Sieben

Chalkhill musste in der Welt draußen aufgestiegen sein. Neben dem Haupteingang schwebte ein Stretch-Ouklo. Brimstone kletterte mit einem starken Gefühl der Beklommenheit hinein. Das Problem war, dass Brimstone beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, versucht hatte, ihn der Jormungand-Schlange zu opfern. Zugegeben, das war gut sechzehn Jahre her, aber Chalkhill konnte das doch sicher nicht vergessen haben? Er beschloss, es im Moment nicht anzusprechen, für alle Fälle, und fragte stattdessen: »Woher wusstest du, wo ich war?«

»Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass du wahnsinnig geworden warst, und es gibt im Elfenreich nur ein paar Anstalten wie diese. Ich habe sie von jemandem abklappern lassen.«

George kletterte ebenfalls in den Ouklo, was Brimstone ein Gefühl der Sicherheit gab. »Wie hast du ihn davon überzeugt, mich gehen zu lassen?«

»Philenor? Ich habe ihn natürlich bestochen.« Chalkhill sah völlig anders aus als beim letzten Mal, als Brimstone ihn gesehen hatte. Zunächst einmal hatte er abgenommen, und außerdem kleidete er sich viel flotter. Er klopfte mit seinem Rattan-Spazierstock an die Decke des Ouklo und sein Fahrer ließ den Startzauber an. Die Kutsche hob sich sanft und überraschend schnell für ein Fahrzeug dieser Größe und dieses Gewichts.

Brimstone blickte durch das Fenster. Die Double Luck Mountain Irrenanstalt verschwand in der Ferne. Aus dieser Höhe war bereits klar zu erkennen, dass die Gebäude und die Anlagen so angelegt worden waren, dass sie von oben gesehen das Wort Philenor ergaben. Der gute Doktor hatte wirklich ein gesundes Ego. Brimstone wandte sich ab. Jetzt war es Zeit für die entscheidende Frage. Er machte das Handzeichen, das George in höchste Alarmbereitschaft versetzte, und fragte: »Was willst du von mir, Jasper?«

In früheren Zeiten hätte Chalkhill jetzt einen verletzten Gesichtsausdruck zustande gebracht. Er hätte seine Gesichtszüge zu einem gekränkten Ausdruck verzogen. Einer seiner grässlichen modischen Zauber hätte »Gekränkt!« auf seiner Stirn aufblitzen lassen. Er hätte ein kleines, trauriges Lächeln aufgesetzt und irgendwelchen Unsinn über alte Freunde und Geschäftspartner gebrabbelt. Aber der neue, verbesserte Chalkhill tat nichts dergleichen. Stattdessen stellte er selbst eine Frage.

»Stimmt das mit diesem Wolkentänzer?«

Es stimmte, aber warum wollte Chalkhill das wissen? Brimstone starrte ihn misstrauisch an. Er wog das Für und Wider einer Lüge ab, ohne so recht zu einem Entschluss zu kommen. Die wichtige Botschaft war, dass die Geschichte mit dem Wolkentänzer aktenkundig war – zumindest in den Akten der Irrenanstalt, die er gerade verlassen hatte. Wenn Chalkhill Philenor bestechen konnte, um ihn gehen zu lassen, dann kam er gewiss auch an eine Kopie seiner Akte. Vorsichtig sagte Brimstone: »Ja.«

»Lord Hairstreak hat ihn auf dich angesetzt, soweit ich weiß?«

Brimstone zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich. Der Wolkentänzer hat es mir nie gesagt.«

Der Chalkhill von früher blitzte kurz einmal auf, als sich der alte Perversling die Lippen leckte. »Was ist geschehen? Ganz genau?«

Es war wirklich schwierig zu ermessen, wohin dies führte, es sei denn, dass Chalkhill sich nur am Unglück anderer weiden wollte. Was Brimstone sehr gut nachvollziehen konnte, da er oft das Gleiche tat. »Was geschah, war … «, begann er.

Was geschah, war, soweit er sich daran erinnern konnte, dass diese Kreatur ihn am Rande der Buthner-Wüste in der Nähe der Berge des Wahnsinns aufgespürt hatte. Wolkentänzer waren Blutfresser, deren Heimat sich in einer anderen Realitätsebene als dieser befand. Wenn sie überwechselten, war es schwierig für sie, eine Körperform zu bewahren, aber ihre körperlose Existenz in dieser Welt war genau das, was ihnen ermöglichte, die Gedanken der Elfen zu erforschen und ihre Geheimnisse zu ergründen. Zu der Zeit hatte Brimstone ein besonders gefährliches Geheimnis gehütet – es war ihm gelungen, einen Engel zu stehlen –, und er hatte wie verrückt darum gekämpft, es für sich zu behalten.

Brimstone schauderte. Er konnte sich noch an die Szene erinnern, als wäre sie gestern gewesen. Ein roter Sonnenuntergang versprach einen schönen nächsten Tag. Der Engel war sicher eingesperrt und konnte sich nicht rühren. Alles schien nach Plan zu laufen. Dann bemerkte er am äußersten Rand seines Blickfeldes eine Bewegung wie von einem Staubteufel oder Dschinn, der sich ihm näherte. Aber als er näher kam, merkte er, dass es nichts davon war, und als er endlich begriffen hatte, womit er es zu tun hatte, war das Ding schon fast auf ihm drauf.

Manche Gelehrte behaupteten, dass Wolkentänzer als Spezies entfernte Verwandte der Vampire seien, aber für Brimstone sah dieses Wesen einem Ghoul viel ähnlicher. Es war groß, dünn, hatte einen Umhang und Reißzähne und war fahl und durchsichtig wie ein Gespenst. Trotz seiner Zerbrechlichkeit war es zu einer physischen Attacke fähig – man hatte von Tänzern gehört, die ihre Opfer bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugt hatten –, aber das war nicht einmal die größte Gefahr. Die größte Gefahr bestand darin, dass dieses Ding einem in die Gedanken eindringen konnte; und genau das tat es jetzt.

Die meisten Menschen wären sofort zusammengebrochen. Aber Brimstone war ein ausgebildeter Dämonologe, der neun Jahre an der Arkan-Akademie verbracht und die mentalen Techniken gelernt hatte, die ihm in den guten alten Tagen, bevor Kaiserin Blue alles verdarb, erlaubt hatten, mit Dämonen zu kommunizieren. Die Übungen hatten seinen Verstand bis zu einem Grad gehärtet, der ihm jetzt ermöglichte, der ersten Attacke zu widerstehen.

Als er die Kreatur abgewehrt hatte, schuf Brimstone eine imaginäre Seekiste aus dicker Eiche mit Metallbändern und nutzte sie, um alle Gedanken und Erinnerungen an den Engel darin zu verstauen. Dann umwickelte er sie mit imaginären Ketten, verschloss die Ketten mit dreifachen Vorhängeschlössern und verschluckte den imaginären Schlüssel. Der Wolkentänzer kam wieder zu Kräften und warf sich auf die imaginäre Kiste. Brimstone konzentrierte sich, sodass die Kiste dem Angriff widerstand. Der Wolkentänzer verdoppelte seine Anstrengungen, aber die Kiste blieb unversehrt. Brimstone gestattete sich ein kleines Lächeln.

Das kleine Lächeln war vermutlich ein Fehler, weil es den Wolkentänzer in einen ordentlichen Wutanfall versetzte. Er tauchte hinunter in Brimstones Kehle auf der Suche nach dem Schlüssel, statt sich vergeblich gegen die undurchdringliche Kiste zu werfen. Brimstone begann, ihn mental an den Füßen zu packen und wieder rauszuzerren. Der Wolkentänzer zuckte, glitt hoch in seinen Schädel und begann in einem Anfall von Pikiertheit, methodisch Brimstones Gehirn auseinanderzunehmen.

»Danach war alles ein bisschen verschwommen«, schloss Brimstone.

»Aber er hat das mit dem Engel nie herausgekriegt?«

»Nein, das hat er nie herausgekriegt.«

»Er hat dich bloß völlig bekloppt gemacht?«

Brimstone schnaubte. »Das passiert nun mal, wenn einem das Gehirn auseinandergenommen wird.«

Chalkhill leckte sich wieder die Lippen, aber diesmal ohne diesen perversen Ausdruck in den Augen, was hieß, dass er etwas Wichtiges fragen wollte. »Stimmt es, dass man, wenn man von einem Wolkentänzer angegriffen wird, hinterher sehr viel wahrnehmungsfähiger ist?«

»Normalerweise ist man hinterher tot.«

»Ja, aber wenn man hinterher nicht tot ist. Wie in deinem Fall, Silas. Wenn es einen nicht tötet, stimmt es, dass man anschließend sehr wahrnehmungsfähig ist?«

Brimstone stützte lässig seinen Ellbogen auf den Fensterrand. Chalkhill plante natürlich, ihn zu töten, so wie die meisten seiner früheren Freunde, aber vermutlich noch nicht gleich. Seine Fragen, seine Haltung, die unwillkürlichen Regungen seiner Ohren, all das offenbarte, dass er etwas vorhatte – etwas, wofür er Brimstones Hilfe brauchte. Brimstone machte das Zeichen, das George wieder in Bereitschaft versetzte, und sagte: »Oh ja, sehr wahrnehmungsfähig.« Er beugte sich vor, um Chalkhill ins Gesicht zu starren. »Wirklich sehr wahrnehmungsfähig.« Er ließ sich in den Ledersitz des Ouklos zurücksinken. »Das heißt, wenn sie einem das Gehirn wieder zusammengesetzt haben.«

Aber Chalkhill ignorierte den Sarkasmus, während er enthusiastisch etwas Weißes, Spitzenbesetztes aus seiner Tasche zog, mit dem er Brimstone vorm Gesicht herumwedelte.

Brimstone zog schnell den Kopf weg. »Was ist das?«

»Das ist ein Taschentuch. Menschen benutzen so etwas.«

»Wofür?«

»Sie putzen sich damit die Nase.«

Brimstone starrte das Taschentuch an, dann Chalkhill. »Was machen sie mit dem Resultat?«

»Nachdem sie sich geschnäuzt haben? Sie wickeln es ein und stecken es in die Tasche.«

Brimstone schauderte. »Eklig. Und ich wäre dir dankbar, wenn du aufhörst, damit vor meinem Gesicht herumzuwedeln.«

»Keine Sorge«, sagte Chalkhill. »Damit hat sich noch niemand geschnäuzt.« Er beugte sich vor. »Hör mal, Silas, ich möchte, dass du daran riechst.«

»Nein«, sagte Brimstone.

»Es gehört einer … gewissen Person.«

»Wem?«, fragte Brimstone sofort.

»Ich würde es vorziehen, dir das nicht zu sagen.« Chalkhill verzog das Gesicht, um einen mitfühlenden Ausdruck darauf zu zaubern. »Es wäre besser für dich, es nicht zu wissen.«

Was sehr wohl stimmen konnte, dachte Brimstone, da Chalkhill eindeutig dabei war, ihn wieder in einen seiner verworrenen Pläne hineinzuziehen. »Was willst du, Chalkhill?«, fragte er angesäuert.

»Ich möchte, dass du hieran riechst und dann herausfindest, wo der Besitzer jetzt ist.« Er lächelte. »Wie ein Bluthund.« Das Lächeln verschwand. »Das kannst du doch, oder? Wo du so wahrnehmungsfähig bist?«

Brimstone zögerte. Das konnte er wahrscheinlich. Er hatte gewiss ein paar ganz ungewöhnliche Kräfte entwickelt, seit Dr. Philenor sein Gehirn reorganisiert hatte. Er konnte zunächst einmal George sehen, auch wenn das sonst niemand konnte; und er konnte hören, wie Kakerlaken miteinander redeten. Jemanden wie einen Bluthund aufzuspüren war vielleicht gar nicht jenseits seiner Möglichkeiten. Und selbst wenn er es nicht konnte, war es vielleicht gut für ihn, wenn er so tat. Auch wenn er jetzt aus der Anstalt befreit war, so waren seine Mittel begrenzt – ein Großteil seines Besitzes war verkauft worden, um für seine Behandlung aufzukommen –, und in der Vergangenheit war Chalkhill immer auch eine gute Geldquelle gewesen. Brimstone blickte ihn ruhig an.

»Und was ist dabei für mich drin?«, fragte er.