Zweiundfünfzig

Es war eines dieser Gespräche, das sich in Henrys Kopf wieder und wieder abspulen würde, bis er eines Tages starb: verblüffend, erstaunlich, denkwürdig … obwohl es reichlich banal begann.

Henry sagte: »Wie kannst du nur damit drohen, mir auf den Fuß zu pinkeln! Das ist ein absolut beschämendes Verhalten für eine junge Dame. Und ich werde das nicht dulden.« Und dass du mir tatsächlich gerade auf den Fuß gepinkelt hast, auch nicht, sagte eine innere Stimme respektlos. Er versuchte, streng zu klingen, hatte aber Mühe, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

Mella sagte: »Dahinter steckt Lord Hairstreak.«

»Lord Hairstreak steckt hinter was?«

Sie waren jetzt zusammen im Thronsaal, die Tür zum Vorraum war fest verschlossen und Sicherheitszauber schützten ihr Privatgespräch. Ihr plötzlicher Abgang hatte ihm einen finsteren Blick von Blue beschert, und er konnte es ihr nicht verdenken: So einfach aus dem Raum zu marschieren war nicht bloß ungehörig, es war ganz erheblich undiplomatisch. Aber geschehen war geschehen. Mella sah ihn mit diesem Die-Welt-geht-gleich-unter-Ausdruck an, den Teenager immer aufsetzen, wenn sie etwas für ganz besonders wichtig halten. Sie war nicht viel älter als ihre Mutter an dem Tag, an dem er Blue zum ersten Mal gesehen hatte. Er bemühte sich, Mella nicht allzu liebevoll anzublicken.

»Lord Hairstreak steckt hinter dem Invasionsplan der Haleklinder. Du musst ihn in ein tiefes, dunkles, stinkendes Verlies schmeißen.«

»Lord Hairstreak steckt hinter dem Invasionsplan der Haleklinder?«, wiederholte Henry. Der Drang, sie anzulächeln, war plötzlich verpufft. Woher wusste Mella vom Invasionsplan der Haleklinder?

»Papa«, sagte Mella ernst, »Mutter hat dir gesagt, dass du nicht immer alles als Frage wiederholen sollst. Du hast keine Ahnung, wie nervig das sein kann.«

»Und du hast keine Ahnung, wie nervig es sein kann, eine verzogene Zicke als Tochter zu haben«, sagte Henry. »Woher weißt du von dem Invasionsplan und wie kommst du darauf, dass Lord Hairstreak irgendetwas damit zu tun hat?«

»Hat meine Schwester mir erzählt«, sagte Mella.

»Hör mit diesen Spielchen auf, Mella. Du hast keine Schwester.«

Und da berichtete sie ihm alles.

 

Blue war ausgesprochen übellaunig, als sie zu den beiden im Thronsaal stieß. »Hast du eine Ahnung, was das für einen Bruch mit den Regeln des Protokolls darstellt …«, begann sie.

Henry öffnete den Mund, aber Mella kam ihm zuvor. »Mutter«, sagte sie, »du musst Onkel Hairstreak einsperren.«

»Ich möchte kein Wort mehr von dir hören«, sagte Blue scharf. »Du hast deinem Vater und mir so viel Kummer bereitet …« Plötzlich unterbrach sie sich und starrte ihre Tochter an. »Was muss ich tun?«

»Er hat versucht, die Haleklinder zu einer Invasion zu überreden, und dann wollte er dich und Papa töten und die andere Mella auf den Thron bringen und …«

Blue war nicht langsamer als Henry. »Woher weißt du von der Invasion der Haleklinder?«, fragte sie sofort.

Das Problem war, dachte Henry, dass seine Frau und seine Tochter sich absolut ähnlich waren: sturköpfig, rechthaberisch, herrschsüchtig und ungeduldig. Deshalb stritten sie die ganze Zeit, selbst wenn sich Mella mal nicht wie eine verzogene Zicke benahm. Er wählte einen besonders beruhigenden Tonfall, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass das beide nur noch mehr reizte, und sagte bestimmt: »Überlass das mir, Mella. Und du, Blue, sei bitte ruhig und hör zu.«

Blue starrte ihn finster an. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Mella ihn ebenfalls finster anstarrte. Henry ignorierte beide. Er hatte beschlossen, Schritt für Schritt vorzugehen. Der erste Schritt war, Blue zu erzählen, was Mella ihm gerade erzählt hatte. Der nächste und dringlichste Schritt war, zu entscheiden, wie sie reagieren sollten. Wenn Blue ihm überhaupt glaubte. Henry war nicht einmal sicher, dass er selbst es glaubte. Er holte tief Luft. »Dies ist ein bisschen kompliziert«, begann er. »Mella hat mir gerade erzählt …«

Die Türen des Thronsaals sprangen auf und die magischen Sicherheitsmaßnahmen heulten auf. Aber Pyrgus war immer noch Kronprinz und so konnten sie nicht eingreifen. Er knallte die Türen mit seinem Fuß zu und eilte aufgeregt auf sie zu. »Ihr werdet nicht glauben, was in Haleklind pass…«, begann er, dann fiel sein Blick auf Mella. »Wie bist du denn schneller als ich hierhergekommen? Das ist unmöglich!«

Mella lächelte ihn freundlich an. »Hallo, Onkel Pyrgus.«

»Hat sie es euch erzählt?«, fragte Pyrgus. Er sah von Blue zu Henry und lächelte plötzlich breit. »Hat sie euch erzählt, was sie mit der Tafel der Sieben gemacht hat?«

»Das war ich nicht, Onkel Pyrgus«, sagte Mella. »Das war die andere Mella.«

»Das ist ja lächerlich!«, schnauzte Blue. »Was hast du denn nun gemacht mit der Tafel der …«

»Wenn ihr einfach mal ruhig sein würdet, dann könnte ich erklären, dass Mella behauptet, es gibt zwei …« Henry hielt inne, als sich die Türen des Thronsaals erneut öffneten. Er starrte dorthin. Es war eine Sache, dass Mella ihm diese absolut fantastische Geschichte von Lord Hairstreak und seinem Klon erzählt hatte. Aber es war etwas ganz anderes, den lebenden Beweis dafür von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

»Hallo«, sagte die Gestalt in der Tür. »Ich bin Mella II.«