Chalkhill sah ein eingestürztes Haus. Er unterdrückte ein Kichern, dann war er schnell wieder kalt und klar. Dies war nicht der Augenblick, um sich am Unglück anderer zu weiden. Er schlang den Schattenmantel fest um sich und trat hinter einen Baum in der Nähe, um die Situation zu überdenken.
Zunächst einmal hatte es offensichtlich einen Unfall gegeben, und zwar einen großen. Er vermutete, dass jemand in dem zerstörten Haus eine illegale Fabrik zur Herstellung von Sprengstoff betrieben hatte. So etwas passierte andauernd in der Gegenwelt: Da die Menschen keine Magie hatten, setzten sie wie besessen Sprengstoff ein. Es war offenkundig eine illegale Fabrik, da überall Polizisten auf der Suche nach Indizien herumkrochen.
Aber warum nur war Brimstone hierhergekommen? Brimstone war tatsächlich hierhergekommen, da Chalkhill den alten Narren sehen konnte, wie er sich auf der anderen Straßenseite hinter einem Busch versteckt hielt. Die Antwort lag auf der Hand: Brimstone wusste, dass Mella eine illegale Sprengstofffabrik in der Gegenwelt betrieb. Die Frage war: War Mella bei der Explosion umgekommen? Das schien absolut möglich zu sein. Teenager waren für ihre Sorglosigkeit berüchtigt, und Teenager, die mit Sprengstoffen handelten, jagten sich immer mal wieder in die Luft. Die zweite Frage war: Konnte Chalkhill daraus einen Vorteil für sich ziehen?
Das Einfachste wäre, die Lorbeeren für ihren Tod einzuheimsen, Bericht zu erstatten und Lord Hairstreak mitzuteilen, dass er sie in die Luft gesprengt hatte. Irgendein Körperteil, irgendetwas, dass er unter den Trümmern finden würde, wäre Beweis genug. Dann könnte Chalkhill sein Honorar verlangen, ohne etwas dafür getan haben zu müssen, was außerordentlich befriedigend wäre. Der einzige Pferdefuß war, dass Hairstreak darauf bestanden hatte, dass das Mädchen in Hairstreaks eigenem Bergfried getötet wurde. War diese Bedingung verhandelbar? Hairstreak war nicht gerade dafür bekannt, bereitwillig zu verhandeln, aber es war eine so blöde Bedingung, dass er es vielleicht doch tat. Besonders wenn Chalkhill – widerwillig – sein Honorar etwas senkte.
Aber das alles setzte voraus, dass Mella wirklich tot war. Und auch wenn das recht wahrscheinlich war, war es nicht völlig sicher.
Ein Polizist schlenderte nur einen Meter entfernt an ihm vorbei, aber der Schattenmantel tat seine Arbeit, sodass Chalkhill unsichtbar blieb. Er richtete seinen Blick wieder auf Brimstone. Brimstone wusste mit seinen erweiterten Sinneswahrnehmungen wahrscheinlich, ob das Mädchen noch lebte oder ob es tot war. Chalkhill musste ihn nur davon überzeugen, dass er damit herausrückte … und zwar mit der Wahrheit. Brimstone sah nicht länger auf die Trümmer: Er starrte auf etwas ein Stück weiter die Straße hoch. Chalkhill folgte seinem Blick und entdeckte ein Paar von Gegenwelt-Bewohnern, das auf die Polizeiabsperrung zueilte. Die Frau war zu alt, um Mella zu sein, und er verlor beinahe sofort das Interesse an ihr. Aber irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. Irgendetwas an dem Mann auch …
Chalkhill verschluckte sich beinahe. Die Frau war Kaiserin Blue! Er sah noch einmal hin. Unmöglich, und doch war sie da. Und jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, meinte er zu erkennen, dass der Mann bei ihr Henry Atherton war, ihr menschlicher Prinzgemahl. Und vielleicht war das gar nicht unmöglich. Sie waren schließlich Mellas Eltern. Nichts war natürlicher, als dass Eltern sich auf die Suche nach ihrer kleinen Tochter machten, selbst wenn sie Prinzgemahl und Kaiserin waren. Er runzelte nachdenklich die Stirn. Wenn Brimstone hier war und Mellas Eltern hier waren, dann bestätigte das nur, dass er auf der richtigen Spur war. Mella musste ebenfalls hier sein, irgendwo in der Nähe, falls sie nicht tot war, natürlich. Er musste sie bloß finden, sie schnappen, eilig zu Hairstreaks Bergfried transportieren und ihr die Kehle durchschneiden, während Seine Lordschaft zusah. Mission erfüllt, Honorar eingestrichen und auf zum nächsten Job. Heißa! Juchheißassa!
Dann kam ihm ein anderer Gedanke, ein schrecklicher, beängstigender, grauenvoll aufregender Gedanke. Was konnte man wohl für ein Lösegeld erzielen, wenn man Kaiserin Blue entführte? Wie viel mehr würde es wert sein, wenn man überdies noch Prinzgemahl Henry entführte? Oh, was für ein Gedanke! Reichtümer jenseits aller habgierigen Träume, aber nicht jenseits seiner habgierigen Träume. Zusätzlich zu dem, was er von Lord Hairstreak für den Mord an ihrer Tochter bekam, würde es ihn zum reichsten Mann im ganzen Elfenreich machen.
Chalkhill holte dreimal tief Luft, um seine Nerven zu beruhigen. Eins war mal klar: Eine solche Gelegenheit würde sich ihm nie wieder bieten. Madame Carduis Sicherheitsapparat war legendär. Ein Purpurkaiser, Holly Blues Vater, war in ihrer Amtszeit getötet worden, und sie war entschlossen, so etwas niemals, niemals wieder zuzulassen. Aber selbst Carduis lange Krallen reichten nicht bis in die Gegenwelt. Chalkhill vermutete, dass die eigensinnige Kaiserin Blue wahrscheinlich spontan aufgebrochen war, ohne der alten Hexe überhaupt Bescheid zu geben. Blue war für ihre Inkognito-Ausflüge bekannt. Es konnte gut sein, dass sie mit nur wenigen Sicherheitsvorkehrungen unterwegs war, möglicherweise komplett ohne. Und auch wenn man den Prinzgemahl Henry niemals unterschätzen sollte – er hatte einmal mit bloßen Händen einen Vampir getötet –, wusste Chalkhill doch, dass sein eigenes Training als Killer ihn zu mehr als einem ebenbürtigen Gegner für jeden machte.
Konnte er es tun? Konnte er die gesamte Kaiserliche Familie schnappen, Henry, Blue und Mella? Wahrscheinlich nicht allein – die für einen solchen Einsatz notwendige Planung überstieg beinahe mit Sicherheit die Möglichkeiten eines Einzelnen. Aber er musste es ja auch nicht allein machen. Er hatte ja schon einen potenziellen Komplizen, auch wenn er unberechenbar war. Zusammen konnten sie es schaffen …
Mit klopfendem Herzen rannte Chalkhill über die Straße und öffnete neben seinem alten Geschäftspartner den Mantel.
»Himmel!«, schrie Brimstone und machte einen Sprung zurück. Dann beugte er sich vor, um Chalkhill genau anzusehen. »Was machst du denn hier?«
Es war sinnlos, sich in Schuldzuweisungen zu ergehen. Brimstone hatte ihn angelogen, hatte aller Wahrscheinlichkeit nach versucht, ihn zu betrügen, aber das war nichts anderes als das, was er Brimstone angetan hätte, wenn ihre Rollen vertauscht gewesen wären. Jetzt brauchte er Brimstones Hilfe, und er war sicher, dass er den alten Mann bei der Stange halten konnte. Das war ihm schließlich auch in der Vergangenheit schon gelungen. Er holte noch einmal tief Luft. »Das Gleiche wie du – ich suche Prinzessin Mella. Wusstest du, dass ihre Eltern auch hier sind? Die beiden Leute im ganzen Elfenreich, die das meiste Lösegeld einbringen.«
Brimstone war vielleicht verrückt, aber er war nicht blöd. Er starrte Chalkhill mit neu erwachtem Interesse an, das in seinen rheumatischen alten Augen aufflackerte. »Bist du etwa auch hinter ihnen her?«, fragte er.
Chalkhill begann, langsam zu lächeln. »Jetzt schon«, sagte er.