Siebenunddreißig

»Wo sind wir?«, fragte Brimstone. Er wusste ganz genau, wo sie waren. Sie waren da, wo der Pfeffer wächst, genau da waren sie. Sie spazierten – besser gesagt, sie krochen – unter einem Blätterdach entlang, das das meiste Sonnenlicht abhielt und nur einen grünlichen, düsteren Schimmer durchließ. Der Weg, den sie genommen hatten, war schon bald zu einem Pfad geworden und hatte sich dann ganz verloren, sodass sie bloß noch auf Gras und Unterholz marschierten. Um sie herum dehnte sich der Wald in alle Richtungen aus.

Chalkhill grunzte.

Brimstone war nicht allzu besorgt: Er vertraute darauf, dass George ihn aus so ziemlich jeder Klemme befreien würde. Aber gleichzeitig begann er zu überlegen, dass es vielleicht an der Zeit war, sich von Chalkhill abzusetzen. Der Mann hatte sich als nützlich erwiesen, indem er ihn aus der Irrenanstalt befreit hatte, und eine Weile hatte es so ausgesehen, als habe er ein paar interessante Pläne – der Auftrag, die Prinzessin zu entführen, musste doch einiges einbringen. Aber in echter Chalkhill-Manier hatte er schon wieder angefangen, alles zu vermasseln. Er hatte nicht nur Lord Hairstreak gegen sich aufgebracht, sondern es geschafft, auch noch die Kaiserin zu töten, den Kaiserlichen Prinzgemahl bekloppt zu machen und bei der Chefin des Geheimdienstes tiefes Misstrauen zu säen. Was noch schlimmer war, er hatte auch Brimstone mit in diesen Schlamassel hineingezogen. Brimstone wusste wirklich nicht, was er aus ihrer alten Partnerschaft noch für einen Vorteil ziehen sollte. Vielleicht war es das Beste, ihm die Kehle aufzuschlitzen und seine Geldbörse zu stehlen, dann wieder zur Hauptstadt zurückzukehren, sich eine Weile bedeckt zu halten und sich, sobald der Ärger sich ein wenig gelegt hatte, mit dem Geld etwas Eigenes aufzubauen.

Das Einzige, was ihn noch zögern ließ, war der Tarnzauber, den Chalkhill beim Aussteigen an dem Ouklo installiert hatte. Brimstone hatte keine Ahnung, wie lange er brauchen würde, um die Hauptstadt zu Fuß zu erreichen. Er fragte sich einen Augenblick lang, ob George ihn vielleicht tragen könnte.

Brimstone erweiterte sein Bewusstsein. Im Wald gab es eine unglaubliche Vielfalt von Lebewesen – seine alten Feinde, die Kakerlaken, waren da, lauerten und warteten, ebenso wie Termitenkolonien und Insekten jeglicher Art, von denen jedes einzelne sein ganz eigenes spezielles Drohwerkzeug besaß. (Hätte er nicht George zu seinem Schutz dabeigehabt, hätten sie ihn sicher schon längst verspeist.) Es gab Wölfe, Dachse, Rutscher und Haniels, gar nicht zu reden von militanten Krankheiten und diesen toten Dingern, die trockenes Laub und Elfenfleisch fraßen. Der Ort wimmelte von ihnen.

»Wo sind wir?«, wiederholte er.

»Wo sind wir?«, machte ihn Chalkhill verärgert nach. »Wo sind wir? Wo sind wir? Wir sind in einem Attentätertunnel, damit wir durch den magischen Verteidigungswall kommen.«

Einen magischen Verteidigungswall? Was für einen magischen Verteidigungswall?, dachte Brimstone. Laut sagte er: »Was ist ein Attentätertunnel?«

»Ein Attentätertunnel«, sagte Chalkhill mit mühsam gebändigter Geduld, »ist ein Knoten in der Raumzeit, der von der Attentätergilde eingerichtet worden ist und ihren Mitgliedern den heimlichen Zugang zu jedem Land im Reich ermöglicht. Das weiß doch jeder.«

Falsch, dachte Brimstone. Dies musste eine neue Entwicklung sein, seit sie ihn im Double Luck eingesperrt hatten. So viele technische Neuerungen: Es war absolut erstaunlich. Um das Gespräch am Laufen zu halten, bevor Chalkhill wieder in sein Gegrunze verfiel, fragte er: »Wir spazieren also durch einen Knoten in der Raumzeit?«

»Ja.«

»Eingerichtet von der Gilde der Attentäter?«

»Ja.«

»Es fühlt sich gar nicht so an.«

»Woher willst du denn wissen, wie es sich anfühlt, durch einen Knoten in der Raumzeit zu gehen, du alter Blödmann?«, murmelte Chalkhill, recht hörbar sogar, wenn man Brimstones erweiterte Sinne bedachte.

»Wohin gehen wir?«, fragte Brimstone.

»Haleklind«, teilte Chalkhill ihm knapp mit. »Der Tunnel ermöglicht, ihren magischen Schutzwall zu umgehen.«

Brimstone öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, schloss ihn dann aber wieder. Haleklind war augenblicklich wohl der beste Ort für sie. Haleklind war ein Land, das unabhängig vom Reich war, und obwohl beide theoretisch befreundete Länder waren, gab es kein Auslieferungsabkommen zwischen ihnen, es sei denn, auch das hatte sich inzwischen geändert. Selbst wenn Madame Cardui also entdeckte, dass Chalkhill für den Tod von Kaiserin Blue und den Wahnsinn von Prinzgemahl Henry verantwortlich war, gab es nichts, was sie deswegen gesetzlich würde unternehmen können. Sie würde ihn vermutlich stillschweigend erledigen lassen, natürlich, aber Brimstone selbst, der in der ganzen Sache ja nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, würde sie wohl unangetastet lassen. Na ja, ziemlich untergeordnet. Jedenfalls nicht die Hauptrolle, das war klar; und außerdem konnte er sich jederzeit wieder für unzurechnungsfähig erklären lassen. Es wäre trotzdem vernünftig, sich eine Weile versteckt zu halten, aber noch weitaus vernünftiger, sich in Haleklind versteckt zu halten als in der Hauptstadt.

Er sollte also, dachte Brimstone, diesen merkwürdigen Attentätertunnel durchqueren, was praktisch bedeutete, Chalkhill zu folgen. Sobald sie Haleklind erreicht hatten, konnte er ihm die Kehle durchschneiden und ihm seine Geldbörse stehlen. Haleklind war sogar noch viel besser geeignet, um sich etwas Eigenes aufzubauen. Dort gab es keine blöden Gesetze gegen schwarze Magie, und wegen seiner früheren Erfahrungen als Dämonologe konnte er sicher ein paar interessante Zauber fabrizieren. Die ganze magische Industrie war in Haleklind sehr verästelt und ausgefeilt. Er müsste nicht mal einen Laden eröffnen: Er konnte die Kegel direkt an einen Großhändler liefern und innerhalb weniger Monate die ganze Nation damit versorgen. Er könnte sogar reich werden damit.

»Halt dich in meiner Nähe«, sagte er zu George.

»Wie bitte?«, fragte Chalkhill.

»Hab mich bloß geräuspert«, sagte Brimstone.

Egal, was Chalkhill sagte, durch einen Knoten in der Raumzeit zu spazieren fühlte sich nicht viel anders an, als durch einen normalen Wald zu spazieren. Da gab es die gleichen Bäume, das gleiche Unterholz, die gleichen Büsche, die gleichen Pflanzen, Beeren, Nüsse und Früchte, gelegentlich sah man auch ein Tier, oder man hörte es. Aber nach einer Weile begann Brimstone doch, das Seltsame, Fremdartige zu spüren. Obwohl es keinen erkennbaren Pfad gab, kamen sie trotzdem irgendwie voran. Bäume und Büsche blockierten ihren Weg, und dennoch gelang es ihnen, sie irgendwie zu umgehen. Seine erweiterten Sinne sagten ihm, dass der ganze Wald von Leben wimmelte, und keinem dieser Wesen gelang es, sie anzugreifen. An den Geräuschen war auch irgendetwas seltsam. Vogelgesang hallte geradezu unheimlich nach. Das Rascheln eines Tieres in der Nähe war immer noch zu hören, nachdem die Bewegung längst vorüber war.

Dann war plötzlich alles wieder vorbei. Unter ihren Füßen war wieder ein Weg, und das Seufzen des Windes klang so, wie das Seufzen des Windes klingen sollte. Sie spazierten weitere hundert Meter, bevor sie zwischen den Bäumen hindurch auf eine offene Fläche kamen.

»Ist das jetzt Haleklind?«, fragte Brimstone. Er schnüffelte, um zu prüfen, ob er Magie roch, aber es gab bloß den schwachen Geruch nach Dünger.

»Ja.«

»Ich dachte, wir wären in einer Stadt. Creen oder irgendwo.«

Chalkhill seufzte. »Man kann einen Attentätertunnel nicht in ein Wohngebiet münden lassen – das fällt viel zu sehr auf. Creen ist ungefähr einen Tagesmarsch entfernt, wenn wir uns nicht irgendein Transportmittel klauen können. Aber wir sind jetzt schon innerhalb der magischen Grenzkontrollen, und ich habe gefälschte Papiere für uns beide, die uns bei der restlichen Strecke von Nutzen sein werden.« Er schulterte seinen Rucksack. »Komm schon.«

Brimstone zögerte. »Was sind denn das für Viecher?«, fragte er.

Chalkhill folgte seinem Blick. »Was für Viecher?«

Mit seinen erweiterten Sinnen konnte Brimstone eine Herde von Kreaturen dicht am Horizont grasen sehen. Es hätte eine Kuhherde sein können, aber er wusste, dass es keine war. Erstaunlicherweise konnte er nicht genau ausmachen, was für Tiere es waren. Seine Wahrnehmung glitt immer wieder an ihnen ab, rutschte zur Seite, als versuchte er, ein vollkommen mit Fett eingeschmiertes Schwein zu packen. Das konnte nur eins bedeuten: Diese Kreaturen waren magisch. Aber er hatte noch nie von einer magischen Kreatur gehört, die in Herden umherlief; und ganz gewiss nicht in Herden dieser Größe – sie war enorm. Brimstone zeigte darauf. »Da drüben«, sagte er. »In der Nähe des Wäldchens.«

»Ochsen«, sagte Chalkhill prompt. »Der Bauer muss sie zum Grasen rausgelassen haben.«

Brimstone runzelte die Stirn. »Das sind keine Ochsen.« Aus der Entfernung war es schwer zu beurteilen, aber er schätzte, die Tiere waren größer als Ochsen. Vielleicht sogar erheblich größer. Absolut sicher war er nur, dass die Herde sie bemerkt hatte. Die Tiere kamen auf sie zu.

»Dann eben Kühe«, sagte Chalkhill. »Ist auch egal. Sie werden uns in Ruhe lassen, wenn wir sie in Ruhe lassen. Und jetzt komm schon – wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er drehte sich um und ging eilig Richtung Westen.

Brimstone zögerte. Chalkhill konnte es noch nicht hören, aber es gab ein Grollen wie gedämpfter Donner, das aus Richtung der Herde kam und immer lauter wurde. Es war das bedrohlichste Geräusch, das Brimstone je gehört hatte. Die Biester waren drauf und dran, sie keineswegs in Ruhe zu lassen, ganz gleich, was Chalkhill dachte. Das Donnern war das Geräusch einer sich in Gang setzenden Stampede.

Chalkhill blieb stehen und drehte sich um. »Kommst du jetzt?«, rief er ungeduldig.

Auf der offenen Fläche hatten sie keine Chance. Die Kreaturen bewegten sich bereits sehr schnell. Selbst wenn es bloß Rinder waren, würden sie alles plattmachen, was sich ihnen in den Weg stellte. Aber das Geräusch, das sie machten, war nicht das Geräusch von Hufen, es sei denn, die Hufe waren gepolstert. Brimstone war sich jetzt sicher, dass es keine Rinder waren: Es war eine Art von magischen Monstern. Sie waren riesig und die Herde schien sich kilometerweit auszudehnen. Ihre einzige Chance, Chalkhills und seine, war, zurück in den Wald, vielleicht sogar wieder in den Attentätertunnel zu kommen. Aber als er sich umblickte, waren sie beide schon weiter vom Wald entfernt, als er bislang angenommen hatte.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Chalkhill abrupt. »Es wird doch nicht regnen, oder?«

Brimstone schottete seine erweiterten Sinne ab, aber selbst ohne sie konnte er jetzt die Herde sehen, das sich nähernde Grollen hören, das Chalkhill für Donner gehalten hatte. Sie näherte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. »Sieh doch!« Wieder zeigte er darauf.

»Oh ihr Götter!«, keuchte Chalkhill.

Die Herde füllte den ganzen Horizont aus, hielt mit der erbarmungslosen Unausweichlichkeit einer Armee von Ameisen auf sie zu. Und wie Ameisen hatten die Tiere etwas Insektenartiges an sich. Mit jeder Sekunde kamen sie näher, und jetzt konnte Brimstone die wedelnden Stachel ausmachen, die sie anstelle von Schwänzen hatten. Der Geruch der Kreaturen wehte ihnen, von einer kräftigen Brise getragen, entgegen. Es war ein heißer, magischer Geruch. Ein plötzlicher, tödlicher Schrecken breitete sich in Brimstones Magen aus.

»Mantikore!«, keuchte er. Es war unmöglich, und dennoch sah er mit eigenen Augen, wie sie sich näherten. Jetzt konnte er ihre Gesichter sehen, ihre leuchtenden Augen. Sie hatten nur eine einzige Chance. »Wir müssen zurück in den Wald!«

Chalkhill rannte bereits und überließ seinen alten Partner seinem Schicksal. Er war jünger und fitter als Brimstone, dennoch schienen seine Chancen zu entkommen gleich null. Die Herde hatte sie fast schon erreicht. Brimstone gestattete sich ein winziges, kühles Lächeln. Er hätte Chalkhill vielleicht gerettet, wenn dieser sich fair verhalten hätte, aber Chalkhill hatte beschlossen, dass jeder seine eigene Haut retten sollte. Was für Brimstone auch in Ordnung war.

»George«, rief er im Befehlston. »Trag mich sofort zum Wald. Nur mich. Nicht Chalkhill.«

Zu seiner Überraschung geschah gar nichts. Die Mantikore, die auf sie zuhielten, waren gigantisch. Verzweifelt sah er sich nach George um. Aber George, der riesige, kolossale, unsichtbare Idiot, tänzelte entzückt herum, um die Mantikore zu begrüßen, und sein ganzes Gesicht war zu einem breiten Grinsen verzogen. Und nun, begriff Brimstone, war alles zu spät. Was auch immer mit George los war, die Herde hatte ihn erwischt.