Sechs

Die Überprüfungs-Kommission tagte unter Vorsitz von Dr. Philenor, der mit seinem schwarzen Schnurrbart auf einem erhöhten Podest am Ende eines Arzttisches saß. Fünf seiner Kollegen hatten sich mit mehr oder weniger Erfolg ähnliche Schnurrbärte wachsen lassen. Der sechste, eine Frau, trug eine angeklebte Version aus Pferdehaar. Das Wappen der Double Luck Mountain Irrenanstalt – gekreuzte Injektionsspritzen über einem Lobotomie-Skalpell – war direkt über Dr. Philenors Kopf an der Wand angebracht. Neben seinem rechten Fuß stand eine Aktentasche, die, wie Brimstone begriff, voller Riesenbakterien sein musste. Oder bösen Elementarteilchen. Oder beidem.

Brimstone selbst war in einem Behandlungsstuhl festgeschnallt, der vor dem Tisch in den Boden geschraubt war. Ein Pfleger – nicht Pfleger Nastes, sondern ein dünner Kollege, der nach Sauerbier roch – hatte ihm einen Kupferhelm aus Endolghaut, kurz EHK-Helm, am Kopf befestigt. Als Folge davon krochen ihm bereits ätherische Tentakel ins Gehirn, das zu jucken begann. Die Kontrollhebel für den Helm waren in der Armlehne von Dr. Philenors Sessel eingelassen.

»Guten Morgen, Dr. Brimstone«, sagte Dr. Philenor höflich. Philenor hatte seinen Doktortitel natürlich in psychiatrischer Medizin erworben. Brimstone seinen in Dämonologie, ein veraltetes Fach, seit Blue Königin von Hael geworden war. Brimstone hatte seinen Titel nie benutzt, selbst als er seinen Beruf ausgeübt hatte, aber Philenor war ein Titelfetischist, besonders wenn er mit seinen Patienten zu tun hatte. Er hatte einst eine gelehrte Abhandlung veröffentlicht: Komplett Verrückte: Die Bedeutung von Höflichkeit bei ihrer Fürsorge und Behandlung.

»Guten Morgen, Dr. Philenor.« Brimstone lächelte liebenswürdig. Der Trick bei Überprüfungs-Kommissionen war, ganz ruhig zu bleiben, Unterwerfung vorzutäuschen, so zu tun, als ob die Behandlung erfolgreich gewesen war, und alle Symptome zu verbergen.

»Wie geht es uns heute Morgen, Dr. Brimstone?«, fragte Dr. Philenor und machte ein Häkchen auf einem Blatt, das an seinem Klemmbrett angebracht war.

Brimstone wusste, dass er einstweilen auf der sicheren Seite war, denn der EHK-Helm war noch nicht aktiviert worden. Das Trauma, das die Kreaturen erleiden mussten, wenn ihnen die Haut abgezogen wurde, störte den Wahrheitssinn des fertigen Helmes. Es dauerte manchmal volle fünf Minuten, bis er zu funktionieren begann. Brimstones Lächeln verbreiterte sich zu einem sonnigen Strahlen.

»Großartig«, sagte er. »Ganz großartig. Ich kann Ihnen und Ihrem gütigen Team gar nicht genug danken für meine Therapien. Diese Säfte! Diese Tabletten! Diese Infusionen! Diese Transfusionen! Diese chirurgischen Eingriffe! Ausschließlich dank Ihrer Bemühungen ist mein Gesundheitszustand – und besonders mein psychischer – so gut wie seit fünfzig Jahren nicht mehr.« Er fragte sich, ob er vielleicht übertrieb, aber Philenor schien diesen Quatsch ohne Schwierigkeiten zu schlucken.

Dr. Philenor hüstelte. »Keine … äh … Bedrohungen irgendwelcher Art? Ihres, äh, Wohlbefindens?« Die Aktentasche zu seinen Füßen vibrierte heftig.

Er suchte natürlich nach irgendwelchen Beweisen für das, was sie Paranoia nannten – ein medizinischer Begriff, der dazu geschaffen worden war, einen einzulullen, wenn doch alles da draußen es darauf angelegt hatte, einen zu kriegen. Brimstone riss die Augen auf und klapperte mit den Lidern. »Bedrohungen, Dr. Philenor?«, wiederholte er. »Wie könnte sich irgendjemand in einer so gut geführten Einrichtung wie ihrer grandiosen Klinik denn bedroht fühlen? Ach, ich habe gerade neulich Pfleger Nastes gegenüber bemerkt, wie sicher und geschützt ich mich fühle, seit Sie mich aus dieser unglückseligen … Phase in meinem Leben errettet haben.«

Vom Team um den Tisch kam Applaus, der schnell durch einen strengen Blick von Dr. Philenor wieder erstickt wurde. Aber seine Züge wurden weich, als er sich Brimstone wieder zuwandte. »Und nun, Dr. Brimstone, eine entscheidende Frage: Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins absoluten Wahnsinn und zehn völlige geistige Gesundheit repräsentieren, wo würden Sie Ihre eigene derzeitige Verfassung einordnen?«

»Sag ihm elf«, knurrte George, der während der ganzen Konsultation unsichtbar neben Brimstones Schulter gehockt hatte.

Brimstone hatte schon den Mund geöffnet, um zu antworten, als er merkte, dass sich inzwischen eine ätherische Ganglie um seinen präfrontalen Cortex geschlungen hatte, ein sicheres Zeichen dafür, dass der EHK-Helm zu guter Letzt aktiviert war. Vorsichtig schloss er den Mund. Es war Sods Gesetz, dass es genau zu diesem Zeitpunkt geschah. War der Helm einmal aktiviert, schickte die Endolghaut direkte Signale zur Kontrollkonsole in der Armlehne von Philenors Sessel. Wenn Brimstone fortfuhr zu lügen, würde Philenor es sofort merken. Schlimmer noch, der Arzt musste bloß einen Knopf drücken, um das Notfallchirurgie-Programm des Helms zu aktivieren, das Brimstone für achtzehn Monate in den Zustand eines Gemüses versetzen würde. Als Brimstone gerade in die Anstalt eingeliefert worden war, hatte ihm das Personal erklärt, dieser Eingriff sei ein therapeutischer und keine Bestrafung, aber es war eine Therapie, die er in diesem Augenblick überhaupt nicht gebrauchen konnte.

»Wissen Sie, Dr. Philenor«, äußerte er vorsichtig, »es fällt mir schwer, das zu sagen. Nur ein Verrückter würde meinen, er könne seine eigene geistige Gesundheit beurteilen. Ich überlasse die Beurteilung meines Zustandes gern den freundlichen, fürsorglichen und vor allem bestens geschulten und hoch qualifizierten Experten, die sich in diesem Zimmer versammelt haben.« Er senkte bescheiden den Blick, während rund um den Tisch zustimmendes Gemurmel erklang.

»Gut gesprochen.« Dr. Philenor nickte und hakte ein weiteres Kästchen auf seinem Bewertungsbogen ab. Er sah wieder zu Brimstone auf und lächelte jetzt tatsächlich. »Und was hat es mit diesem unsichtbaren Gefährten auf sich, von dem ich da gehört habe?«

Brimstone erstarrte. Jemand musste ihn verpetzt haben und jetzt saß er in der Falle. Aus langer Erfahrung wusste er, dass er der Einzige war, der George sehen konnte, sodass er, wenn er Georges Existenz zugab, geradezu um eine Diagnose als Schizophrener mit Wahnvorstellungen bettelte – und damit um seine Eintrittskarte für die dauerhafte Verwahrung. Andererseits würde der EHK-Helm auf der Stelle anzeigen, dass er log, wenn er George verleugnete. Das würde einen sofortigen Eingriff nach sich ziehen, der ihn achtzehn Monate lang dahinvegetieren ließe, bis sein Gehirn wieder verheilt war. Aber es gab ja noch Plan B. Schließlich hatte er nie ernsthaft damit gerechnet, dass er sich vor der Überprüfungs-Kommission rausreden könnte. Er hob den kleinen Finger seiner linken Hand und drehte ihn gegen den Uhrzeigersinn, was er als geheimes Signal mit George vereinbart hatte, damit der in Bereitschaft war. George setzte sich aufrecht hin, leckte sich die Lippen und ließ ein sehr anständiges Grollen erklingen.

Aber das war bloß die Bereitschafts-Position. Es gab ja immer noch die Möglichkeit, ohne Einsatz von Gewalt zu entkommen. Brimstone sah Dr. Philenor in die Augen und lächelte zurück. »Ich nehme an, Sie sprechen von meinem imaginären Freund?«, sagte er gelassen. »Dem kleinen Freund, den ich … mir ausgedacht habe … um in den langen Tagen und Nächten meiner einsamen, aber therapeutisch notwendigen und medizinisch-ethisch vertretbaren Einzelhaft Gesellschaft zu haben?« Es gab eine winzige Chance, dass der Helm nicht reagierte. Seine Antwort war immerhin nicht völlig erlogen gewesen. Er hatte George mit seinen Gedanken aus den entsetzlich gefährlichen Höllenregionen jenseits der tiefsten Tiefen von Hael heraufgeholt. Und zu den Techniken, die er dabei eingesetzt hatte, hatte auch die visuelle Vorstellungskraft gehört. Ein lebendiger Endolg hätte diesen Betrug sofort bemerkt, aber vielleicht kam er damit beim EHK durch.

Dr. Philenor blickte auf den Minibildschirm, der in die Armlehne seines Sessels eingelassen war, aber wenn dieser rot aufleuchtete (oder auch nur bernsteinfarben), dann gab er das nicht zu erkennen, als er fragte: »Haben Sie diesem Freund einen Namen gegeben?«

Brimstone kämpfte gegen den Drang, über seine Schulter zu schauen. »George«, sagte er.

Fragend blickte Dr. Philenor ihn an. »Wie bitte?«

»George«, sagte Brimstone ein bisschen lauter.

»Sie haben ihm meinen Vornamen gegeben?«

Brimstone nickte heftig. »Ja, natürlich. Welch besseren Gefährten hätte ich in den Stunden meiner Not haben können? Ich habe viele Stunden mit imaginären Gesprächen verbracht, in denen ich mir vorzustellen versuchte, was Sie mir für Weisheiten mitgeteilt hätten, wenn Sie wirklich da gewesen wären, was ich natürlich keinen Moment wirklich geglaubt habe.« Wieder lag genau so viel Wahrheit in seinen Worten, um den Helm zu narren … wenn er richtig viel Glück hatte.

Philenor, dieser Idiot, reagierte immer noch nicht. »Wollen Sie mir sagen, Dr. Brimstone, dass Sie nicht glauben, dass dieser Gefährte tatsächlich existiert

George beugte sich herab und flüsterte: »Welchen soll ich Ihrem Wunsch gemäß zuerst abschlachten?«

»Keinen, solange ich kein Zeichen gebe«, zischte Brimstone zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er begann, den Verdacht zu hegen, dass der Helm vielleicht kaputt war – psychiatrische Geräte waren sehr empfindlich. Um diesen Gedanken zu erproben, sagte er laut und deutlich zu Dr. Philenor: »Natürlich nicht. Er ist ein vollständiges Produkt meiner Einbildungskraft.« Es war völlig unmöglich, dass eine so glatte Lüge dem Helm entgehen konnte, es sei denn, er funktionierte nicht. Natürlich ein Risiko, aber wenn er wusste, dass der EHK kaputt war, Dr. Philenor aber nicht, dann kam er sogar mit einem Mord durch. Wenn andererseits der Alarm losging, konnte er immer noch Plan B in Gang setzen und George anweisen, die Überprüfungs-Kommission abzuschlachten, und sich dann mit seiner Hilfe aus der Anstalt kämpfen.

Dann passierte etwas sehr Merkwürdiges. Brimstone sah genau, wie es auf Philenors Armlehne rot aufleuchtete. Aber anstatt den Alarm auszulösen, sagte Dr. Philenor bloß leise: »Sehr gut, Dr. Brimstone«, und hakte ein weiteres Kästchen ab. Er legte das Klemmbrett weg und wandte sich den Kollegen zu. »Es scheint mir so«, sagte er zu ihnen, »dass unser Patient vollständig wiederhergestellt ist. Er ist in unsere Klinik als emotionales und psychisches Wrack eingeliefert worden und ist jetzt, dank unserer Geduld, unserer Fürsorge und unseren Fähigkeiten, wieder ein Mensch mit völlig gesundem Verstand, der seinen Platz als intelligentes und produktives Mitglied der Gesellschaft wieder einnehmen kann.« Er hielt inne, fügte dann hinzu: »Vielleicht könnten Sie mir Ihre Einschätzung mitteilen.«

Sechs Schnurrbärte (einer von ihnen falsch) blickten Brimstone an, dann Philenor und wetteiferten dann darin, ihre Zustimmung zu äußern:

»Ja.«

»Gewiss.«

»Absolut.«

»Certainement, Dr. Philenor.«

»Sie haben ja so recht, Boss.«

»In jeder Hinsicht, korrekt, mein Herr.«

Philenor gestattete ihnen, noch einen Augenblick länger herumzuschleimen, dann sagte er laut: »Aber …«

Es herrschte ein überraschtes Schweigen, während sie ihn musterten. Da sie gerade abgelenkt waren, riskierte Brimstone einen schnellen Blick über die Schulter. George, ganz Hauer, Federn und hervorquellende Muskeln, kauerte dort, bereit zum Sprung auf sein Zeichen hin.

»Aber …«, wiederholte Dr. Philenor, »es wäre kaum besonders rücksichtsvoll von uns, wenn wir ihn einfach entließen, ihn schlicht auf die Straße setzten, um es mal so auszudrücken.«

»Nein.«

»Oh nein.«

»Wir sollten nicht einmal daran denken.«

»Sie haben so recht, Boss.«

»Gewiss nicht.«

»Niemals!«

Brimstone starrte den Arzt unverwandt an. Was hatte der alte Quacksalber vor? Der Helm hatte ihm mitgeteilt, dass Brimstone log, und dennoch hatte er es ignoriert. Aber selbst bevor das geschehen war, konnte Brimstone kaum glauben, dass Philenor die Geschichte seiner Wiederherstellung geschluckt hatte. Nicht einmal ein Psychiater konnte ein solcher Dummkopf sein. Der Arzt verheimlichte etwas. Und Brimstone mochte keine Geheimnisse, es sei denn, es waren seine eigenen. Er beugte sich in seinem Stuhl vor und spürte überrascht, dass sich die Riemen zu lockern begannen.

»Was ich also vorschlage, ist …«, verkündete Philenor.

»Ja?«

»Was?«

»Sagen Sie es uns.«

»Sprechen Sie, oh weiser Mann.«

»Ihr Vorschlag?«

»Wir sind ganz Ohr.«

»… Dr. Brimstone bei seiner Entlassung in Obhut zu geben«, fuhr Dr. Philenor fort.

»Brillant.«

»Super.«

»Großartige Idee.«

»Warum sind wir nicht selbst darauf gekommen?«

»Sie sind so weise, Dr. Philenor.«

»Perfekte Lösung.«

In Obhut? Brimstone starrte finster vor sich hin. In wessen Obhut? Und was hieß in Obhut? Sollte er irgendeiner dominanten Schwester ausgeliefert sein? Hätte jemand Vollmacht über sein Vermögen? Müsste er sich bei einem Bewährungshelfer melden? Philenor hatte irgendetwas vor – da war er sich ganz sicher. Brimstones Blick verfinsterte sich noch mehr. Vielleicht sollte er George loslassen.

»Und wer sollte sich besser um ihn kümmern können«, fuhr Dr. Philenor fort, »als der allergroßzügigste Wohltäter, der Mann, der in den letzten Wochen unserer Anstalt so viel Geld gespendet hat, der Mann, der unseren neuen Anbau finanziert hat, unseren Pensionsfonds verdoppelt hat und mir einen persönlichen Scheck über …« – er hustete – »… nun ja, die Summe ist kaum von Belang. Ich spreche natürlich von dem Mann, der während dieser Sitzung geduldig hinter dem Vorhang wartet« – er deutete theatralisch darauf – »um aufs Neue seinen alten Freund an die Brust zu drücken. Ich spreche natürlich von …« Der Vorhang schwang zurück.

»George!«, zischte Brimstone, hielt dann aber knapp vor dem Angriffsbefehl inne. Er blinzelte zweimal. Der Mann hinter dem Vorhang war der Letzte, den er zu sehen erwartet hatte. Oder gewünscht.

Der Mann hinter dem Vorhang, dessen Zähne mit Zauberbelag beim Lächeln blitzten, war Jasper Chalkhill.