»Du darfst nicht sterben, mein Liebling«, flüsterte Henry.
»Meine Liebste, bitte stirb nicht. Oh, Blue …« Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Er barg ihren Kopf in seinem Schoß und streichelte ihr langes rotes Haar. »Verlass mich nicht, Blue – ich kann ohne dich nicht leben.«
Er saß auf einem Felsvorsprung, der Teil einer Felsnase war, die sich in den Wildmoor Broads wie der Bug eines großen Schiffes erhob. Blues Körper lag lang ausgestreckt da wie jemand, der von einer Felskuppe gestürzt war. (Gestürzt und gestorben, wie Henrys Verstand hartnäckig behauptete.) Sie waren von einem Meer von Schwarmkraut umgeben, das kochte, schäumte und sich in ihre Richtung krümmte, aber nicht auf den Felsen vordrang, nicht darauf vordringen konnte.
Auf dem Felsen war Blut, sogar ziemlich viel Blut. Es war sein eigenes: An seinem Unterarm fehlte ein Streifen Haut und an seinem Gesicht, seinen Beinen und Händen waren Wunden. An Blue war kaum ein Kratzer zu sehen und doch war sie diejenige, die tot war. »Du darfst nicht«, sagte Henry mit Nachdruck. »Deine Untertanen brauchen dich. Ich brauche dich. Du darfst nicht tot sein.« Ihre Augen waren geöffnet, starrten aber leer in den entfernten Himmel. Da war kein sanftes Heben und Senken der Brust, kein Atemhauch aus ihrem Mund. Es gab keinen Herzschlag, keinen Puls.
Henry spielte in Gedanken immer wieder durch, was passiert war. Es war alles auf einmal gewesen: merkwürdig und gewöhnlich und anfangs auch erfolgreich. Die Zaunschilde hatten funktioniert. Sie hatten sogar großartig funktioniert. Chalkhill musste für diesen besonders starken Zauberbelag eine Menge Geld hingelegt haben, denn das Schwarmkraut konnte ihnen nichts anhaben. Es wusste, dass Blue und Henry dort waren. Es reckte eifrig seine Ranken nach ihnen. Aber dann, einen halben, einen ganzen Meter entfernt, zog es sich ruckartig wieder zurück. Das war Abstandsmagie, ganz besonders teuer. Und Henry hatte gedacht, dass das ihr Freibrief nach Hause war.
Er hätte es besser wissen sollen. Die Broads hatten schon Hunderte von Leben gefordert. Wenn der Trick, sie zu durchqueren, derart einfach war, hätte ihn irgendjemand anders schon vor Jahren entdeckt.
Aber er hatte es nicht besser gewusst und jetzt war Blue tot. Er konnte es nicht glauben. Er konnte nicht glauben, wie plötzlich das geschehen war, wie einfach es passiert war. Als er gesehen hatte, wie die Pflanzen reagierten, hatte er sich umgedreht, um Blue anzulächeln. Er erinnerte sich sogar daran, wie er gesagt hatte: »Das ist ja so einfach. Jetzt müssen wir nur noch eine Straße finden.« Und dann hatte Blue gesagt: »Ich glaube, ich habe mir die Hand an irgendetwas zerkratzt.«
Er war ein Idiot, Idiot, Idiot! Er konnte den Kratzer auf ihrer Hand kaum erkennen, so klein war der. Er wollte ihr beinahe noch sagen, sie solle sich nicht so anstellen, da fiel sie auch schon um. Es war ein grässlicher Sturz, bei dem es ihm kalt den Rücken herunterlief. Kein Stolpern oder Taumeln, sondern ein ungebremstes Umkippen. Sie verdrehte die Augen, sodass sie für einen winzigen Augenblick wie einer von Madame Carduis Zombies aussah, und dann knickten ihre Knie ein und sie fiel wie eine zerknüllte Papiertüte in sich zusammen.
Der Schild fiel ihr aus der Hand.
Sofort stürzte sich das Schwarmkraut auf sie. Ihr Rücken blieb geschützt, aber die Wedel zuckten bösartig nach ihrer Vorderseite und ihrem Gesicht, und sie zeigte keinerlei Reaktion, als sie sie erwischten. Sie muss schon tot gewesen sein, dachte Henry jetzt. Aber in dem Augenblick dachte Henry gar nichts, sondern handelte bloß. Er stürzte brüllend vorwärts und holte blindlings mit seinem Messer aus. Blätter und Stängel flogen, und das Schwarmkraut, das den Angriff spürte, wandte sich in seine Richtung. Er spürte Hunderte winziger Stiche, als es begann, ihm die Haut von Armen und Beinen zu reißen. Irgendetwas bohrte sich in seinen Arm und Blut rann aus der Wunde, aber er ignorierte das. Indem er sein Schild einsetzte, schob er sich zwischen das Schwarmkraut und Blue, packte sie am Arm und hob sie hoch.
Etwas in ihm hoffte, dass sie vielleicht stehen könnte, womöglich sogar gehen, wenn er sie stützte, aber sie war eine tote Last. »Aaaahh!«, schrie Henry und holte wieder mit dem Messer aus. Das Schwarmkraut fiel ein wenig zurück, kreiste sie dann aber ganz langsam ein – wie ein Tier, das nach einer Schwachstelle für einen Angriff sucht. Henry schwang sich Blues Körper über die Schulter, schwankte ein wenig und stand schließlich mit beiden Beinen fest auf der Erde. Er stürzte vorwärts, verzweifelt darum bemüht, dem Schwarmkraut zu entrinnen und einen sicheren Platz zu finden, an dem er Blue wiederbeleben konnte.
Danach war es alles nur noch ein Albtraum, an den er sich bloß vage erinnern konnte, ein Meer von Schwarmkraut, ein Wald von Schwarmkraut, in dem er sich, kratzend und Hiebe austeilend, bewegte, von schierer Verzweiflung getrieben und halb verrückt vor Trauer und Angst, bis er abrupt und aus schierem Glück auf diese Felskante gelangte.
Vorsichtig legte er Blue auf den Boden und stand einen Augenblick lang keuchend da. Er bemerkte sein eigenes Blut auf seinem Gesicht, seinen Beinen und seinem Körper. Im Vergleich zu ihm sah Blue vollkommen unverletzt aus. Kein Blut war zu sehen, keine Schwellung, kein Ausschlag, keine Verfärbung. Wenn er ihr die Augen schlösse, würde sie beinahe friedlich aussehen. Aber er wollte ihr nicht die Augen schließen, weil das hieße einzugestehen, dass sie tatsächlich tot war.
»Oh, Blue …«, stöhnte er.
Hinter ihm war ein Geräusch zu hören. Henry zuckte zusammen, sah nichts, legte dann schnell und sanft Blues Kopf ab und stand auf. Eine Sekunde lang dachte er, dass das Schwarmkraut womöglich auf den Felsen kroch, aber auch wenn es ihn weiterhin einkreiste, blieb es doch auf Distanz. Er konnte nichts erkennen, was das Geräusch erklärt hätte. Er vermutete einen rollenden Kieselstein. Aber wodurch war er ins Rollen geraten? In einer weniger feindseligen Umgebung hätte er ein kleines Tier als Ursache vermutet – ein Kaninchen oder eine Ratte –, aber in den Broads überlebten keine Tiere, nicht in den Gebieten, die von Schwarmkraut befallen waren. Jedes Tier, das in das Territorium des Schwarmkrauts geriet, wurde gefressen.
Er wollte sich gerade wieder zu Blue umdrehen – zu Blues Leiche, wie ihm sein aufgewühlter Verstand sagte: Er musste sich den Tatsachen stellen, wenn er überleben wollte, und er musste um Mellas willen überleben –, als eine Bewegung auf der Klippe seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas kroch aus einer dunklen Öffnung etwa sieben Meter über ihm. Es kroch hervor, um sich an die Klippe zu heften, und begann dann, langsam herabzuklettern.
Henry beobachtete es fasziniert. Die Kreatur hatte die Gestalt eines Menschen, war aber viel, viel kleiner; tatsächlich kaum größer als eine Katze. Ihm kam der Gedanke, dass es ein Affe sein könnte, aber er verwarf ihn wieder: Er war im Elfenreich, und im Elfenreich gab es keine Affen. Als das Wesen näher kam, stellte er fest, dass die Menschenähnlichkeit in jedem Fall recht oberflächlich war. Der kleine »Mensch« hatte kein Gesicht: keinen Mund, keine Nase, keine Augen oder Ohren, nur einen knollenartigen Ball von einem Kopf. Auch der Körper war unvollständig. Obwohl das Wesen rudimentäre Füße und Hände hatte, besaßen sie keine Zehen oder Finger. Es war, als hätte jemand begonnen, aus einem Stück Holz eine menschliche Gestalt zu schnitzen, und sie dann unfertig liegen gelassen. Aber die Gestalt, deren Farbe ein gräuliches Schwarz war, konnte sich bewegen. Und zwar schnell. Sie hatte bereits den Felsvorsprung erreicht und steuerte auf ihn zu.
Henry kam überhaupt nicht auf die Idee, dass er in Gefahr sein könnte. Die Kreatur war zu klein, um ihm irgendein Leid zuzufügen. Aber als sie sich auf Blue zubewegte – auf Blues Leiche –, trat er schnell vor und stellte sich ihr direkt in den Weg. Die Kreatur blieb stehen. Er konnte sich nicht genau erklären, wie sie seine Anwesenheit spürte, aber sie tat es. Sie stand einen Moment da und legte den Kopf zurück, als würde sie ihn mit unsichtbaren Augen mustern. Dann machte sie ein, zwei vorsichtige Schritte nach rechts, als wollte sie um ihn herumgehen. Als er sich wieder bewegte, um ihr den Weg zu versperren, huschte die Kreatur nach links, blieb aber sofort stehen, als Henry sich rührte. Es war wie ein Spiel unter Kindern. Es hätte vielleicht sogar niedlich ausgesehen, wenn das Wesen nicht so offenkundig entschlossen gewesen wäre, an den Körper seiner toten Frau zu gelangen.
Henry beschloss, das Spiel zu beenden, und machte einen kleinen Satz auf die Kreatur zu, in der Hoffnung, sie damit abzuschrecken. Ihr Kopf explodierte.
Eine erstickende Wolke von Sporen traf Henry Gesicht, blendete ihn für einen Augenblick und verursachte einen krampfhaften Husten. Die Sporen waren in seiner Nase, in seinem Mund, seinen Augen, seinen Ohren. Einen Moment lang konnte er nichts anderes tun, als zu husten und zu würgen, und dann konnte er wieder klar sehen. Die Sporen brannten an den Stellen, wo seine Haut aufgerissen war, aber als er sie wegwischte, bemerkte er, dass der Schnitt an seinem Arm nicht länger blutete. Er blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte, und erblickte die kleine Kreatur, die, jetzt kopflos, wieder die Klippe zu seiner Höhle hochkletterte. Als er ihr mit seinen Blicken folgte, bemerkte Henry, dass der Himmel ein leuchtendes Grün angenommen hatte. Ein Übelkeit erregendes, leuchtendes Grün. Ganz plötzlich hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Dann ebbte die Welle der Übelkeit wieder ab und es wurde eiskalt in seinem Mund.
Henry war schwindelig. Der Fels, auf dem er stand, war nicht mehr fest, sondern bebte wie der Rücken eines riesigen Tieres und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Einen Moment lang schien es so, als stünde er tatsächlich auf einem riesigen Tier, aber dann war er wieder auf festem Boden.
Die Luft begann zu singen. Henrys Schwager Pyrgus hatte ihn einmal mit in eine Simbalastube genommen, und so ähnlich war es jetzt auch, nur dass damals die Musik im Innern seines Körpers geflossen war, während sie ihn jetzt umgab, in einem sich immer weiter ausdehnenden Panorama, das sich bis zum fernen Horizont erstreckte. Er konnte die Musik sowohl hören als auch sehen. Wenn er die Hand ausgestreckt hätte, hätte er sie vielleicht sogar berühren können.
Blue bewegte sich.
Henry drehte sich zu ihr um, aber sie war nicht aufgewacht, nicht von den Toten auferstanden. Ihr Körper schwebte nur, trieb ein wenig auf den tonalen Wellen des Musikmeeres. Die Musik klebte in einem schwarzen Lamento an ihr.
Da waren riesige Vögel. Zunächst glitten sie träge über den fernen Himmel, aber schnell kreisten sie näher, und er sah, dass es Geier waren, die gekommen waren, um von der toten Blue zu fressen. Henry wedelte mit den Armen und schrie, aber einer der Vögel kam immer näher und wurde größer und größer, bis er die Sonne verbarg und dann den ganzen Himmel über seinem Kopf ausblendete. Henry konnte seinen stinkenden Atem riechen, den ekelhaften Gestank von Tod und Verwesung, wie er sich neben Blue niederließ, der armen Blue.
Dann öffnete er seinen Bauch, um ein großes, fahles Ei zu legen. Während Henry noch starrte, kam ein klopfendes Geräusch aus dem Ei, das einen Sprung bekam und dann zerbrach. Aus den zerbrochenen Schalen trat der Road Runner hervor.