Neunundvierzig

Blue würde ihn umbringen, dachte Pyrgus, wenn sie es jemals herausfände. Und wahrscheinlich verdiente er das sogar. Auch wenn die Vorkehrungen eher informell waren, blieb es doch eine Tatsache, dass er auf diplomatischer Mission war. Weiterhin war es eine Tatsache, dass er das Protokoll ignoriert, Abkommen umgangen und Madame Carduis offiziellen Spion (umsichtig als Persönlicher Assistent des Kronprinzen bezeichnet) gemieden hatte, seiner Entourage entwischt und verschwunden war, um seine eigene Mission auszuführen. Es war praktisch Verrat, aber was sollte er tun, wenn das Leben Tausender unschuldiger Tiere auf dem Spiel stand?

»Du hast mir nie den versprochenen Wein geschickt«, sagte Corin grinsend, als sie sich die Hände schüttelten.

Pyrgus lächelte düster. »Ich war leider verhindert. Genauer gesagt sind wir in einer ziemlichen Notsituation.«

Corin winkte ihn zu einem Stuhl und zog sich einen zweiten daneben. Diese Geste war typisch und nicht nur, weil Pyrgus und er alte Freunde waren. Corin war jemand, der Förmlichkeiten nicht mochte und nie den Drang verspürt hatte, hinter einem großen Schreibtisch zu sitzen, um Leute zu beeindrucken. »Hab mir schon gedacht, dass es Probleme gibt, sonst wärst du nicht so schnell wieder hier. Geht es um deine Nichte?«

»Eigentlich nicht«, sagte Pyrgus. »Sie war in Haleklind – wir nehmen sogar an, dass sie immer noch da ist –, aber das ist nicht das Problem.«

»Ich fürchte, von deinem Mantikor-Weibchen gibt es noch keine Neuigkeiten«, sagte Corin. »Aber ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht. Sie hat sich bestimmt inzwischen einer der größeren Herden angeschlossen.«

»Also …«, sagte Pyrgus voller Unbehagen. Dies war der Punkt, von dem an es kein Zurück mehr gab. Er war kurz davor, mit dem Bürger einer mutmaßlichen Feindesnation über die Politik des Elfenreiches und über militärische Pläne zu diskutieren. Aber Corin hätte er auch sein Leben anvertraut. »Also, genau über diese Mantikore wollte ich mit dir sprechen …«

»Das dachte ich mir schon. Ich vermute, du hast die Gerüchte gehört?«

»Was für Gerüchte?«, fragte Pyrgus schnell.

»Es wird getuschelt, dass die Tafel plant, die Mantikore zu militärischen Zwecken einzusetzen. Sie in Kriegspferde zu verwandeln oder so etwas.«

Plötzlich wurde Pyrgus bewusst, dass er sich nie vorgestellt hatte, wie die Mantikore eigentlich genau eingesetzt werden sollten. »Glaubst du, das ist wahr?«, fragte er.

Corin schüttelte den Kopf. »Absoluter Unsinn. Um einen ausgewachsenen Mantikor zu besteigen, müsste ein Soldat Spagat machen. Und selbst wenn er raufkäme, könnte er ihn doch niemals kontrollieren. Mantikore sind wilde Tiere, Pyrgus. Prächtige Tiere, aber du weißt doch selbst, wie schwierig sie sind. Schwierig und unberechenbar. Den einen Augenblick äsen sie noch friedlich und im nächsten zerreißen sie einen schon in Stücke.«

»Dann glaubst du also, an den Gerüchten ist nichts dran?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, man kann Mantikore nicht wie ein Pferd einsetzen. Man könnte sie vielleicht trotzdem als Waffen benutzen.«

»Wie denn?«

Corin breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus und lächelte breit. »Glaubst du, die Tafel der Sieben informiert mich über ihre Pläne?« Das Lächeln verschwand und trocken fügte er hinzu: »Aber ich kann natürlich spekulieren. Zumindest kann ich dir sagen, was ich tun würde, wenn ich Mantikore als Waffen einsetzen wollte.«

»Und das wäre?«

Corin holte tief Luft und ließ sie in einem Seufzer wieder entweichen. »Ich würde sie zusammentreiben, sie mit Johanniskraut füttern und dann in einer Stampede auf eure Armee loslassen.«

Pyrgus starrte ihn an. »Ihr Götter!«, rief er aus, als ihm die Vorstellung allmählich klar wurde. Johanniskraut brachte Mantikore zur Raserei. Eins der Riesenviecher konnte ein Dutzend Soldaten töten, bevor man es selbst erledigen konnte. Eine ganze Herde würde innerhalb von Minuten eine gesamte Armee vernichten. Es würde zu einem unvorstellbaren Blutvergießen kommen.

Corin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht passiert das gar nicht, Pyrgus – das sind bloß Gerüchte. Vielleicht plant die Tafel der Sieben so etwas überhaupt nicht. Haleklind ist voller Klatsch und Tratsch.«

Pyrgus sagte: »Wusstest du, dass an der Grenze zum Elfenreich eine gigantische Herde zusammengetrieben worden ist?«

»Von Mantikoren? Nein, das wusste ich nicht.« Ernst blickte er Pyrgus an.

Der schloss kurz die Augen, öffnete sie dann wieder und sagte: »Wir haben Geheimdienstinformationen, dass die Tafel der Sieben einen Angriff auf das Elfenreich plant und dabei die Mantikore als Geheimwaffe einsetzen will. Ich weiß nicht genau, was sie vorhaben, aber nach dem, was du gerade gesagt hast …« Er beendete den Satz nicht.

Corin, der Pyrgus sehr gut kannte, sah ihn aufmerksam an. »Das ist doch nicht alles, oder?«

Pyrgus schüttelte den Kopf. »Das Elfenreich setzt als Vergeltung womöglich einen Neutronenzauber ein.« Er konnte es nicht recht über sich bringen, die ganze Wahrheit zu sagen, nämlich dass Blue mit dem Vergeltungsschlag keineswegs abwarten wollte. Beim ersten klaren Anzeichen einer Bedrohung würde sie den Erstschlag anordnen.

Schweigen trat ein. »Oh«, sagte Corin langsam. Er schaute weg, als wollte er Pyrgus nicht in die Augen sehen. »Nach internationalem Recht sind Neutronenzauber illegal.«

»Nichtsdestotrotz …«, sagte Pyrgus.

»Ein Neutronenzauber würde die gesamte Haleklindarmee vernichten und die Mantikore ausradieren.«

Pyrgus begriff, dass er es ihm sagen musste. »Es könnte tatsächlich auch nur die Mantikore treffen. Meine Schwester wartet vielleicht gar nicht darauf, dass die Haleklindarmee ausrückt.«

»Nur die Mantikore?«

»Ich weiß, ich weiß«, stimmte ihm Pyrgus zu. Er packte Corin am Arm. »Wir müssen etwas tun.«

»Wie kann ich dir helfen? Wie kann die Gesellschaft Haleklinds zur Bewahrung und zum Schutz der Tiere dir helfen?« Corin blickte kurz zur Tür. »Hael, wir sind doch jetzt eine subversive Organisation: Es muss etwas geben, das wir in die Luft jagen können.«

»Mir ist da eine Idee gekommen«, sagte Pyrgus. »Wie viele Männer hast du zur Verfügung?«

»Männer wofür? Reden wir hier von Soldaten? Oder Saboteuren? Was genau?«

Müde rieb sich Pyrgus die Augen. »Corin, ich nehme nicht an, dass du weißt, wie man Mantikore sicher zusammentreibt? Eine große Anzahl Mantikore. Ohne das allzu große Risiko einer Stampede.«

»Doch, das weiß ich«, sagte Corin. »Man benutzt Fackeln aus Rosmarin.«

Pyrgus sah auf. »Der Pflanze?«

Corin nickte. »Mantikore mögen kein Feuer, aber sie haben nicht annähernd so viel Angst davor wie andere Tiere. Man könnte sie mit Fackeln in Bewegung setzen, aber sie könnten einen genauso gut auch angreifen. Sie scheinen sich vor kleinen Verbrennungen nicht sehr zu fürchten, wenn sie einen dafür entwaffnen können – ich meine, einem die Fackel entreißen. Aber brennender Rosmarin hat eine seltsame Wirkung auf sie. Erstens wollen sie ihm auf keinen Fall nahe kommen, deshalb droht einem auch kein Angriff; aber er scheint sie außerdem zu sedieren, sodass man sie normalerweise ohne allzu große Schwierigkeiten überreden kann, sich dahin zu bewegen, wo man sie hinhaben will. Brauchst du dafür die Leute?«

»Was meine Schwester beunruhigt, ist die Herde an der Grenze. Ich dachte, wenn wir sie da wegkriegen könnten …« Er seufzte. »Es würde uns zumindest etwas Zeit verschaffen. Aber die Operation müsste schnell und präzise verlaufen. Falls die Mantikore sich auf die Grenze zubewegen …«

»Kaiserin Blue würde den Neutronenzauber einsetzen?«

»Vielleicht. Verdammt, ganz bestimmt sogar! Ich kenne Blue.« Er sah Corin an. »Kannst du genug Männer für diesen Job finden? Sie müssen vernünftig, schnell und in der Lage sein, Anordnungen exakt zu folgen und gleichzeitig genügend Eigeninitiative haben, um mit Notfällen umzugehen – zum Beispiel, wenn ein Mantikor die Herde verlässt.«

»Das ist eine riesige Herde«, sagte Corin und schüttelte den Kopf. »Wir bräuchten einen ziemlichen Haufen guter Männer.«

»Dann kannst du das also nicht machen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Corin. »Wenn du dich um die Herstellung der Fackeln kümmerst, trommle ich die Leute zusammen.«