Henry blinzelte, rieb sich die Augen und schaute noch mal hin. Das Mädchen – in Wirklichkeit wohl eher die Frau: Er musste mal damit aufhören, sie ein Mädchen zu nennen, weil sie das nur zu ärgern schien –, das am Frisiertisch saß, war Blue. Sie sah aus wie Blue. Sie war wie Blue gekleidet. Sie sprach wie Blue. Ihr Bild im Spiegel war Blues Spiegelbild. Aber sie konnte nicht Blue sein, weil Blue neben ihm stand.
»Und, was sagst du?«, fragte die Blue neben ihm. Trotz ihres Kummers wegen Mella lächelte sie sogar ein wenig.
Henry blickte Blue ein drittes Mal an, dann das Mädchen – die Frau – neben ihm. Sie war diejenige, die ihn zu ihren Privatgemächern begleitet hatte. Besser gesagt, sie war diejenige, die verlangt hatte, dass er das, was er gerade tat, stehen und liegen ließ und sie zu ihren privaten Gemächern begleitete, was wirklich sehr nach der echten Blue klang. Aber es wäre ebenso typisch für die echte Blue, ihn hinters Licht führen zu wollen – sie hatte einen ziemlich fiesen Sinn für Humor.
»Wer von euch …?«, fragte er hilflos.
»Ich«, sagte die Blue neben ihm.
»Ich«, sagte die Blue am Frisiertisch.
Henry blickte von der einen zur anderen. Sie waren absolut und vollkommen identisch und er hatte das Gefühl zu ertrinken. Ihm kam der Gedanke, dass Blue vielleicht eine Zwillingsschwester hatte. Aber warum hatte sie ihm nie etwas davon erzählt? Und überhaupt, die Blue am Frisiertisch behauptete ebenso, Blue zu sein, wie die Blue neben ihm. Mit identischen Zwillingen wäre das nicht geschehen. Eine der beiden hieße Lizzie oder Maud oder wie auch immer. Was er hier hatte, waren zwei Versionen Blues, und er wusste einfach nicht, welche davon er geheiratet hatte.
Das Mädchen (die Frau!) neben ihm beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Du hast ein kleines herzförmiges Muttermal an deinem Hintern; das weiß sie nicht. Ich küsse es gern, wenn wir uns …«
Henry hustete. »Ganz recht«, sagte er schnell. Er spürte im Nacken, wie er rot wurde. Dennoch war die Ähnlichkeit so unheimlich, dass er lieber auf Nummer sicher ging. »Kannst du mir verraten, wo ich mein Muttermal habe?«, fragte er die Blue am Frisiertisch.
Sie schenkte ihm Blues entzückendes Lächeln. »An deinem Ohr?«, fragte sie.
Henry schüttelte staunend und langsam den Kopf. »Was ist das – ein Illusionszauber?«
»Doppelgänger«, antwortete Blue, die echte Blue an seiner Seite. »Einem Illusionszauber würde ich nicht trauen, nicht in dieser Sache.«
»Ich dachte, Doppelgänger wären gefährlich«, sagte Henry. Was er wirklich dachte, war sogar, dass man starb, wenn man seinen eigenen traf.
»Sie sollen angeblich Unglück bringen, aber das ist bloß ein alter Aberglaube. Ist sie nicht großartig?«
Sie war tatsächlich großartig, dachte Henry. Sie war Blue, bis in die kleinste Kleinigkeit hinein. Die Art, wie sie ihren Kopf hielt, wie sie die Hand bewegte, der Ausdruck in ihren Augen, wenn sie die Situation abschätzte …
»Wo hast du sie her?«, fragte er. »Ich dachte, Doppelgänger tauchten einfach auf, als böses Omen.«
»Ich habe das mit Madame Cardui arrangiert«, sagte Blue. »Ich war heute Vormittag bei ihr, um über Mella zu sprechen.«
Henry wollte wissen, wie das Gespräch gelaufen war, aber das konnte er sie auch gleich noch fragen. Im Moment interessierte ihn die Doppelgängerin noch mehr. »Wo hat Madame Cardui sie her?«
»Das habe ich sie nicht gefragt. Aber das ist schon in Ordnung: Sie wird alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen haben. Du weißt ja, wie sie ist.«
Beängstigend, das war Madame Cardui. Ebenso wie Blue, wenn sie schlechte Laune hatte. Doppelgänger waren gefährlich. Das war nicht bloß ein alter Aberglaube. Und jetzt lief dieser hier frei im Purpurpalast herum. Die Frage war, warum.
»Worum geht es hier, Blue?«, fragte er.
»Nun, ich kann ja schlecht losziehen und Mella suchen und das Reich einfach sich selbst überlassen, oder?«
»Du willst losziehen und Mella suchen?«, wiederholte Henry.
»Du glaubst doch nicht, dass ich das irgendjemand anderem überlasse, oder?«
Jetzt, wo sie es sagte, glaubte er das tatsächlich nicht. Obwohl sie beide wussten, dass Madame Cardui auf der Suche nach ihrer Tochter jeden Stein umdrehen würde, gab es nicht die geringste Chance, dass Blue so etwas irgendjemand anderem als sich selbst überlassen würde.
»Dann wirst du dich also auf die Suche nach Mella machen und deine Doppelgängerin wird …«
»An meiner Stelle das Reich regieren«, sagte Blue triumphierend. »Na ja, sozusagen. Sie wird die Leute daran hindern zu denken, dass ich weg bin. Wenn ich dann zurückkomme, werde ich wieder alles übernehmen und niemand wird etwas gemerkt haben.«
Das ließ derart viele Fragen aufkommen, dass er kaum wusste, wo er anfangen sollte. Schließlich sagte er: »Sie wird also … sie soll dann … ich weiß nicht mal, wie sie heißt.«
»Blue«, sagte Blue. »Ihr Name ist Blue. So wie meiner.«
Sie warf ihm einen gütigen Blick zu. »Wenn es dich verwirrt, kannst du sie auch Orange nennen.«
Henry blickte sie stirnrunzelnd an. »Wieso Orange?«
»Komplementärfarbe«, Blue grinste ihn an.
»Wie?«, fragte Henry. »Wie wird sie denn das Reich regieren?«
»Das wird sie nicht wirklich«, sagte Blue geduldig. »Sie wird bloß als eine Art Strohmann agieren, bis ich wieder da bin. Dafür ist sie bestens geeignet – sie weiß alles, was ich weiß.«
»Sie weiß nicht, wo ich meine Muttermale habe«, grummelte Henry.
»Solche intimen Dinge nicht. Von Muttermalen weiß sie in der Tat nichts. Aber all die wichtigen Dinge, wie man von einem Ouklo aus winkt, wie man Würdenträgern, die uns einen Besuch abstatten, die Hände schüttelt – diese Art von Dingen weiß sie.«
»Wie willst du sie dann wieder loswerden?«
Blue sah verblüfft aus. »Ich will sie nicht wieder loswerden. Ich habe sie doch gerade erst bekommen.«
»Wenn du fertig bist und wieder selbst das Reich regieren willst. Wie wirst du sie dann loswerden?«
Blue zuckte mit den Schultern. »Ich werde ihr sagen, dass sie gehen soll.«
Henry beugte sich vor. »Und was passiert, wenn sie nicht gehen will?«, flüsterte er. »Was passiert, wenn es ihr gefällt, Kaiserin zu sein? Was willst du dann tun – sie umbringen?«
»Sei nicht albern«, sagte Blue in schneidendem Ton. Dennoch sah er an ihrem Ausdruck, dass diese Frage sie aufgerüttelt hatte.
Henry legte daher sofort nach. »Nimm mal an, sie beschließt, dich ins Gefängnis werfen zu lassen? Die Palastgarde wird tun, was sie ihnen befiehlt. Vielleicht sind sie ein wenig verwirrt, aber sie werden ihr gehorchen, besonders wenn sie auf dem Thron sitzt oder deine Krone trägt. Sie könnte dir das ganze Reich einfach so wegnehmen!« Er schnippte mit den Fingern.
Blue starrte ihn an. Einen Augenblick später sagte sie: »Wir können Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ich werde mit Madame Cardui sprechen.«
»Da gibt es noch etwas«, sagte Henry.
»Was denn?«, fragte Blue ungeduldig. Sie mochte es eindeutig gar nicht, dass er sie bei ihrem tollen, kleinen Plan dauernd mit den Realitäten konfrontierte.
»Während du weg bist und Mella suchst«, sagte Henry vorsichtig, »was soll ich wegen meiner … äh … Pflichten unternehmen?«
»Deiner Pflichten?«
»Red nicht so laut!«, flüsterte Henry. »Du weißt schon, meine … Pflichten.« Er räusperte sich und schluckte. »Meine … ehelichen Pflichten.«
Blue sah ihn verblüfft an. »Deine ehelichen Pflichten?« Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie kicherte. »Deine ehelichen Pflichten?«
»Kannst du nicht mal leiser sprechen?«, zischte Henry. »Wenn wir so tun sollen, als ob diese Doppelgängerin du bist, wenn wir das tun sollen und keiner Verdacht schöpfen soll, dann müssen sie und ich … du weißt schon …«
»Nein, weiß ich nicht«, sagte Blue laut. »Was müssen du und sie tun?«
»Dieselben Räume miteinander teilen«, sagte Henry. »Dasselbe Schlafzimmer miteinander teilen. Um Himmels willen, Blue, du hast das alles überhaupt nicht zu Ende gedacht!«
»Henry, es wird auf gar keinen Fall dazu kommen, dass du und sie im selben Bett schlafen werdet, selbst wenn sie so aussieht wie ich.«
»Ich habe nicht Bett gesagt, ich habe Schlafzimmer gesagt.«
»Ja, aber du hast Bett gemeint, oder?«
»Ja«, sagte Henry. »Ja, habe ich. Wenn dieser wahn…« Er konnte sich gerade noch bremsen und verbesserte sich: »Wenn diese Idee funktionieren soll, die du dir da ausgedacht hast, dann muss ich mich dieser Doppelgängerin gegenüber genauso verhalten wie dir gegenüber. Exakt genauso. Sonst wird den Leuten etwas auffallen, sie werden anfangen, Fragen zu stellen und sich zu wundern, was denn bloß los ist. Also müssen sie und ich … du weißt schon … liebevoll miteinander umgehen. Uns gelegentlich einen Kuss geben, wie wir das halt tun. Uns umarmen und so. Schlafen … zusammen schlafen. Miteinander. So, wie wir das tun.«
Blue sah ihn unschuldig an. »Und du nennst das alles deine eheliche Pflicht?«
»Na ja, nicht so richtig Pflicht. Das ist bloß eine Redewendung. Aber es meint das, was man erwarten kann.« Er sah sie nüchtern an, schloss dann brav: »Und ich will auch gar nicht mit irgendjemand anderem schlafen als mit dir.«
»Nun reg dich mal ab, du Superhengst«, sagte Blue fröhlich. »Das ist alles geregelt.«
»Ja, aber die Leute werden erwarten …« Henry brach ab, als ein Mann aus dem angrenzenden Ankleidezimmer kam, der seinen Morgenmantel trug.
»Ich werde nicht allein nach Mella suchen«, sagte ihm Blue. »Wir beide werden das tun. Gemeinsam.«
Der Mann lächelte und winkte kurz. Henry starrte auf seinen Doppelgänger. »Oh, mein Gott!«, sagte er.