»Jetzt guck dir mal an, was du getan hast!«, kreischte Aisling wütend.
Mella öffnete die Augen und stand auf. Ihr war ganz schummerig zumute, aber die betäubende Wirkung des Tees schien durch irgendetwas weitgehend verflogen zu sein. Tante Aisling wedelte ihr mit der Portalbedienung oder zumindest mit den Überresten davon vor der Nase herum. Die Hälfte davon schien zu fehlen. Nur ein paar baumelnde Drähte und Teile einer elektrischen Schaltung waren noch übrig. Das Ding war irreparabel zerstört.
»Wo sind wir?«, fragte Mella.
»Vor allem – wie kommen wir wieder zurück?«, konterte Aisling.
Mella blickte sich um. Sie befanden sich an einem düsteren Ort mit Holzwänden oder Holzvertäfelung, und zwar mitten auf einer engen Wendeltreppe. Die Treppe war so steil, dass sie fast senkrecht abfiel, hatte aber auf beiden Seiten kein Geländer. Stattdessen befand sich dort ein knotiges Seil, das an einer weit entfernten Decke befestigt war.
»Wo sind wir?«, fragte Aisling Mella verärgert, als hätte Mella ihr nicht eben erst dieselbe Frage gestellt. Sie blickte auf die Bedienung in ihrer Hand. »Dieses blöde Gerät ist explodiert. Hast du die Explosion gehört? Wieso hast du gesagt, ich soll auf den Knopf drücken?«
»Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte Mella. Sie war immer noch ganz bedröhnt vom Tee, aber nicht so bedröhnt. Sie waren offensichtlich durch ein Portal gegangen: Das war das Einzige, was einen Sinn ergab. Das heißt, sie waren vermutlich wieder zurück im Elfenreich. Aber wo im Elfenreich konnte sie absolut nicht sagen.
»Du musst doch wissen, wo wir sind«, insistierte Aisling. »Du wusstest doch, wie man diese Bedienung benutzt!«
Die Frau war ihre Tante, aber es war, als hätte man es mit einem bockigen Kind zu tun. »Sprich leise«, sagte Mella mit Nachdruck. Bis sie herausgefunden hatte, wo sie gelandet waren, war es besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht überall im Elfenreich begegnete man ihnen freundlich.
»Ich werde nicht leise sprechen!«, schnauzte Aisling sie wütend an. Aber zumindest tat sie das im Flüsterton. Mella begriff plötzlich, dass ihre Tante Angst hatte.
»Es wäre am besten, wenn du gar nicht sprichst«, sagte Mella leise, aber sehr bestimmt. Sie blickte sich wieder um. Es war sonst niemand auf der Treppe, niemand, soweit sie sehen konnte, am Fuß der Treppe und kein Laut von anderen Stimmen zu hören. »Jetzt hör mir mal gut zu. Wohin das Portal einen führt, hängt davon ab, wie man die Bedienung vorher eingestellt hat. Hast du, außer auf den Knopf zu drücken, noch irgendetwas getan?«
Aisling schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann hat es uns genau an den Ort gebracht, der zuletzt eingestellt worden ist.« Sie holte tief Luft und stellte eine Frage, die sie schon viel früher hatte stellen wollen. »Wo hast du diese Bedienung her?« Aus dem Journal ihres Vaters wusste sie, dass Tante Aisling nie im Elfenreich gewesen war, nicht einmal eine Ahnung davon hatte, und vor allem keine Ahnung davon, dass Henry dorthin gegangen war. Und ihre Tante verabscheute Mr Fogarty total, sodass es sehr unwahrscheinlich war, dass sie die Portalbedienung von ihm bekommen hatte.
Aisling zögerte. Schließlich sagte sie: »Sie gehört deinem Vater.«
»Ja, aber wieso hast du sie? Hat er sie dir gegeben?«
Dieses Mal zögerte sie noch länger. »Nein, die habe ich in seinem Zimmer gefunden. Er hatte sie in einer Schublade unter ein paar von diesen Zeitschriften versteckt, die sich die Jungs immer wegen der Bilder anschauen. Ich dachte, das ist eine Fernbedienung für einen Fernseher. Ich meine, sie sieht aus wie eine Fernbedienung. Ein bisschen jedenfalls.«
»Und da hast du sie genommen?«
»Ja.«
»Du hast sie gestohlen?« Allmählich kam ihr der Gedanke, dass manches, was ihr Vater über seine Schwester notiert hatte, durchaus zutreffend war. Mella begann, die gleiche Abneigung gegen ihre Tante zu entwickeln.
»Nein, natürlich habe ich sie nicht gestohlen. Ich habe sie mir geliehen.«
»Aber du hast sie nie zurückgegeben.« Mella sagte es so, dass es ebenso eine nüchterne Feststellung wie eine Frage sein konnte.
»Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit«, protestierte Aisling. »Er ist immer wieder abgehauen.«
»Hast du sie je benutzt?«
»Nein«, sagte Aisling viel zu schnell.
Mella starrte sie an. »Ich dachte, du hättest gesagt, du hättest sie für dein Fernsehdings geliehen: Wofür wolltest du sie dann haben, wenn du sie gar nicht benutzen wolltest?« Aisling sagte nichts.
Mella sagte: »Bist du sicher, dass du sie nie benutzt hast?«
Aisling verzog den Mund zu der Andeutung eines Schmollens. »Na ja, vielleicht habe ich es mal getan. Einmal. Einmal oder zweimal.«
»Drinnen oder draußen?«
»Draußen im Garten.«
»Also wusstest du, dass es keine Fernbedienung für einen Fernseher ist?«
Aisling setzte sich plötzlich auf die Treppe. »Ich wusste, dass er irgendetwas vorhatte – er und dieser alte Perversling Fogarty. Ich wusste, dass sie irgendwas zusammen ausheckten. Mama und Papa hatten nie einen Verdacht, ich aber wohl. Es war wirklich unheimlich. Henry haute immer ab und blieb länger weg, als er sollte. Fogarty hat Geräte gebaut, weißt du. Elektrische Apparate. In seiner Küche. Ich bin Henry zweimal zu Mr Fogarty gefolgt und hab durchs Fenster geguckt und gesehen, dass er wirklich merkwürdiges Zeug zusammengebaut hat. Es würde mich nicht überraschen, wenn er das hier auch gebaut hätte.« Sie warf die nutzlose Bedienung auf die Stufe neben sich.
Genau das hat er getan, dachte Mella, sagte aber nichts. Sie guckte Aisling einen Moment lang schweigend an und sagte dann: »Was ist geschehen?«
»Als ich sie benutzt habe? Da öffnete sich dann so ein … Ding. Einfach so, vor mir in der Luft. Wie heute auch.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Mella.
»Das erste Mal nichts«, sagte Aisling. »Ich meine, es sah wie ein Feuer aus, und ich wollte nicht verbrannt werden.«
»Und was war beim nächsten Mal?«
Aisling sah zur Seite. »Das zweite Mal hab ich gemerkt, dass es überhaupt nicht heiß war, also habe ich vorsichtig meinen Finger reingehalten und das Feuer hat mich nicht verbrannt. Dann habe ich es mit dem ganzen Arm versucht und auch das tat nicht weh. Ich dachte, dass es vielleicht so eine Art Durchgang ist, denn so etwas habe ich mal bei einem Gespräch zwischen Henry und Mr Fogarty gehört. Jedenfalls habe ich das gedacht. Und schließlich bin ich durchgegangen.«
Mella blinzelte. »Ins Reich?«
»In eine Art Wüste. Das ist das Elfenreich, nicht? Was man mal das Elfenreich genannt hat. Ich wusste es! Ich wusste es ganz genau!«
»Ein Teil davon ist Wüste«, sagte Mella.
»Einmal war ich in einem Gebäude mit langen Korridoren mit purpurroten Teppichen und Kristallleuchtern.«
Der Purpurpalast, flüsterte Mella. Laut sagte sie: »Du bist also mehrmals dort gewesen?«
»Ja, ich bin aber nicht sehr weit vorgedrungen – ich war vorsichtig. Und verantwortungsvoll. Normalerweise bin ich reingegangen, hab mich umgeschaut und bin wieder raus, und dann habe ich den Durchgang wieder geschlossen oder was immer es war. Ich habe nie jemanden getroffen. Nie hat mich jemand gesehen.«
»Das ist sehr wichtig«, sagte Mella. »Hast du je irgendetwas an den Einstellungen auf der Bedienung verändert? An den Knöpfen, Schaltern, Hebeln oder an irgendwas? Hast du je an irgendwas herumgefummelt außer am Ein/Aus-Schalter?« Sie wusste die Antwort schon vorher. Wenn Tante Aisling an der Bedienung nichts verändert hatte, hätte die sie immer wieder zu dem gleichen Ort gebracht. Aber das war nun einmal nicht der Fall, also musste Aisling an den Einstellungen herumgefummelt haben. Eine Menge herumgefummelt.
»Vielleicht habe ich das«, sagte Aisling vage. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Und ich hab sie ja nur ein paar Mal benutzt. Nach einer Weile hat sie gar nicht mehr funktioniert. Ich meine bis heute, als du mir das mit der Sicherung gesagt hast, und dann ist das Ding kaputtgegangen.«
Sie konnte das Ding so eingestellt haben, dass sie sonst wo gelandet waren, dachte Mella. Sie konnten sonst wo im Elfenreich sein, in irgendeinem Land, einem befreundeten oder verfeindeten. Noch schlimmer, Tante Aisling hatte die Bedienung kaputtgemacht, sodass sie nicht mehr zurückkonnten.
»Komm schon«, sagte Mella und begann, vorsichtig die Wendeltreppe hinunterzugehen.
Aisling stand schnell auf und folgte ihr. »Wo gehen wir hin?«
»Wir versuchen herauszufinden, wo wir sind.«
»Ist das nicht gefährlich?«
Mella hatte allmählich die Nase voll von ihrer Tante. »Was sollten wir deiner Meinung nach sonst tun?«
Die Treppe führte in ein niedriges Zimmer mit einer offenen Tür. Aus dem Flur davor drang Stimmengemurmel. Aisling war nervös ein paar Schritte hinter Mella geblieben und hatte ihr die Führung überlassen. (Hatte Mella das Risiko überlassen!) Jetzt blieb sie unvermittelt stehen. »Da ist jemand!«, zischte sie.
»Ja«, murmelte Mella. »Und wir sollten besser herausfinden, wer das ist.«
»Was ist, wenn das Asoziale sind oder Fußballrowdies oder so was?«, fragte Aisling. »Nachher schlagen die uns zusammen.«
Mella warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Vielleicht laden sie uns ja auch zum Essen ein.« Dennoch hatte Tante Aisling recht: Es wäre albern, einfach in etwas hineinzurennen, ohne vorher die Lage geprüft zu haben. »Wir werfen erst mal einen kurzen Blick auf sie. Wenn wir vorsichtig sind, sollten wir uns Klarheit verschaffen können, ohne dass die uns sehen.«
»Du gehst«, sagte Aisling schnell. »Du bist kleiner.« Als Mella sie anstarrte, fügte sie hinzu: »Du kannst dich besser verstecken.«
»Und was tust du?«, fragte Mella.
»Ich bleibe hier.« Aisling sah sich um, offensichtlich auf der Suche nach einem Versteck.
Mella huschte zur offenen Tür und spähte hinaus. Was sie für einen Flur gehalten hatte, stellte sich als kleiner Balkon heraus. Sie trat bis zum Geländer vor und lugte darüber.
Vom Balkon aus blickte man auf eine Art von Konferenzraum, ein bisschen wie der Debattiersaal im Purpurpalast, wo ihre Eltern mit Staatsoberhäuptern zusammentrafen. Er war mit drei Aktenschränken und einem großen ovalen Tisch ausgestattet, an dem vier Männer und drei Frauen saßen, alle trugen die gleichen roten Gewänder. Kapuzen verschatteten ihre Gesichter, sodass es unmöglich war, sie genau zu erkennen. Doppeltüren an einem Ende des Saales waren vorsichtshalber verriegelt und verschlossen. Ein berauschender Geruch nach magischem Weihrauch stieg nach oben. Zumindest nahm Mella an, dass es sich um magischen Weihrauch handelte: Sie hatte so etwas noch nie in Gebrauch gesehen.
Einer der Männer sprach in einem sehr präzisen Ton und mit hoher Stimme. »… ein derzeitiger Bestand von nur knapp unter zweitausend.« Er blickte in die Runde. »Ihr werdet euch an die Verluste erinnern, die wir letztes Jahr erlitten haben.« Wütendes, zustimmendes Gemurmel war zu hören.
Die Frau am Kopfende des Tisches hatte Augen, die rot unter ihrer Kapuze hervorblitzten. »Unsere Zielvorgabe sind zehntausend, oder?«
Es war einer der anderen Männer, eine große, aufrechte Gestalt, der antwortete. »Das ist aus militärischer Sicht die Minimalstärke, um einen erfolgreichen Feldzug garantieren zu können. Wenn man hinreichend Unterstützung durch die Truppen, Ausrüstung und Zauberkraft voraussetzt.«
»Es hieß, man käme auch mit weniger aus«, sagte die Frau.
»Das stimmt«, sagte der Mann. »Genosse Marshall Houndstooths Plan nannte bloß viertausenddreihundert, aber die Truppenstärke verdoppelte sich, die nötige Zauberkraft verdreifachte sich, und entsprechend stiegen die Kosten. Deshalb haben wir diesen Plan im April fallen lassen.«
»Ich mache mir Sorgen wegen des Zeitpunktes«, sagte die Frau nüchtern.
»Astrologisch?«, fragte eine andere der Frauen.
»Ja.«
Der große Mann sagte: »Das wurde bereits bedacht.«
»Aber wie sollen wir jemals rechtzeitig diese Anzahl erreichen«, sagte die Frau am Kopfende des Tisches. »Wenn es uns nicht einmal gelungen ist, innerhalb eines Jahres zweitausend Einheiten zu produzieren, dann wird es mindestens fünf Jahre dauern, um unser eigentliches Ziel zu erreichen. Ich gestehe ein, dass der Verlust unseres Prototyps ein gewisser Rückschlag war, aber das hat uns nicht mehr als einen Monat oder zwei gekostet, wenn ich es richtig verstehe. Ist das korrekt?«
»Korrekt, Kameradin«, sagte der präzise sprechende Mann mit der hohen Stimme. »Aber Sie müssen auch bedenken, dass wir nicht mehr produzieren, sondern inzwischen züchten – ein Prozess, der exponentiell voranschreitet und deshalb bedeutend schneller verläuft.«
»Exponentiell?«, wiederholte die Frau.
»Aus einem Prototypen eintausend Typen zu machen, braucht elf verschiedene Arbeitsgänge, was ziemlich aufwendig ist. Aber um die nächsten tausend Typen zu produzieren, braucht man nur einen weiteren Arbeitsgang, so wie für die nächsten zweitausend und viertausend.«
»Der Prozess beschleunigt sich?«
»Wollen Sie damit sagen«, sagte die Frau, »dass wir unser Ziel immer noch rechtzeitig zur Finsternis erreichen können?«
»Wir werden unser Ziel vor der Finsternis erreichen«, bekräftigte der Mann.
»Sodass unsere Invasion des Reiches wie geplant vonstattengehen kann?«
Mellas Kehle schnürte sich abrupt zu. Invasion des Reiches? Es gab nur ein Reich im Elfenreich, und zwar das, das von ihrer Mutter regiert wurde.
»Zweifellos«, bestätigte der Mann.