Sie kamen hinter dem Sommerfliederbusch hervor, und Henry, der jetzt vorausging, blieb so plötzlich stehen, dass Blue gegen ihn prallte. »Was machst du denn?«, fragte sie ärgerlich.
Nichts hatte sich verändert. Der winzige Rasen sah immer noch ungepflegt aus, das Haus wirkte unbewohnt, die Glasscheibe in der Hintertür war immer noch gesprungen. In sechzehn Jahren hatte sich nichts verändert!
»Es ist immer noch genauso«, sagte Henry.
»Genauso wie was?«, Blue runzelte die Stirn.
Es war alles etwas kompliziert. Henry hatte sich für Mr Fogartys Tochter Angela, die in Neuseeland lebte, um das Haus gekümmert, als Mr Fogarty, der angeblich gestorben war, ins Elfenreich emigriert war. Dann heiratete Henry Blue und zog selbst ins Elfenreich, wobei er seinen Eltern gegenüber vorgab, er sei nach Neuseeland gegangen, um sich um Mr Fogarty zu kümmern, und Mr Fogartys Tochter gegenüber, er gehe auf die Universität. Er hatte angenommen, dass Angela jemand anderen finden würde, der sich ums Haus kümmerte oder, was wahrscheinlicher war, dass sie es verkaufte. Aber es gab keine Anzeichen für neue Besitzer, keine Anzeichen für einen Hausmeister oder so etwas, keine Anzeichen dafür, dass sich irgendetwas verändert hatte. Er fragte sich, ob unter der Topfpflanze an der Hintertür immer noch ein Ersatzschlüssel lag.
»Genauso wie damals, als ich mich darum gekümmert habe«, murmelte er. Er erinnerte sich daran, wie er über die kleine überwucherte Rasenfläche auf zwei Eindringlinge gestarrt hatte, die sich als Pyrgus und Nymph entpuppten, und wie er Pyrgus nicht erkannt hatte, weil das Zeitfieber ihn hatte altern lassen. Er erinnerte sich daran, wie ihm der alte Mr Fogarty verschlüsselte Botschaften geschickt hatte und dass er sie beinahe nicht entziffert hätte. Er erinnerte sich daran, was für ein Refugium dieser Ort gewesen war, als er seiner Mutter, seiner grässlichen Schwester und den Sorgen über die Scheidung seiner Eltern hatte entrinnen wollen. »Hast du etwas dagegen, wenn wir kurz mal reinschauen?«, fragte er Blue. »Ich weiß, wo vielleicht ein Schlüssel ist.«
»Ich glaube, wir sollten versuchen, eins dieser Taxis zu bekommen«, sagte Blue. »Wir müssen sobald wie möglich wissen, was mit Mella ist.« Ihr Blick fiel auf sein Gesicht. »Liebling, was hast du denn?«
Henry schüttelte den Kopf. »Nichts.« Aber er konnte die Tränen nicht stoppen, die ihm über die Wange liefen.
Unter dem Blumentopf lag ein Schlüssel, und als sie eintraten, war auch die Küche immer noch unverändert. Henry zog eine der Schubladen auf und entdeckte, dass auch sie immer noch vollgestopft war mit Mr Fogartys elektrischem Kleinkram – Drahtknäuel, alte Transistoren, Spitzzangen, Schaltplatten … Etwas in ihm drängte darauf, auch im ersten Stock nachzuschauen, aber er hatte das Gefühl, es nicht ertragen zu können. Außerdem hatte Blue recht: Mella war ihre Priorität, und auch wenn sie nicht in Gefahr war, wenn sie wirklich seine Mutter besuchte, war es auf jeden Fall wichtig, das zu überprüfen, und zwar je früher, desto besser.
»Wir gehen jetzt besser«, sagte er zu Blue. »Der Taxistand ist etwa zehn Minuten entfernt.«
Es gab sogar eine Bushaltestelle, die noch etwas näher war, aber er wollte Blue nicht einer Busfahrt aussetzen: Sie war erst einmal in der Gegenwelt gewesen und die Intimität eines Taxis war doch besser. Außerdem war man mit dem Taxi schneller. Einer Eingebung folgend hob er den Telefonhörer in der Küche ab und stellte erstaunt fest, dass das Telefon immer noch angeschlossen war. »Ich kann uns ein Taxi rufen«, sagte er.
»Hat Mr Fogarty sein ganzes Leben hier gewohnt?«, fragte Blue, während sie warteten.
»Nur einen Teil davon, glaube ich.« Er wusste nicht genau, wann Mr Fogarty das Haus gekauft hatte – er war schon ein alter Mann gewesen, als Henry ihn kennengelernt hatte. Es war ein Fehler gewesen, ins Haus zu gehen: Es wühlte zu viele Erinnerungen in ihm auf und das Warten machte Henry wegen der bevorstehenden Begegnung mit seiner Mutter noch nervöser. »Hör mal, lass uns draußen warten, dann können wir sehen, wenn das Taxi kommt.«
»Okay«, sagte Blue.
Als sie die Hintertür abschlossen, kam Hodge hinter dem Sommerfliederbusch hervor, so, wie er es immer getan hatte, und Henrys Herz setzte aus. Er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, fühlte, wie ihn die Empfindung überwältigte, sechzehn Jahre in der Zeit zurückversetzt worden zu sein. Was er jetzt zu tun hatte, war, hineinzugehen und eine Dose mit Hodges Katzenfutter zu öffnen, während der alte Kater sich um seine Knöchel wand und ihn anmaunzte, damit er schneller machte. Er ließ den Schlüssel im Schloss stecken – seine Finger waren plötzlich zu schwach zum Umdrehen – und trat einen Schritt vor.
»Was machst du denn hier?«, fragte er.
»Bin euch durchs Portal gefolgt«, sagte die Katze und Henry spürte, wie ihn ein Gefühl der Erleichterung durchströmte. Das war natürlich nicht Hodge, sondern Splodge, der ihm so ähnlich sah. Die Katze schaute sich um. »Ich glaube, ich bleibe hier, wenn Sie nichts dagegen haben. Hier kann man besser jagen als im Palast.«
»Aber es ist niemand da, um dich zu füttern«, protestierte Henry. »Und du bist den Gegenwelt-Verkehr nicht gewohnt. Und …«
Aber Blue schnitt ihm entschlossen das Wort ab. »Splodge ist jetzt ein ausgewachsener Kater – er kann für sich selbst sorgen. Er will bloß im gleichen Jagdrevier sein wie sein Vater.« Sie bückte sich, um Splodge hinter den Ohren zu kraulen. Als sie sich wieder aufrichtete, fügte sie hinzu: »Genau wie Mella.«
Mr Fogartys Haus lag am Ende einer Sackgasse in der Stadt. Henrys altes Zuhause lag an einer Landstraße ein paar Kilometer außerhalb von London. Die Fahrt mit dem Taxi, wenn man den Verkehr berücksichtigte, dauerte gewöhnlich etwa eine halbe Stunde. Als sie einstiegen, sagte Blue: »Es tut mir leid, Henry.«
»Was denn?«
»Dass ich dich gezwungen habe mitzukommen. Ich hätte Mella auch allein zurückholen können. Ich habe nicht daran gedacht, wie sehr dich diese Reise aufwühlen würde.«
Henry lehnte sich zurück und seufzte. »Ich hätte dich nicht allein gehen lassen. Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich will nicht – und um die Wahrheit zu sagen, ich fürchte mich immer noch davor, meine Mutter wiederzusehen –, aber ich hätte dich nie mit dieser Sache allein gelassen, wirklich nicht. Mella ist ja auch meine Tochter.« Er grinste schwach und zuckte mit den Schultern. »Ich sollte derjenige sein, der sich entschuldigt. Nein wirklich, ich entschuldige mich. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich es dir so schwer gemacht habe.«
Blue sagte: »Würde es dir helfen, wenn deine Mutter dich nicht erkennen würde? Wenn du für sie ein absoluter Fremder wärst, der zufällig bei mir ist?«
»Das wird wohl kaum klappen«, sagte Henry. »So sehr habe ich mich in den sechzehn Jahren auch nicht verändert.«
»Ja, aber würde es dir helfen?«
»Oh, vermutlich«, sagte Henry. »Andere Leute hat sie immer sehr freundlich behandelt. Nur auf mich ist sie permanent losgegangen. Und auf Dad.«
Blue holte ein Stück Papier aus der Tasche und faltete es auseinander, sodass eine winzige weiße Tablette sichtbar wurde, wie die homöopathischen Kügelchen, die sein Vater immer gegen die Migräne genommen hatte. »Nimm die hier.«
Misstrauisch starrte Henry auf die Tablette. »Was ist das?«
»Das ist eine Verformungstablette. Ich habe sie für Mella besorgt – heutzutage nehmen Teenies die oft. Sie verändert das Gesicht. Zeitweilig. Die jungen Leute nehmen sie zum Spaß, als würden sie eine Maske aufsetzen. Im Elfenreich kann man damit natürlich niemanden reinlegen, aber in dieser Welt ist niemand Magie gewöhnt. Deine Mutter würde dich bestimmt nicht erkennen. Es sei denn, sie erkennt deine Stimme, deinen Gang oder so etwas.«
»Ich könnte meine Stimme verstellen und komisch gehen«, sagte Henry prompt. »Meinst du das ernst? Wird die wirklich mein Gesicht verändern?«
»Ja, natürlich.«
»Wie lange hält die Wirkung an?«
»Nur ein paar Stunden. Höchstens drei.«
»Wie lange dauert es, bis die Wirkung einsetzt?«
»Die Veränderung tritt allmählich ein. Dauert vielleicht fünf Minuten, bei einigen Leuten vielleicht eine oder zwei Minuten länger. Aber wenn du sie jetzt nimmst, siehst du bestimmt ganz anders aus, wenn wir da ankommen.«
»Sehe ich besser aus oder eher hässlich?«
»Ach, Henry! Das ist doch völlig egal.«
Henry schluckte die Tablette. Er fuhr sich übers Gesicht, reckte dann den Hals, um sich im Rückspiegel zu mustern. »Wie sehe ich aus?«
»Wie du selbst!«, zischte Blue. »Ich sagte doch schon, die Veränderung tritt allmählich ein. In den nächsten drei Minuten zumindest wirst du gar nichts bemerken.«
»Sag mir Bescheid, wenn irgendwas passiert.«
Das Taxi verließ die Stadt und fuhr gemächlich eine von Bäumen gesäumte Straße entlang. Henry tastete wieder sein Gesicht ab, als der Fahrer die Glasscheibe zurückschob und fragte: »Hier irgendwo, oder, Chef?«
Henry hörte auf, an seinem Gesicht herumzufummeln, und sah prüfend auf die Straße. »Die nächste rechts«, sagte er. Ängstlich blickte er Blue an. »Hat es funktioniert?«
»Wunderbar«, sagte Blue. Sie lächelte spitzbübisch. »Deine eigene Mutter würde dich nicht erkennen.«
Der Fahrer bog nach rechts ab und trat dann auf die Bremse. »Mensch!«, keuchte er. »Geben uns überhaupt keine Vorwarnung oder was, Kumpel?«
Die Straße vor ihnen war abgesperrt und nicht weniger als drei Polizeiwagen parkten neben der Absperrung. Ein Polizist in Uniform löste sich von einer Gruppe seiner Kollegen und schlenderte zu ihnen hinüber.
»Was ist denn los, Chef?«, fragte der Fahrer.
Der Polizist beugte sich hinunter, warf einen Blick auf Blue und Henry und sagte dann zum Fahrer: »Ich fürchte, Sie können da nicht weiterfahren.«
»Das sehe ich. Was ist denn los?«
Der Polizist blickte wieder Blue und Henry an. »Wohnt einer von Ihnen beiden dort?«
Henry schüttelte sofort den Kopf. »Nein. Keiner.« Er dachte, Blue könnte vielleicht etwas sagen und kniff sie ins Bein, damit sie den Mund hielt.
Der Wachtmeister wirkte jetzt etwas gelöster. »Weiter oben ist ein Haus eingestürzt«, sagte er zum Fahrer. »Überall auf der Straße sind Trümmer. Bis sie das geräumt haben, kommt man nicht durch.«
»Meine Herren«, murmelte der Fahrer. »Die bauen die Häuser auch nicht mehr so wie früher.«
»Ist nicht einfach eingestürzt«, sagte der Polizist. »Es gab eine Explosion. Die Jungs von der Feuerwehr glauben, dass es vielleicht die Gasleitung war, aber ich habe noch nie gesehen, dass ein Leck in der Gasleitung eine solche Zerstörung nach sich gezogen hat. Das ganze Haus ist nur noch ein Haufen Schutt. Als hätte eine Bombe eingeschlagen.«
»Was ist mit meinen Fahrgästen?«, fragte der Fahrer und deutete mit einem Kopfnicken auf Blue und Henry. »Können sie zu Fuß weitergehen? Sie wollen zu einem der Häuser an der Straße.«
Der Polizist steckte den Kopf durch das Fenster. »Welches denn?«, fragte er Henry.
»Chatleigh«, sagte Henry. Er schluckte. »Es hat keine Hausnummer.« Er hatte ein ganz schlechtes Gefühl dabei, tatsächlich ein sehr schlechtes Gefühl.
»Haben Sie oder die junge Dame Freunde in Chatleigh, Sir?«
»Meine Mutter wohnt dort«, sagte Henry. »Warum fragen Sie, Herr Wachtmeister?«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, auszusteigen, Sir? Sie beide.«
Henry ergriff Blues Hand und öffnete die Taxitür. »Komm«, murmelte er. Er wusste schon, was der Polizist sagen würde, aber er wollte nicht einmal daran denken.
Der Polizist sah sie nüchtern an. »Es tut mir furchtbar leid, Sir. Chatleigh ist das Haus, das eingestürzt ist. Im Moment suchen sie in den Trümmern nach Leichen.«