Dreißig

»Du hast doch nicht schon wieder Hunger?«, fragte Blue erstaunt. »In einer solchen Situation?«

Henry sah sie verständnislos an, dann begriff er, worüber sie sich ausließ. »Nein, nein – dies ist eine Küche und in einer Küche gibt es Messer. Chalkhill hat sicher alle anderen Waffen weggeräumt, aber hier hat er vielleicht etwas übersehen.« Da keine Messer offen herumlagen, begann er, Schubladen aufzuziehen.

Blue sagte: »Daran habe ich gar nicht gedacht.« Auch sie begann, Schubladen zu inspizieren. Einige Augenblicke später waren sie beide mit langen Messern ausgerüstet und Henry hatte außerdem ein Hackmesser in der Hand. »Glaubst du, das genügt, um das Schwarmkraut abzuhalten?«, fragte Blue.

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Henry.

Er führte sie wieder in den Garten zurück und sie gingen bis zum Rand des Grundstücks. Er packte den niedrigen Zaun mit beiden Händen und zerrte mit Gewalt daran herum.

»Was machst du da?«, fragte Blue.

»Ich versuche, ein Stück von diesem Zaun abzubrechen«, sagte Henry. »Besser gesagt, ich versuche eigentlich, zwei Stücke davon abzubrechen …« Er erneuerte seine Attacke, diesmal noch heftiger.

Blue sah ihm zu. Nach einem Augenblick fragte sie: »Wozu?«

»Weil das Holz zauberbeschichtet ist, um das Schwarmkraut abzuhalten – man kann sehen, dass die Pflanzen ihm ganz und gar nicht nahekommen wollen. Ich dachte, wir könnten die Zaunteile vielleicht als Schutzschilde benutzen.«

»Was für ein schlauer Ehemann!«, grinste Blue. Sie drehte sich um und ging wieder zurück zum Haus.

»Wo willst du hin?«

»Schauen, ob ich etwas Schnur oder ein Stück Tau finden kann«, rief ihm Blue über die Schulter zu. »Ich dachte, ich könnte uns Griffe für die Schutzschilde basteln.«

Sie kehrte mit einem Seil zurück, gerade als Henry ein Stück vom Zaun herausriss und es durchbrach, sodass sie beide ein Schild hatten. Blue schnitt das Seil mit ihrem Küchenmesser zurecht und schnürte es über Kreuz um das Stück Holz. So konnten sie ihre Behelfsschilde am Arm tragen. Sie starrte auf das Loch im Zaun. »Kommt das Schwarmkraut nicht da durch?«

»Oh doch«, sagte Henry. »Aber erst, wenn wir weg sind.« Er rüstete sich mit seinem Schild. »Mit ein bisschen Glück hat es schon die ganze Villa aufgefressen, wenn Mr Chalkhill nach Hause kommt.« Er nahm ihre Hand und führte sie vom Loch im Zaun weg zu den Eingangstoren des Gutes. Dahinter lag ein kurzes, gerades Stück Straße, das ganz offenkundig zaubergeschützt war, weil dort überhaupt nichts wuchs. Aber dann hörte die Straße auf und das Schwarmkraut begann. Die Straße war also gar keine echte Straße, sondern nur eine Landebahn für Ouklos. »Bist du so weit?«

Blue schluckte und zog ihr Messer. »Ja.«

Henry öffnete das Tor. »Soweit ich weiß, bestehen die Broads nicht nur aus Schwarmkraut. Es kann zum Beispiel auf Felsen nicht wachsen und es meidet die Grenzkobolde. Ebenso wie manche Dornen und Sträucher, aber da kommen wir wahrscheinlich sowieso nicht durch. Aber es gibt noch Reste von Straßen, wenn wir die überhaupt finden können.«

»Ach, wirklich?« Blue sah ihn überrascht an.

»Bloß Überreste«, sagte Henry. »Ich bin in einer der Historien des Elfenreiches darauf gestoßen. Anscheinend gab es einmal ein richtiges Straßennetz, das durch Magie geschützt war. Das war noch vor der Entdeckung des Flugzaubers. Danach haben die Leute das Straßennetz nicht mehr benutzt und es ist allmählich verfallen. Aber Teile davon existieren bis heute und einige besitzen sogar noch ihren Zauberschutz. Ich dachte, wenn wir das Dickicht um das Gut herum hinter uns haben, könnten wir versuchen, die alten Straßen zu finden, und schauen, wie weit wir auf ihnen vorankommen. Das ist vielleicht nicht der direkteste Weg, aber …«

Er blickte Blue an und sprach den Satz nicht zu Ende.

»Kaum zu glauben, dass wir so nah an der Stadt sind«, sagte Blue. »Wenn wir bloß einen Flieger hätten.«

»Nun, wir haben keinen. Also müssen wir auf die harte Tour da durch.« Er grinste sie an. »Kopf hoch, altes Mädchen – wir haben schon Schlimmeres überstanden.«

Es sollte eine Art Witz sein – allerdings konnte Blue nicht wissen, dass die Engländer gern solche Scherze zu machen pflegten. Sie grinste nicht zurück, sondern starrte stattdessen auf die offene Straße, die so abrupt in der brodelnden Vegetationsmasse endete. »Henry …«, sagte sie.

»Hmm?«

»Nur für alle Fälle …« Sie sah ihn ruhig an. »Du weißt …«

Er wusste es sehr wohl. Trotz all der Messer und Schilde und dem mutigen Gerede von einem alten Straßennetz waren ihre Chancen, lebend die Broads zu durchqueren, äußerst gering. »Hmm«, sagte er noch mal.

»Ich möchte, dass du weißt, dass ich niemals auch nur einen einzigen Augenblick unseres gemeinsamen Lebens bereut habe«, sagte Blue leise. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe.«

Er nahm ihre Hand und sie gingen zusammen die Landebahn vor Chalkhills Gut entlang. Als sie ein paar Meter vom Kraut entfernt waren, lösten sich ihre Hände voneinander, während sie ihre Messer und Schilde richteten. Das Schwarmkraut beugte sich in ihre Richtung, als würde es spüren, dass sie näher kamen. Da gab es noch etwas in der Historie des Elfenreiches, etwas über dieses Kraut, das er ihr nicht erzählt hatte. Es strangulierte einen nicht, wie viele Leute glaubten. Es sonderte ein giftiges Sekret ab, das durch die Dornenkratzer in die Haut eindrang. Nachdem das Sekret den Blutkreislauf erreicht hatte, fühlte man sich erst ruhig, dann wurde man lethargisch und schließlich todmüde. Allmählich breitete sich im ganzen Körper eine Lähmung aus, die alle Körperteile erfasste – außer den Augenlidern, dem Herz und den Lungen. So blieb man hellwach und konnte alles sehen, hören und fühlen, während das Schwarmkraut einem über die Haut kroch und sie Stück für Stück abschälte, um an die Nährstoffe darunter zu gelangen. Es war ein brutal langsamer Tod, der sich Tage oder sogar Wochen hinziehen konnte und der, der Historie zufolge, vielleicht der qualvollste war, den man sich überhaupt vorstellen konnte. Ihm kam der Gedanke, dass er, falls Blue angegriffen würde und er dann noch dazu in der Lage wäre, sein Messer gebrauchen sollte, um ihr dieses Grauen zu ersparen. Er schauderte.

»Ich liebe dich auch, Blue«, sagte er leise, während sie gemeinsam auf das Kraut zugingen.

Das Schwarmkraut wich vor ihren Schilden zurück.

»Das sieht doch hoffnungsvoll aus«, sagte Blue überrascht.

»Das tut es, oder?« Henry war genauso erstaunt. Er blieb stehen, um ihre Lage zu überdenken. »Das Problem werden unsere Rücken sein. Sobald wir durch das Kraut gehen, kann es uns von hinten angreifen. Aber vielleicht können wir einen Trick benutzen, den die Römer eingesetzt haben …«

»Wer sind die Römer?«

»Antike Zivilisation aus der Gegenwelt. Wenn sie in einer Schlacht umzingelt waren, kämpften die Legionäre immer Rücken an Rücken. Auf diese Weise schützte das Schild einen nicht bloß von vorn, es schützte auch den Mann hinter einem; und sein Schild schützte einen selbst. Wenn wir Rücken an Rücken ins Schwarmkraut gehen – uns dabei wie ein Rad drehen, die Schilde immer hochhalten, aufpassen, dass wir immer Rücken an Rücken bleiben, uns mit den Messern den Weg frei schlagen und ganz, ganz vorsichtig sind – könnten wir vielleicht durchkommen.«

»Oder wir könnten«, sagte Blue, »noch etwas vom Zaun abbrechen und uns auch Schilde an den Rücken binden.«

Henry blickte sie mit offenem Mund an, merkte, was er da tat, und schloss ihn wieder. »Ja«, stimmte er ihr zu. »Das könnten wir tatsächlich tun.«

Sie kehrten zum Zaun zurück und Henry brach relativ problemlos noch mehr Latten heraus. Sie banden sie an ihren Rücken und Hintern fest. »Wie sehe ich aus?«, fragte Henry grinsend.

»Sehr attraktiv«, sagte Blue. »Glaubst, dass es funktionieren wird?«

»Ich halte es nicht für ausgeschlossen. Ich bin überrascht, dass das noch niemand ausprobiert hat – ich meine nicht, Zaunlatten an den Rücken zu binden, sondern mit einem zauberbeschichteten Schutzanzug die Broads zu durchqueren.«

»Ich vermute, Fliegen ist einfach leichter«, sagte Blue. »Es will ja niemand ernsthaft durch die Broads wandern und die Natur genießen.«

»Nein, wohl nicht. Sollen wir es versuchen?«

Sie verließen die Landebahn mit einiger Beklommenheit, aber die Schwarmkrautwedel zuckten wie gestochen vor ihnen zurück. Nachdem sie so beinahe hundert Meter zurückgelegt hatten, begann Henry zu kichern. »Das ist wirklich leicht«, sagte er. »Ich glaube, wir gehen sogar in die richtige Richtung. Jetzt müssen wir bloß noch eine Straße finden.« Er drehte sich um, um Blue anzulächeln.

»Ich glaube, ich habe mir die Hand an irgendetwas zerkratzt«, sagte Blue und runzelte die Stirn.