Fünfundvierzig

Die vierbeinige Kreatur ragte noch über Mellas Schulterhöhe hinaus. Sie war das bei Weitem Furchterregendste, das sie je gesehen hatte. Sie hatte den Körper eines riesigen Löwen, war gelbbraun und muskelbepackt und hat gewaltige Klauen. Es hätte schlicht ein riesiger Löwe sein können, aber zwei Dinge passten nicht dazu. Erstens ähnelte ihr Hinterteil überhaupt nicht dem eines Löwen. Es verjüngte sich und bog sich zu einem bösartigen Skorpionstachel von der Größe eines Ogerspeers hoch. Zweitens – und das bekam Mella einfach nicht ganz auf die Reihe – befand sich anstelle des Löwenkopfes der breite, rotbraune Schädel eines Menschen. Oder vielleicht nicht genau der eines Menschen, denn die Nase war abgeflacht, die Zähne waren riesig, und die Zunge hing aus dem Maul wie die eines Hundes.

»Oh meine Götter!«, flüsterte Mella II.

Mella trat einen kleinen Schritt zurück. Sie schob sich instinktiv zwischen die Kreatur und ihre neu entdeckte Schwester. Nicht dass sie ihr irgendeinen echten Schutz hätte bieten können. Ein einziger Satz, und das Ding hätte sie gepackt. Ein einziger Prankenhieb, und sie wären tot.

»Was ist das?«, keuchte Mella II.

»Das ist das, worüber du gerade gesprochen hast«, sagte Mella leise. »Das ist ein Mantikor. Hast du noch nie einen gesehen?«

Mella II starrte mit Augen so groß wie Untertassen auf dieses Ding. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und du?«

»Auch nicht. Nur Bilder.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Ich hätte nie gedacht, dass die so groß sind.«

»Glaubst du, wir sollten weglaufen?«, fragte sie Mella II.

Mella hatte sich das auch schon gefragt. Die Wahrheit war, dass sie nicht viel über Mantikore wusste, obwohl sie ein bisschen was über sie gelesen hatte. Manche wilden Tiere verfolgten und töteten einen, wenn man weglief, ließen einen aber in Ruhe, solange man stehen blieb. Bei anderen war es genau umgekehrt. Der Trick war, herauszukriegen, zu welcher Sorte das Tier gehörte, das man vor sich hatte, und Mella hatte keine Ahnung wie. Sie war sich nicht mal sicher, ob Mantikore wirklich wilde Tiere waren. Gehörten magische Kreaturen nicht in eine andere Kategorie? Sie wusste nur, dass sie unberechenbar waren. Aber das Entscheidende war, dass diese magische Kreatur weder wie ein Löwe brummte noch wie ein Bulle auf den Boden trampelte, wie eine Katze die Ohren anlegte oder wie ein Wolf die Zähne fletschte. Sie machte, kurz gesagt, keinerlei Drohgebärde. Sie rührte sich überhaupt nicht, ja wirklich – sie verfolgte sie nicht, jagte sie nicht, kroch nicht auf sie zu oder sonst etwas.

Mella fragte sich, wer da gesprochen hatte. Vielleicht war das gar kein wilder Mantikor. Vielleicht hatte dieser Mantikor ein Herrchen. Wenn Lord Hairstreak plante, Mantikore als Armee einzusetzen, musste es ja auch einen Weg geben, sie zu trainieren.

»Es ist das Beste, wenn wir es nicht erschrecken«, sagte sie zu Mella II. Sie sah sich nach dem Halter des Tieres um. »Hallo …«, rief sie, aber leise, um das Biest nicht zu erschrecken. »Können Sie herauskommen und sich zeigen?«

»Mit wem redest du?«, fragte Mella II. Trotz ihrer vorherigen Frage sah sie nicht so aus, als wollte sie gleich losrennen.

Der Mantikor rollte die Zunge in sein furchterregendes Maul zurück. »Ich vermute, sie glaubt, sie spricht mit meinem Herrchen«, sagte er leicht nuschelig.

Mella hatte das Gefühl, als presse eine Klaue ihr Herz zusammen. »Mantikore können sprechen?« Darüber stand nichts in ihren Büchern.

Der Mantikor schüttelte den Kopf. »Nur dieses Exemplar hier. Ich habe eine besondere Gabe und etwas zusätzliche Magie von unserem Anführer bekommen.«

Wer war ihr Anführer und wie konnte er einen Mantikor zum Sprechen bringen? Aber bevor Mella noch fragen konnte, sagte Mella II: »Wir werden dir nichts tun.«

Der Mantikor reckte sich: Er war sogar größer als beide Mädchen zusammen. Er hob eine Pfote und fuhr Klauen aus, die wie Säbel aussahen. Er grinste ein wenig und zeigte dabei Fangzähne, die einem Hai zur Ehre gereicht hätten. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, sagte er.

Ein Mantikor mit Sinn für Humor! Diese Kreatur konnte ihnen mit einem Biss den Kopf abreißen, aber irgendwie begann Mella sich zu entspannen. »Sagten Sie, Sie könnten uns helfen?«, fragte sie tastend.

»Wenn ihr mit mir kommen mögt …«, sagte der Mantikor. »Ich heiße übrigens …« Das kam noch nuscheliger heraus, als er ohnehin schon sprach, aber es hörte sich irgendwie an wie »… Aboventoun.«

Mella blickte Mella II an. »Entschuldigen Sie«, sagte sie zu dem Mantikor. Die beiden Mädchen steckten die Köpfe zu einer eiligen Konferenz zusammen.

»Er will, dass wir mit ihm kommen.«

»Ja, ich hab’s gehört.«

»Was glaubst du?«

Mella II schob sich um Mella herum, um den Mantikor anzusehen. »Er ist schrecklich groß.«

»Ja, nicht? Du weißt wahrscheinlich nicht, was sie essen?«

»Du meinst, zum Beispiel Elfen?«

»Wir sind Vegetarier«, wandte der Mantikor freundlich ein.

»Dies ist ein Privatgespräch«, sagte Mella entschlossen. »Bitte lauschen Sie nicht.«

»Sie sind Vegetarier mit diesen Zähnen?«, fragte Mella II verblüfft.

»Die sind zum Kämpfen, nicht zum Fressen«, sagte der Mantikor. »Meine Vorfahren sind nicht evolutionär entstanden, sie wurden künstlich geschaffen.«

Mella II beugte sich dicht zu Mella und flüsterte: »Was, wenn er einer von Hairstreaks Mantikoren ist?«

Mella hatte versucht, nicht an Lord Hairstreak zu denken, der sie inzwischen sicher verfolgte. Sie sah Aboventoun an, der sie seinerseits höflich betrachtete. »Warum wollen Sie, dass wir mit Ihnen gehen?«, fragte sie mutig.

»Also, auf jeden Fall nicht, um euch zu fressen. Unser Anführer möchte euch treffen.«

Die Mädchen sahen erst einander und dann wieder den Mantikor an. »Woher weiß euer Anführer, dass wir hier sind?«, fragten sie wie aus einem Mund.

»Unser Anführer weiß alles.«

Mella hatte das unbehagliche Gefühl, dass Anführer, die alles wussten, normalerweise Größenwahnsinnige waren. Dieser Mantikor schien friedlich zu sein, aber er sah weiterhin lebensgefährlich aus. Wollte sie wirklich noch einen seiner Art treffen?

Plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung, begriff sie, dass sie genau das wollte. Sie traute dem Mantikor und sie wusste auch, weshalb. Die Kreatur war ein Mischling. Haleklinds Zauberer hatten Teile eines Löwen, eines Skorpions, eines Menschen und Teile von wer weiß was noch alles genommen (diese Zähne!), um seinen ersten Vorfahren zu erschaffen. Für die Kreatur selbst musste das Ergebnis schlicht und einfach bestürzend sein. Dieser Mantikor war eine außergewöhnliche Mischung, hervorgegangen aus seltsamen Gedanken und verwirrenden Begierden. Mella wusste das, weil sie selbst ein Mischling war, halb Mensch, halb Elfe. Sie und der Mantikor waren beide vom selben Schlag.

Sie wandte sich an Mella II. »Ich bin dafür, dass wir mit ihm gehen«, sagte sie.

»Ich auch«, sagte Mella II, ohne zu zögern.

 

Sie waren tiefer im Wald, als sie gedacht hatten, und der Weg zu den Gefährten des Mantikors – er nannte sie seine Herde – war länger, als Mella erwartet hatte. Als sie zwischen den Bäumen hervortraten, waren ihre Füße wund und sie war erschöpft. Sie keuchte immer noch vor Anstrengung. Der Mantikor hatte zwar versucht, sich ihrer Geschwindigkeit anzupassen, aber seine langen Beine legten, selbst wenn er schlenderte, eine enorme Wegstrecke zurück. Sie stand stocksteif da und fragte sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mella II trat aus dem Wald. Gemeinsam starrten sie hinaus auf die offene Ebene.

»Oh ihr Götter!«, flüsterte Mella.

Es war ein Spektakel wie direkt aus dem Traum eines Wahnsinnigen. Die gesamte Ebene war schwarz von Mantikoren – von Hunderten, vielleicht Tausenden, die sich auf der Fläche tummelten, so weit das Auge reichte. Sie hatten gegrast, aber als die Mädchen aus dem Wald kamen, hoben sich die Köpfe wie eine riesige Welle auf dem unermesslichen Meer und drehten sich zu ihnen um. Die Augen der Tiere leuchteten im Morgenlicht.

»Welcher ist der Anführer?«, murmelte Mella II.

»Ich bringe euch zu ihm«, sagte ihr Bote. »Folgt mir einfach.« Aboventoun schritt voran, und die Herde teilte sich, um ihn durchzulassen.

»Ich gehe da nicht rein«, sagte Mella entschlossen. Einem einzelnen Mantikor zu folgen war schon beängstigend genug, aber in eine Herde von Tausenden zu marschieren überstieg ihren Mut.

»Wir müssen aber«, sagte Mella II.

»Warum? Warum müssen wir?« Aboventoun konnte vielleicht sprechen, aber dies waren wilde Biester, gefährlich und unberechenbar.

»Weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen«, sagte Mella II entschieden. »Wir müssen zurück zum Palast und wissen nicht wie, und Aboventoun ist die einzige Kreatur, die angeboten hat, uns zu helfen.« Sie blickte den wartenden Aboventoun an. »Es tut mir leid, dass ich Sie eine ›Kreatur‹ genannt habe«, fügte sie hinzu.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Aboventoun. »Genau das bin ich doch. Nun, kommt ihr jetzt, ehe unser Anführer ungeduldig wird?«

Mella zögerte noch einen Moment und dann ging sie zusammen mit ihrer Schwester weiter. Mella II hatte recht: Sie wussten ganz einfach nicht, was sie sonst tun sollten.

Die Herde teilte sich, um sie durchzulassen. Aboventoun lief voraus, ohne sich umzusehen. Der Geruch der riesigen Tiere hüllte sie ein. Er war nicht unangenehm, und nach ein paar Schritten wurde er sogar tröstlich, als wären sie selbst Teil einer schützenden Herde geworden. Ein paar der Kreaturen streckten die Köpfe aus, um an ihnen zu schnüffeln. Keine zeigte irgendwelche Anzeichen von Aggression.

Da sie von Mantikoren umringt waren, konnten sie nichts außer Aboventouns großen schwingenden Skorpionstachel sehen.

Plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, zerstreuten sich die Mantikore und gaben eine große kreisrunde Fläche frei. Mitten darauf stand 

Aboventoun senkte den Kopf und beugte dann langsam und vorsichtig seine Vorderbeine. Mella fragte sich, was um der Götter willen er da eigentlich tat, und begriff dann, dass er kniete. Sie starrte mit offenem Mund auf das Ding, vor dem er kniete.

Mella hatte angenommen, dass der Anführer der Mantikore selbst ein Mantikor war. Oder vielleicht eine Mantikorin. Aber sie hätte sich vielleicht fragen sollen, wie ein stummes Biest, ganz gleich, wie mächtig es war, ein anderes seiner Art davon hätte überzeugen können zu sprechen. Was sie jetzt anblickte, war riesig, stark und wild, aber ganz gewiss kein Mantikor. Es war gewaltig, hatte Fangzähne, einen Elfenleib und war gefiedert, hatte wilde untertassengroße Augen und Würgehände. Es erhob sich und überragte sie, Aboventoun und jede andere Kreatur in der Nähe. Sie konnte es sehen, sie konnte es riechen – es hatte einen schweren, würzigen Geruch –, und dennoch schien es auf irgendeine merkwürdige Weise gar nicht ganz da zu sein.

Es erschnüffelte ihren Geruch durch seine zuckenden Nüstern und lächelte dann ein wissendes Lächeln. »Ich bin einmal deiner Mutter begegnet«, sagte es mit einer Stimme, die in Mellas Kopf widerhallte.

Mella öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Es schien ihr ganz unmöglich zu sprechen. Wenn die Mantikore erschreckend waren, dann war dieses Ding der blanke Horror. Ich bin einmal deiner Mutter begegnet? Mella versuchte wieder zu sprechen und scheiterte erneut.

»Ich bin Yidam«, sagte die Kreatur. »Aber du kannst mich auch George nennen.«