Sechzehn

Plötzlich hatte er sie verloren. Im einen Moment war sie noch da, in dieser merkwürdigen kleinen Gegenwelt-Küche, und im nächsten war sie schon fort. Und das galt auch für den Menschen, der bei ihr war, und die Küche selbst. Brimstone erweiterte seine Sinne bis zum Äußersten. Er konnte das Gesumm der Stadt hören, dem eifrigen Saugen eines Flohs an Chalkhills Hintern lauschen, selbst die primitiven, wütenden Empfindungen des Schwarmkrauts weit unter ihnen erreichen, aber das Mädchen, das er für Chalkhill auffinden sollte, war spurlos verschwunden.

Instinktiv griff er nach dem Taschentuch in seiner Tasche, hielt dann aber inne. Das Letzte, was er wollte, war, Chalkhill irgendeinen Hinweis darauf zu geben, dass etwas nicht stimmte. Sie hatten noch keine Vereinbarung getroffen, und wenn Chalkhill herausfand, dass er das Mädchen verloren hatte, dann käme es nie dazu. Das Beste war, ihn vorerst darüber im Unklaren zu lassen, und später, wenn er allein war, dem Geruch des Mädchens wieder nachzuspüren. Vorausgesetzt, sie war nicht tot. Spontane Todesfälle geschahen allenthalben. Zum Beispiel wenn man auf Kakerlaken trat. Im einen Moment hörte man ihr Kribbeln und Krabbeln und ihre kleinen Kakerlakengedanken und im nächsten trampel-quetsch … nichts. Genauso, wie das jetzt bei dem Mädchen passiert war, mit Ausnahme des trampel-quetsch, natürlich. Was für eine Tragödie, wenn sie tot wäre: die Tochter der Kaiserin, die feinste Blüte des Reiches. All das potenzielle Lösegeld wäre futsch. Eine Tragödie. Das wühlte ihn regelrecht auf, sodass er ein Schniefen unterdrücken musste.

Aber vielleicht war sie gar nicht tot. Schließlich hatte es kein Anzeichen für eine Bedrohung gegeben. Vielleicht lag sie nur irgendwo und war schrecklich verletzt. Das würde ihren Wert kaum schmälern; im Gegenteil, es würde ihn in gewisser Weise vielleicht sogar erhöhen. Nun, wenn er jetzt so darüber nachdachte, wäre selbst ihre Leiche noch den einen oder anderen Schilling wert. Die Leute benahmen sich immer so gefühlsduselig, wenn es um Leichen ging und wo man sie beerdigte, besonders in der Kaiserlichen Familie. Es war auf jeden Fall die Sache wert herauszufinden, was geschehen war, selbst wenn sie tot war.

Sie waren zurück im Stretch-Ouklo, Brimstone, George und Chalkhill, auf dem Weg zu Chalkhills Familiensitz in Wildmoor Broads. Chalkhill hatte beim Essen zu viel getrunken, und sein Kopf fiel immer wieder nach vorn, als hätte er Schwierigkeiten, sich wach zu halten. George war ebenfalls still, nachdem er zwei Steaks und anscheinend auch einen der Kellner verspeist hatte, was allerdings bei dem ganzen Gedränge im Restaurant niemand bemerkt zu haben schien. Vielleicht konnte er es riskieren, das Taschentuch kurz mal in die Hand zu nehmen, nur um sich neu darauf konzentrieren zu können.

Mit einem schnellen Blick auf den schlafenden Chalkhill – seine Augen schienen geschlossen zu sein – zupfte Brimstone das Taschentuch aus seiner Tasche und schnüffelte verstohlen daran herum. Sofort bot sich ihm ein Bild völliger Zerstörung dar. Ein Gebäude lag in Trümmern, wenig mehr als ein Haufen staubigen Schutts. Uniformierte Menschen krochen zwischen den Trümmern herum, vermutlich handelte es sich also um ein Gegenwelt-Gebäude, vielleicht dasselbe Gegenwelt-Gebäude, in dem sich die Gegenwelt-Küche befunden hatte, die er zuvor gesehen hatte. Ja, das war wahrscheinlich, das würde einen Sinn ergeben. Aber wenn das Gebäude, in dem sich die Küche befunden hatte, eingestürzt war und sich das Elfenmenschkind zu dem Zeitpunkt in der Küche befunden hatte, dann war die junge Mella jetzt sicher tot – die uniformierten Menschen suchten bestimmt nach ihrer Leiche, wohl in der Hoffnung, ihren Schmuck zu plündern. Aber das wäre ganz in Ordnung, denn dann wären sie an der Leiche selbst nicht interessiert, was bedeutete, dass Brimstone immer noch die Chance hätte, ihrer habhaft zu werden.

Er stopfte das Taschentuch wieder in seine Tasche und lehnte sich zurück, um ein wenig nachzudenken. Wenn er herauskriegen konnte, wo genau das Haus eingestürzt war, dann würde er Chalkhill davon überzeugen müssen, eine Reise in die Gegenwelt zu finanzieren. Bloß für Brimstone natürlich – oder für Brimstone und George, um genau zu sein. Es war immer sicherer, seinen Leibwächter dabeizuhaben. Je eher sie Chalkhill selbst loswurden, desto besser. Aber falls Chalkhill irgendeine Ahnung hatte, dass Brimstone wusste, wo Mella war, auch wenn sie nicht notwendigerweise noch atmete, würde Chalkhill auch mitkommen wollen. Also 

Brimstone dachte nach.

Brimstone dachte nach.

Brimstone dachte nach.

Also … war es unbedingt nötig, Chalkhill davon zu überzeugen, dass er nicht genau wusste, wo Mella war, aber dass er ihren Aufenthaltsort auf zwei Möglichkeiten reduzieren konnte, einen in der Gegenwelt und einen im Elfenreich. Nein, anders. Beide im Elfenreich – je mehr er Chalkhills Aufmerksamkeit von der Gegenwelt ablenkte, umso besser. Danach wäre es nur ein kleiner Schritt, ihn davon zu überzeugen, dass sie sich aufteilen sollten, damit sie schneller und effektiver waren, wobei Chalkhill vergeblich das Elfenreich durchforstete, während Brimstone heimlich diesen Ort der Zerstörung in der Gegenwelt aufsuchte.

Wo also war das Haus eingestürzt?

Brimstone war mit Teilen der Gegenwelt vertraut. Er kannte zum Beispiel die etwas anrüchigeren Teile New Yorks recht gut. Aber der Architekturstil rund um das eingestürzte Haus wirkte überhaupt nicht amerikanisch. Wenn irgendetwas 

Plötzlich kippte und schwankte das Ouklo. Chalkhill öffnete die Augen. Brimstone starrte durchs Fenster. Sie waren über Chalkhills Familienanwesen, einem protzigen, von Zaubern geschützten Herrenhaus mit einem gepflegten Park, das weit genug von der Stadt entfernt war, um bequem und abgeschieden zu sein, und nah genug, um ein Vermögen wert zu sein. (Wie war es einem solchen Idioten wie Chalkhill gelungen, sein Geld zusammenzuhalten? Die Götter wussten, wie oft Brimstone schon versucht hatte, es ihm wegzunehmen.) Ein dauerhafter Gut-Wetter-Zauber trug zu seiner Attraktivität wie zu seinem Wert bei.

Sie saßen zusammen am Swimmingpool, während Chalkhills Butler ihnen Kaffeecocktails servierte. »Bist du mit dem Taschentuch weitergekommen?«, fragte Chalkhill beim ersten Schluck.

»Alles nicht so einfach«, murmelte Brimstone. »Selbst wenn man von einem Wolkentänzer in den Arsch gekniffen worden ist.« Er bemerkte, dass George seine riesigen Füße in den Pool baumeln ließ. George hatte Wasser schon immer gemocht.

Chalkhill ließ seinem Schluck einen Rülpser folgen. »Tja, wenn’s nicht klappt, klappt’s nicht. Dann muss ich eine andere Lösung finden. Androgeous, vielleicht kannst du dafür sorgen, dass Mr Brimstone im Armenhaus unterkommt.«

»Du musst mir nicht gleich so kommen, Jasper«, sagte Brimstone hastig. »Ich habe bloß gesagt, dass es nicht leicht ist. Ich habe nicht gesagt, dass es nicht möglich ist.« Ein Ausdruck von Schläue zeigte sich auf seinem Gesicht. »Wir haben außerdem noch nicht über die Bedingungen gesprochen.«

»Ach, das ist also das Problem«, sagte Chalkhill. »Hier ist mein Angebot. Du findest das Mädchen – du musst ihr nichts tun, sie nicht fangen, bloß finden. Fünfhundert Vorschuss – das gibt dir einen Puffer nach deinem kleinen Aufenthalt in der Anstalt, kannst dir davon ein oder zwei Stück Seife kaufen, ein Bad würde dir guttun – und fünftausend, wenn du sie findest.«

Fünftausend? Das war eine gewaltige Summe: Davon konnte man sich ein Stadthaus kaufen und ein Jahrzehnt ohne Arbeit auskommen. »Zehn«, sagte Brimstone instinktiv.

»Siebeneinhalb«, konterte Chalkhill.

»Abgemacht«, sagte Brimstone. Chalkhill musste ziemlich verzweifelt sein. Siebentausendfünfhundert, plus fünfhundert Vorschuss: zusammen achttausend. Das war mehr, als sie bezahlt hatten, um Scolitandes den Dürren freizukaufen. Chalkhill wollte das Mädchen offenbar unbedingt. Was bedeutete, dass sie mehr als achttausend wert war. Eine interessante Situation.

Aber Chalkhill redete. »Du wirst die fünfhundert in der Tasche haben, bevor du heute weggehst, aber den Rest bekommst du erst, wenn ich das Mädchen geschnappt habe. Es gehört dir, sobald ich sie in Gewahrsam habe.«

»Das ist nicht fair!«, protestierte Brimstone. »Stell dir vor, ich finde sie, aber du bist zu ungeschickt, sie zu schnappen, oder zu blöd, sodass sie dir entwischt? Wenn ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllt habe, will ich auch mein Geld.«

»So lautet die Abmachung. Lass dich drauf ein oder lass es bleiben.«

»Du musst für meine Spesen aufkommen«, sagte Brimstone.

»Was für Spesen?«, fragte Chalkhill. »Du musst doch bloß hier sitzen, schnüffeln und dich konzentrieren. Ich zahl schon für die Cocktails.«

Brimstone schenkte ihm ein wissendes Lächeln. »So einfach ist das nicht, Jasper. Der Wolkentänzer hat mir eine besondere Verfeinerung meiner Sinne vermittelt, und diese Verfeinerung verschafft mir ein mentales Bild von dem Objekt, nach dem wir suchen. Aber es kann sein, dass ich den Ort nicht erkenne. Vielleicht sehe ich, dass sie unter einer Eiche steht und ein Schaf betrachtet, aber ich weiß nicht unbedingt, wo der Baum wächst oder wem das Tier gehört.«

»Steht sie unter einer Eiche und guckt auf ein Schaf?«

»Nein, das war bloß ein Beispiel.«

»Hast du schon irgendeine Idee, wo sie sein könnte?«

Es war Zeit, dachte Brimstone, mit dem Köder zu locken. »Ich sehe ein Bild – keine Eiche und auch kein Schaf –, aber ich bin mir überhaupt nicht sicher, wo das ist.« Was keine komplette Lüge war. Er war sich nicht sicher, wo Mella jetzt war, ob sie noch lebte oder ob sie tot war, aber er war überzeugt zu wissen, wo sie gerade gewesen war. Seinen Erfahrungen mit der Gegenwelt nach war die Szenerie, die er gesehen hatte, keineswegs amerikanisch, doch sie konnte britisch sein. Ihm fiel ein, dass Mellas Vater – Kaiserlicher Prinzgemahl Henry – ein Mensch war, der in der Gegenwelt aufgewachsen war. Was war natürlicher für ein Mädchen in Mellas Alter, als das alte Zuhause ihres Vaters einmal sehen zu wollen?

»Wo, glaubst du, könnte das sein?«, fragte Chalkhill.

»Buthner«, sagte Brimstone prompt. Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Oder Haleklind.«

»Was denn nun?«

»Ich weiß es nicht. Aber es sollte nicht zu schwierig sein, das herauszufinden. Der Ort, den ich erspüre, ist sehr auffallend: eine Felswand mit einer riesigen natürlichen Steinsäule, die zur Skulptur eines lächelnden Drachens mit smaragdgrünen Augen geformt wurde. Ich bin überrascht, dass das nicht als Touristenattraktion bekannt ist. Aber zumindest da, wo sie steht, müsste man sie kennen.« Er stellte seinen Cocktail neben sich ab und fuhr enthusiastisch fort: »Ich denke, ich sollte nach Buthner reisen und ein paar Nachforschungen anstellen. Wenn der Ort, den ich sehe, dort nicht zu finden ist, fahre ich nach Haleklind und suche da.« Er nickte nüchtern. »Dafür brauche ich ein Spesenkonto.«

»Ich habe keine Zeit dafür, dich in zwei verschiedenen Ländern herumlatschen zu lassen«, sagte Chalkhill.

»Ich fürchte, das muss aber sein«, erwiderte Brimstone arglos. »Was für Alternativen haben wir denn?« Er wartete.

Chalkhill schluckte den Köder. »Du könntest beschreiben, was du siehst, und ich kann mir ein Land vornehmen, während du das andere durchsuchst. Damit halbieren wir den Zeitaufwand.«

»Das stimmt«, sagte Brimstone. Er sah Chalkhill bewundernd an, als wäre er auf diesen Gedanken überhaupt noch nicht gekommen.