»Warum haben Sie uns eingesperrt?«, fragte Mella. Sie wurde immer rot, wenn sie sich richtig aufregte, was absolut ärgerlich war, wenn man eigentlich cool, erwachsen und abgeklärt erscheinen wollte. Und genauso wollte sie jetzt erscheinen, besonders weil Tante Aisling sie die ganze Zeit wie ein richtiges Kind behandelt hatte und lauter blöde Kommentare abgegeben hatte, die sie beruhigen sollten, aber einfach nur blöde waren und dem, was da wirklich los war, nicht einmal ansatzweise gerecht wurden. Wahrscheinlich.
Kameradin Ysabeau hatte ihr Kapuzenkleid abgelegt und trug jetzt eine ziemlich attraktive festliche Robe. Sie sah Mella milde überrascht an. »Zur Sicherheit«, sagte sie. »Werden Sie im Palast nicht eingeschlossen?«
»Das werde ich ganz gewiss nicht«, sagte Mella streng.
»Es ist, fürchte ich, hier Routine. Sogar automatisch.«
»Ich wette, Sie werden nicht eingeschlossen, wenn Sie in Ihr Zimmer gehen«, sagte Mella säuerlich.
»Aber natürlich werde ich das, meine Liebe.« Ysabeau warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. »Das gilt für alle von uns aus der Tafel der Sieben. Das ist eine Standard-Sicherheitsmaßnahme.«
Sicherheitsmaßnahme gegen was? Gegen wen? Wie konnten die Haleklinder so leben? Immer hinter Schloss und Riegel, immer unter magischem Schutz gegen Eindringlinge. Das war wie im Gefängnis. Obwohl das vielleicht gar nicht für alle Haleklinder galt, sondern nur für die Herrschenden. Mella war sich nicht ganz sicher, aber sie dachte, die Tafel der Sieben regierte noch nicht lange in Haleklind. Waren sie nicht erst seit letztem Jahr an der Macht? Oder vielleicht seit vorletztem? Vielleicht lag es ja daran. Vielleicht hatten sie sich noch nicht ans Regieren gewöhnt. Das musste sie ja nervös machen. Es musste grässlich sein, ohne jede Ausbildung ein Land zu regieren. Im Elfenreich regierte die Kaiserliche Familie schon seit Jahrhunderten. Man wurde von klein auf an die Pflichten und an sein Schicksal herangeführt. Was ja wirklich einen Unterschied machte.
Tante Aisling grinste auf diese echt unerträgliche Art, die sie sich angewöhnt hatte. Sie bestand darauf, dass es für alles eine absolut harmlose Erklärung gab, und nun drückte ihr ganzer Gesichtsausdruck ein: Ich hab’s dir doch gesagt! aus. Als ob man den Zauberern tatsächlich trauen könnte. Jeder wusste doch, wie aalglatt die waren. Mella machte noch einen Versuch.
»Was passiert denn, wenn man rauswill? Was passiert, wenn man mal …«, sie wollte gerade sagen, auf die Toilette muss, bemerkte aber im letzten Augenblick, dass es in ihrer Suite ein prächtiges Badezimmer gab. Stattdessen sagte sie vage: »… irgendwohin muss?«
»Sie klopfen einfach an die Tür«, sagte Ysabeau, als wäre es das Offensichtlichste von der Welt. »Alle Sicherheitszauber sind für die zu schützende Person maßgeschneidert. Sie sind jederzeit Herrin der Lage.«
»Oh«, sagte Mella.
»Siehst du?«, warf Aisling heiter ein. »Habe ich dir nicht gesagt, dass es eine vollkommen vernünftige Erklärung für das alles gibt?« Sie wandte sich mit einem vollkommen unerträglichen, affektierten Lächeln an Ysabeau. »Ich fürchte, meine Nichte ist noch ein bisschen zu jung, um all die Feinheiten der Etikette zu verstehen. Bitte gestatten Sie mir, Ihnen unseren Dank für Ihre außergewöhnliche Gastfreundschaft auszusprechen. Unsere Räumlichkeiten sind absolut entzückend, und die Kleidung und die Betreuung, die Sie uns haben zukommen lassen … also, ich weiß gar nicht mehr, wie ich ohne das alles auskommen soll, wenn wir Sie wieder verlassen.«
Ysabeau machte eine bescheidene Geste. »Die Schuhe und die Kleidung sind ein kleines Geschenk«, sagte sie. »Sie müssen einfach mitnehmen, was Ihnen gefällt, wenn Sie abreisen. Wir werden Sie natürlich mit Faserkoffern ausstatten. Nun«, fügte sie knapp hinzu, »wir veranstalten einen kleinen Staatsempfang und ein Bankett zu Ihren Ehren.« Sie warf Mella einen abschätzigen Blick zu. »Festliche Kleidung ist nicht absolut erforderlich, Eure Durchlaucht, und meine Kollegen warten, daher ist sowieso keine Zeit mehr zum Umziehen. Und Sie müssten um diese Zeit schließlich Hunger haben, wenn Sie mich also begleiten möchten …« Sie nahm Aislings Arm, nicht den der Prinzessin, wie Mella bemerkte, sie schien in Aisling so etwas wie eine Seelenverwandte zu sehen. Aisling fuhr fort, affektiert zu lächeln, zu schwatzen und zu schleimen und sich wie eine absolute Arschkriecherin zu benehmen, die sich mit ein paar Kleidern und Schuhen hatte abspeisen lassen, die in dem Augenblick verschwinden würden, in dem sie nach Hause gelangten: Den Trick kannte doch jeder. Mella hoffte, dass Tante Aisling die Sachen gerade trug, wenn sie verschwanden, einschließlich der Unterwäsche. In aller Öffentlichkeit. Das würde ihr recht geschehen.
Das Esszimmer war klein und alles war lackiert. Mella fand es eher düster als intim, und all die glänzenden Oberflächen verursachten ihr Übelkeit. Aber zumindest hatte auch der Rest der Tafel der Sieben diese unheimlichen roten Gewänder abgelegt, und es war ihnen gelungen, beinahe normal auszusehen, oder so normal, wie Zauberer halt aussahen. Ysabeau stellte sie offiziell vor, und das zumindest geschah so, wie es sich gehörte.
»Prinzessin Culmella«, sagte Ysabeau, »darf ich Ihnen Kameradin Oudine vorstellen …« Eine kleine vogelähnliche Frau mit ergrauendem Haar musterte Mella mit bösen, glitzernden Augen. »… Kameradin Amela …« Amela war groß und schlank und zog es aus irgendwelchen Gründen vor, sich wie ein Mann zu kleiden. Sie hatte eines dieser langen, kummervollen Gesichter, die Mella an Bluthunde erinnerten. Ihr magischer Kopfschmuck schien dauernd Kurzschlüsse zu produzieren, denn gelegentlich knisterte er und versprühte Funken, aber das konnte natürlich auch gerade Mode in Haleklind sein.
»… Kamerad Marschall Houndstooth …« Noch bevor Ysabeau seinen Namen ausgesprochen hatte, wusste Mella schon, dass er vom Militär war, selbst wenn er keine Uniform getragen hätte. Sie konnte es an dem kurzen Haar, dem geraden Rücken und dem mächtigen Schnauzbart erkennen (der garantiert gefärbt war, wenn Mella nicht völlig mit Blindheit geschlagen war). In seinen jungen Jahren war er vermutlich sehr durchtrainiert gewesen, aber jetzt schob er einen Bierbauch wie ein Kriegsschiff vor sich her.
»… Kamerad Aubertin …« Der hochgewachsene, dünne Mann, der Amelas Bruder hätte sein können – und der vielleicht tatsächlich Amelas Bruder war, denn jetzt, wo es Mella auffiel, drängte sich die Familienähnlichkeit zwischen ihnen geradezu auf –, starrte Mella mit toten Fischaugen an. Mella kam zu dem Schluss, dass sie Kamerad Aubertin überhaupt nicht mochte.
»… Kamerad Naudin …« Er erinnerte Mella an einen der gnomenhaften Angestellten im Purpurpalast: klein, fett, mit beginnender Glatze und sehr exakt. Von all den Kameraden der Tafel der Sieben war er am merkwürdigsten gekleidet. Er trug einen Anzug, der ein wenig zu klein für ihn war, aber irgendwie gelang es ihm, außerordentlich adrett darin auszusehen. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter angezogen und zur Schule geschickt worden war.
»… Kamerad Senestre.« Zu guter Letzt, dachte Mella, ein Zauberer, der mit seinen tief liegenden Augen und seinem Ziegenbart tatsächlich wie ein Zauberer aussah. Sie konnte ihn sich gut in fließenden Gewändern vorstellen, wie er in der Hitze des Gefechts Feuerbälle schleuderte. Wenn er zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, hätte er ihr vielleicht sogar gefallen können.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Prinzessin Culmella höflich, als sie jedem Einzelnen die Hand schüttelte. »Danke der Nachfrage. Und Ihnen?«, fragten sie zurück. Es war alles sehr zivilisiert und geheuchelt, aber Tante Aisling schien das Ereignis zu genießen, als die Reihe an sie kam.
Als die Förmlichkeiten beendet waren, ließ sich Kameradin Ysabeau am Kopf der Tafel nieder, platzierte Mella zu ihrer Rechten und Aisling zu ihrer Linken. Sie wartete, bis die anderen Kameraden Platz genommen hatten, und läutete dann mit einer winzigen Silberglocke. Die Glockenklänge schwebten nach oben und umkreisten die Köpfe der Essensgäste, bevor sie explosionsartig in alle Richtungen aus dem Zimmer jagten. Sofort huschte ein Paar weißer Handschuhe mit einer Flasche Wein in den Raum, die sich als unerschöpflich erwies. Bei Mella beginnend, umkreisten die Handschuhe den Tisch, füllten die Gläser und zogen sich dann diskret zurück. Mella, die zu Hause keinen Wein trinken durfte, nahm schnell einen Schluck und fand, dass sie ihn auch jetzt nicht besonders mochte, auch wenn sie das nicht am Trinken hinderte, wo sie einmal die Chance dazu hatte. Aisling leerte ihr Glas zur Hälfte, schloss die Augen und murmelte: »Göttlich!« Die weißen Handschuhe eilten herbei, um ihr nachzuschenken.
Im Purpurpalast folgten die Abendessen einem schlichten, aus der Gegenwelt vertrauten Muster – Vorspeise, Hauptgericht, Pudding, dann vielleicht Ersatz für Tee oder Kaffee –, aber man tat das bloß, damit ihr Vater sich ein bisschen wie zu Hause fühlte. Überall sonst im Elfenreich waren die Mahlzeiten üppiger: drei Vorspeisen, ein kleiner Becher Ambrosia, Salatblätter mit Fisch, gebratenes Wild, gekochtes Gemüse, dann eine kleine Verdauungspause und ein herzliches Dankeslied, schließlich Brot und Honig. In Haleklind folgten die Zauberer wiederum einem anderen Ablauf. Jedem wurden von einem uniformierten Lakai zwei fingerhutgroße Becher hingestellt. In dem einen entdeckte Mella Tropfen einer silbernen Flüssigkeit, in dem anderen einer goldenen, beide waren offenkundig alchemistische Destillate. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, was Kameradin Ysabeau tat, die erst das Silber und dann das Gold trank. Sie tat es ihr nach. Vom Silber bekam sie sofort ein Völlegefühl, während das Gold die Wirkung umkehrte, sodass sie wieder Heißhunger verspürte. Sie bemerkte, dass die wenigen Tropfen in den Bechern sich jedes Mal erneuerten, sobald sie getrunken hatte.
Was nun folgte, war ein Gang nach dem anderen, weder übertrieben großzügig noch übertrieben kleinlich bemessen, wobei Süßes mit Saurem abwechselte. Indem sie ihre Gastgeberin beobachtete, begriff Mella schnell, wie man die alchemistischen Tränke benutzte. Wenn ein bestimmter Gang nicht üppig genug ausfiel und man noch Hunger hatte, dann schlürfte man etwas vom Silber, und sofort war man satt. Wenn man zu viel aufgetischt bekam, trank man vom Gold und war gleich wieder so hungrig, dass man alles aufessen konnte. Wenn man beide Tränke auf einmal nahm, veränderte man seinen Geschmackssinn so, dass einem ein Gericht, das man sonst nicht mochte, plötzlich ganz köstlich erschien. Es gab außerdem alchemistische Feinheiten – wenn man zum Beispiel drei Sekunden nach dem Silber das Gold trank, machte das einen durstig –, aber Mella hatte erst einige davon entdeckt, als Kameradin Ysabeau ihre Aufmerksamkeit ablenkte.
»Vielleicht, Eure Durchlaucht«, sagte Ysabeau beiläufig, »mögen Sie uns erklären, wie wir zu der Ehre Ihres Besuches und desjenigen Ihrer erlauchten Tante kommen?« Sie machte eine winzige Pause und fügte dann hinzu: »Und wie es Ihnen gelungen ist, hier einzureisen …?«
Mella setzte vorsichtig eine Gabel voll Seegras ab. Es war eine Frage, die auf der Hand lag, und sie hatte schon mit ihr gerechnet: In Wirklichkeit war sie überrascht, dass sie so lange auf sich hatte warten lassen. In der Zwischenzeit hatte sie angestrengt darüber nachgedacht und konnte keinen Grund dafür erkennen, warum sie nicht die Wahrheit sagen sollte. Passend ausgeschmückt natürlich, um den diplomatischen Gepflogenheiten zu genügen. Sie warf Kameradin Ysabeau ein unergründliches Lächeln zu.
»Es ist schon lange unser Wunsch«, sagte sie und benutzte dabei kühn das kaiserliche »Wir«, das so effektvoll klang, wenn ihre Mutter es verwendete, »Ihr entzückendes Land zu besuchen und mit eigenen Augen die Frucht Ihrer glorreichen Revolution in Augenschein zu nehmen.«
»Tatsächlich?«, murmelte Ysabeau gleichermaßen unergründlich.
»Wir hatten jedoch nicht die Möglichkeit«, fuhr Mella fort, »einen offiziellen Besuch zu arrangieren.« Sie nahm versehentlich einen Schluck vom goldenen Trank und musste heftig gegen den Drang ankämpfen, noch einen Bissen von dem Seegras zu nehmen. »Und so sind wir sehr erfreut, nun hier zu sein«, fügte sie schnell hinzu. Es war eine nicht ganz so befriedigende Erklärung wie die, die sie eingeübt hatte, aber sie musste jetzt einfach ausreichen. Sie spießte das Seegras auf die Gabel und schob es sich ungeniert in den Mund.
Kameradin Ysabeau sagte: »Und auf welche Weise sind Sie nun eingereist?«
Mella spürte, dass sie mit einer verschwommenen Antwort auf diese Frage nicht durchkommen würde: Die Haleklinder waren viel zu besorgt, was ihre Sicherheit betraf. Gleichzeitig war das Seegras wirklich köstlich. Dann erinnerte sie sich an den Silbertrank, nahm einen Schluck, und der Heißhunger verschwand sofort. Sie schob das Seegras auf die Seite, schluckte den Rest hinunter und sagte: »Das war ungeplant. Wir sind aus Versehen durch ein Portal hierhergelangt.« Sie bemerkte plötzlich, dass das Gespräch zwischen Ysabeau und ihr von allen am Tisch mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurde.
Ysabeau warf ihren Kameraden einen kurzen Blick zu und sah dann wieder Mella an. »Aus Versehen?«, fragte sie.
Mella holte tief Luft. »Wir haben eine alte Portalbedienung benutzt, die vollkommen falsch eingestellt war, aber das wussten wir nicht und kannten natürlich die Koordinaten nicht, und meine Tante Aisling war ein wenig ungeduldig …« – sie warf ihrer Tante einen knappen Seitenblick zu, der die ausgleichende Gerechtigkeit für all diese: Hab ich’s dir nicht gesagt! war – »und so sind wir, statt dahin zu gelangen, wo wir hinwollten …« – wo hatte Aisling denn eigentlich hingewollt? Irgendwohin ins Elfenreich, nahm Mella an. Irgendwohin, wo sie ihren vermissten Bruder hätte auftreiben können, der jetzt Kaiserlicher Prinzgemahl war – »… hier gelandet.« Sie schenkte Ysabeau ein strahlendes Lächeln. »Als wir ankamen, wussten wir nicht einmal genau, wo wir eigentlich gelandet waren. Aber es war dann wirklich nett, dass es ausgerechnet Haleklind war.«
Ysabeaus Gesicht blieb ungerührt. »Sie sind vom Purpurpalast aus eingereist?«
Mella konnte die plötzliche Spannung im Raum spüren, aber sie war sich nicht ganz sicher, warum sie jetzt aufkam. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Falls sie das hatte, wusste sie nicht genau, was sie daran hätte ändern sollen. Ganz gleich, wie angestrengt sie auch nachdachte, sie konnte immer noch keinen Grund dafür erkennen, warum sie nicht die Wahrheit sagen sollte. Sie schüttelte den Kopf. »Oh nein – von der Gegenwelt aus. Mein Vater ist ein Mensch, wissen Sie. Ich besuchte gerade …«, sie zögerte, »ich besuchte gerade meine Tante in der Gegenwelt.« Kein Grund allerdings, die ganze Wahrheit zu erzählen. Außerdem gingen die Sieben Mellas Pläne, ihre Großmutter zu besuchen, nun wirklich gar nichts an.
Die Atmosphäre im Raum entspannte sich sofort und ging in ein allgemeines Gesprächsgemurmel über. Einige ihrer Essenspartner gestatteten sich sogar ein knappes Lächeln. »Ach, die Gegenwelt!«, rief Ysabeau aus, als erklärten diese Worte alles. Sie wandte sich an Kamerad Marschall Houndstooth und sagte mit scharfer Stimme: »Sind wir geschützt gegen Portale aus der Gegenwelt?«
»Nein, das sind wir nicht«, sagte Houndstooth, der sich nicht im Mindesten von ihrem Ton einschüchtern ließ. »Da es keine Portale in der Gegenwelt gibt.«
»Das haben wir zumindest geglaubt«, warf Kamerad Naudin ein. Sein Blick wanderte zwischen Houndstooth und Ysabeau hin und her.
»Und anscheinend haben wir uns da geirrt«, sagte Ysabeau leise. Sie wandte sich wieder an Mella. »Gibt es noch andere Transporter in der Gegenwelt?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht«, sagte Mella. »Dies war ein sehr altes Portal von Papa, das Tante Aisling gefunden hat.«
»Und wo ist es jetzt?«
»In meinem Schlafzimmer«, sagte Mella. »Aber es ist kaputt.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Kamerad Aubertin leise aus dem Raum schlüpfte.
Ysabeau wandte sich an Houndstooth. »Kamerad Marschall, wir müssen Sicherheitsmaßnahmen gegen jegliches weitere Eindringen aus der Gegenwelt ergreifen. Und zwar auf der Stelle.«
»Ja, Kamerad Führerin.« Houndstooth nickte.
»Stufe zehn«, sagte Ysabeau.
»Natürlich.« Houndstooth nickte erneut.
»Ich möchte, dass Sie persönlich darüber wachen.«
»Sicher, Kamerad Führerin. Sie werden innerhalb der nächsten Stunde installiert sein.« Leise begann er, in eine seiner Medaillen hineinzusprechen.
Überraschend wandte sich Ysabeau mit einem strahlenden Lächeln an Mella. »Ich muss Ihnen, Eure Durchlaucht, im Namen der Tafel der Sieben danken.«
Mella blinzelte. »Das müssen Sie?«
»Aber natürlich!«, sagte Ysabeau überschwänglich. »Euer Besuch – der uns hoch willkommen ist – hat uns auf eine potenzielle Lücke in den nationalen Sicherheitsvorkehrungen aufmerksam gemacht.« Sie beugte sich vor, um Mella leicht auf den Arm zu klopfen. »Offenkundig haben wir weder Sie noch Ihre charmante Tante als eine Gefahr für unser Land betrachtet, aber die Tatsache, dass Sie hierhergefunden haben, in unser Regierungszentrum – wenn auch ungeplant, das nehmen wir dankbar zur Kenntnis –, zeigt natürlich, dass auch ein Feind auf diesem Wege eindringen könnte. Ein gedungener Mörder vielleicht, oder, offen gesagt, eine ganze feindliche Armee. Ich weiß, dass das jemandem, der so jung und unschuldig ist wie Sie, unwahrscheinlich vorkommen muss, aber glauben Sie mir …« Sie ließ den Satz unvollendet und fügte dann hinzu: »Wie auch immer, dieses spezielle Schlupfloch wird in Kürze für immer geschlossen sein und …«
Houndstooth blickte von seiner Medaille auf. »Erledigt, Kamerad Führerin.«
»Ah, bitte sehr: Schon geschlossen! Und das alles verdanken wir nur Ihnen, Prinzessin Mella.« Ysabeaus Lächeln verschwand abrupt. »Und jetzt«, sagte sie streng,«möchte ich, dass Sie mir sagen, was Sie von unserer Diskussion im Beratungszimmer mitgehört haben.«
Mella erstarrte. Diese Frage war so unvermittelt gekommen, dass sie sie völlig überrumpelte. Sie hatte lange gebraucht, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das Gerede von einem Angriff auf das Reich unmöglich das Elfenreich gemeint haben konnte, und es war ihr beinahe gelungen, das Ganze zu verdrängen. Zumindest bis sie wieder zu Hause wäre, wo sich dann jemand anders den Kopf darüber zerbrechen konnte. Aber jetzt lag plötzlich etwas in Ysabeaus Tonfall, das klarmachte, dass die Debatte, die sie mitgehört hatte, der Tafel der Sieben beinahe noch wichtiger war als die Sicherheitslücke; und wenn man bedachte, wie paranoid die Sieben wegen ihrer Sicherheit waren, dann musste etwas noch Wichtigeres wirklich ungeheuer wichtig sein. Dies, dachte Mella, war nicht der Zeitpunkt, noch weiter bei der Wahrheit zu bleiben. Sie musste lügen, und zwar überzeugend lügen, sonst saß sie unglaublich tief im Schlamassel. Sie öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, sagte Tante Aisling laut: »Also ich habe natürlich gar nichts gehört.«
Ysabeau drehte sich langsam zu ihr um. »Ach ja?«
»Ich war in dem anderen Raum da oben, ziemlich außer Hörweite. Also, wir konnten Stimmen hören, aber nicht, was sie sagten. Ich versuchte, Mella zu erklären, dass es ein privates Treffen sein könnte, aber sie ist die Tochter ihres Vaters und ziemlich sturköpfig, also … ich möchte Ihnen versichern, dass ich selbst nichts gehört habe und dass Mella mir außerdem nichts von dem gesagt hat, was sie eventuell gehört hat. Nicht das Geringste.«
Vielen Dank, Tante Aisling!, dachte Mella. Zu Ysabeau sagte sie: »Ich habe tatsächlich auch kaum etwas gehört. Irgendetwas über Kürbisse, oder? Ich bin mir nicht sicher. Ehrlich, wir waren so verwirrt darüber, wo wir wohl gelandet waren und wie wir vielleicht wieder zurückkämen …«
»Kürbisse?«, wiederholte Ysabeau. Aus einem Zucken ihrer Lippen wurde ein Lächeln und dann ein Lachen. »Kürbisse!«, rief sie wieder aus. Ihre Kameraden fielen in das Gelächter ein, sodass der Raum einen Augenblick später regelrecht davon widerhallte.
»Nein, ehrlich …«, protestierte Mella. Dann war der unverkennbare Geruch von Lethe in ihren Nasenlöchern – sie hatte es selbst oft genug benutzt, um den Duft sofort zu erkennen –, und Mellas Stuhl fiel krachend um, als sie versuchte, aus dem Zimmer zu rennen. Aber bevor sie noch die Tür erreicht hatte, hatte sie schon vergessen, warum sie eigentlich lief, vergessen, wo sie war, vergessen, wer sie war, und sowieso alles vergessen, was sie gesehen und gehört hatte, seit sie in Haleklind angekommen war.