bereits im Wald.«
Mella erstarrte. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß alles«, sagte der Yidam. »Außer deiner Geschichte, natürlich.«
»Ist er schon nah?«
»Noch nicht. Aber er hat deine Spur aufgenommen und folgt seiner eigenen Geschichte. Du hast nicht mehr viel Zeit.«
Mella sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Er kann uns nicht kriegen, während wir von deinen Mantikoren umgeben sind, oder?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte der Yidam sanft. »Aber du kannst dich nicht für immer verstecken …«
Mella fragte sich, ob es irgendeine Strafe für das Strangulieren eines Alten Gottes gab. Der Yidam war die ärgerlichste Kreatur, die sie je getroffen hatte. Sie hatte überhaupt nicht vor, sich für immer zu verstecken. Sie wollte doch bloß ein bisschen Unterstützung …
»Ich habe eine Idee«, sagte Mella II plötzlich. Sie packte Mella am Arm. »Lass uns mal einen Moment allein reden.«
»Haltet euch von den Bäumen fern«, sagte der Yidam. »Aboventoun war mein Bote, aber die Waldmantikore kontrolliere ich nicht.«