Einundfünfzig

Pyrgus hatte so etwas schon einmal als Junge gemacht und er fand es auch jetzt wieder wunderbar. Corins Männer waren ganz anders als erwartet. Er hatte sich vorgestellt, dass sein alter Freund Mitglieder der Gesellschaft mobilisieren würde, wahrscheinlich nicht einmal Aktivisten. Stattdessen hatte er Soldaten herbeigeschafft – harte Männer mit militärischer Ausbildung. Sie trugen keine Waffen (jedenfalls keine sichtbaren), was eine kleine Enttäuschung war, aber sie schwangen ihre Fackeln wie Profis. Corin stellte ihnen Pyrgus als neuen Anführer vor, und alle nahmen Habachtstellung ein, salutierten zackig und stampften so heftig mit den Kampfstiefeln auf, dass die Nägel in den Sohlen Funken stoben. Dann stellten sie sich in Marschformation auf und reihten sich hinter ihm ein. Es war ein fantastisches Gefühl, das nur durch die Tatsache getrübt wurde, dass er Corin fragen musste, wohin sie eigentlich gingen.

Der Marsch – mit richtigen Marschliedern und allem – stellte sich als recht leicht heraus, was ganz in Ordnung war, da Pyrgus schnell entdeckte, dass er schändlich untrainiert war, zumindest im Vergleich zu diesen Männern. Er verspürte ein starkes Gefühl der Erleichterung, als Corin ihm zuflüsterte, dass sie nun die Mantikor-Ebene an der Grenze erreicht hatten. Aber als sie einen Hügel bestiegen und über die Ebene selbst blickten, war sofort klar, dass etwas nicht stimmte.

»Wo sind die Mantikore?«, fragte Pyrgus. Kein einziges Biest war zu sehen, geschweige denn eine ganze Herde.

Corin sah genauso überrascht aus wie er selbst. »Ich weiß es nicht.«

»Bist du sicher, dass dies der richtige Ort ist?«

»Ja«, sagte Corin. »Hundertprozentig.« Er deutete in eine Richtung. »Da drüben ist die Grenze. Wenn du genau hinschaust, kannst du das Schimmern der Sicherheitsvorrichtungen sehen.«

»Aber es sind keinerlei Mantikore da.«

»Ja, das sehe ich auch«, sagte Corin. »Sie müssen … verschwunden sein.«

»Das hier wird zu einem richtig blöden Gespräch«, grummelte Pyrgus. »Natürlich sind sie verschwunden, sonst wären sie ja noch hier. Die Frage ist, wohin? Sie hatten sich an der Grenze gesammelt, Corin, das garantiere ich dir. Wir hatten ja darüber gesprochen.« Er sah Corin eindringlich an. Er musste vorsichtig mit seinen Formulierungen sein, wegen der Männer, die nun hinter ihnen herandrängten. Aber sobald Corin darüber nachdachte, musste ihm doch klar werden, dass eine Mantikor-Herde, die als Waffe gezüchtet und für eine Invasion in Stellung gebracht worden war, nicht einfach irgendwohin davonwanderte. Wenn es irgendein Zeichen größerer Bewegung gegeben hatte, irgendein Zeichen überhaupt, hätte die Tafel der Sieben sofort den Befehl gegeben, sie wieder an ihre ursprüngliche Position zurückzubringen.

Corin senkte die Stimme. »Vielleicht hat die Invasion begonnen.«

Pyrgus starrte ihn in plötzlichem Schock an. Es besagte eine Menge über seine Naivität, dass ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen war. Aber nun, da Corin ihn zum Ausdruck gebracht hatte, begriff Pyrgus mit einem Frösteln, dass das die offensichtlichste Erklärung war. »Glaubst du das wirklich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Corin. Seinem Gesichtsausdruck nach war er genauso schockiert und besorgt wie Pyrgus selbst. »Aber ich denke, wir sollten es herausfinden.«

»Und wie machen wir das?«

»Wir gehen da runter und schauen uns die Spuren an.«

»Mantikore sind nicht leicht aufzuspüren.« Pyrgus runzelte die Stirn. Er hatte sein Weibchen nur mit großen Schwierigkeiten verfolgen können, und jetzt waren sie auf offener Fläche, wo es keine zertrampelten Büsche gab, die einem Hinweise gaben.

»Einzelne Mantikore nicht, nein«, stimmte Corin ihm zu. »Ihre Ballen hinterlassen kaum Spuren. Aber eine Herde ist etwas anderes, vor allem eine große, besonders wenn sie sich schnell bewegt. Die Tiere fahren ihre Krallen aus, damit sie schneller vorankommen. Wenn wir da runtergehen, werden wir bald wissen, wohin sie gezogen sind – jedenfalls in welche Richtung.«

Noch etwas anderes bereitete Pyrgus Sorgen. »Du weißt nicht etwa, ob die Tafel der Sieben Sichtkugel-Kameras auf der Ebene installiert hat?«

»Bestimmt«, sagte Corin. »Ihr Militär wird sicher ein Auge auf die Herde haben wollen. Und auf die Grenze natürlich. Hast du Sorge, du könntest gesehen werden?«

»Ein bisschen.« In Wirklichkeit hatte er weniger Sorge, vom Militär der Haleklinder gesehen zu werden, als von Blue, die glaubte, er sei unterwegs in einer diplomatischen Mission zum Karcist Kreml. Als er den Plan entwickelt hatte, die Herde zu verlegen, hatte er damit gerechnet, dass er in der Masse herumlaufender Viecher und Männer kaum auszumachen gewesen wäre. Aber auf dieser leeren Ebene würde er auffallen wie ein schmerzender Daumen. Und Blue wüsste sofort, was er vorhatte. Seit ihrer Kindheit waren sie einander so nah gewesen, dass sie praktisch seine Gedanken lesen konnte. Und sie würde ausrasten.

Corin, der schnell von Begriff war, sagte: »Geht es darum, dass man die Männer nicht sieht, oder willst du selbst nicht erkannt werden?«

»Selbst nicht erkannt werden – das ist eine Komplikation, die ich wirklich nicht gebrauchen kann. Es ist egal, wer eine Gruppe Männer auf einem leeren Feld herumwandern sieht. Aber ich würde lieber …« Er brach ab, um zu fragen: »Was machst du da?«

Corin hielt ihm einen Zauberkegel unter die Nase. »Leicht zu beheben«, sagte er.

Pyrgus wich misstrauisch zurück. »Wo hast du das denn her?«

Corin grinste. »Ich mag vielleicht unsere Regierung nicht, aber ich bin immer noch ein Haleklinder – wir haben Zauber für jede Gelegenheit. Dieser hier ist ein Gesichtslifter. Jugendliche benutzen sie bei Partys – man sieht damit gut aus.«

»Ich sehe schon gut aus.« Pyrgus grinste zurück.

»Ansichtssache«, sagte Corin. »Aber in jedem Fall verändern sie deine gesamte Erscheinung: Deine eigene Mutter würde dich nicht wiedererkennen. Das Beste daran ist aber, dass du nur dein Gesicht kräftig reiben musst und dann löst sich die Wirkung sofort wieder auf.«

»Knack den Kegel!«, sagte Pyrgus schnell.

Was die Spuren anbelangte, hatte Corin recht. Sobald sie auf der Ebene waren, sah man deutlich, dass dort eine Mantikor-Herde gegrast hatte, und zwar erst kürzlich. Es war etwas weniger deutlich, wohin sie gezogen war – Teile der Erde waren so aufgewühlt, dass es aussah, als wären sie umgepflügt worden –, aber glücklicherweise hatte einer von Corins Männern Erfahrung im Spurenlesen.

»Sie sind in den Wald gezogen«, sagte er.

»Das ist nicht möglich«, sagte Corin sofort. »Wiesenmantikore mögen den Wald nicht, und umgekehrt ist es genauso.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Sage Ihnen bloß, was die Spuren zeigen.«

Pyrgus verspürte eine vorsichtige Woge der Erleichterung. Wenn die Mantikore im Wald waren, hieß das auch, dass es noch keine Invasion gegeben hatte. Er fragte Corin stirnrunzelnd: »Wo im Wald würden sie denn hingehen? Wo führt dieser Wald hin?« Er schien sich nicht klar ausgedrückt zu haben, also fügte er hinzu: »Ich meine, wenn man direkt durch den Wald marschiert, wo kommt man dann wieder raus?« Er hatte keine allzu klare Vorstellung von der Geographie Haleklinds, aber ihm kam der Gedanke, dass es auf der anderen Seite vielleicht bessere Lebensbedingungen für Mantikore gab. Die Viecher waren bis zu einem gewissen Grad nomadisch und konnten schlicht aufgebrochen sein, um bessere Weidegründe zu finden. Wiesenmantikore lebten vielleicht nicht gern im Wald, aber sie hatten sicher keine Probleme, einen zu durchqueren. Falls die Tafel der Sieben allerdings vorhatte, sie als Waffen einzusetzen, sie an die Grenze verlegt hatte und sie mit Kameras beobachtete, war es unwahrscheinlich, dass man sie einfach abwandern ließ. Und falls sie abgewandert waren, würden ihre militärischen Hüter nicht bald auftauchen, um sie wieder zurückzubringen?

Corin sah ihn einen Augenblick lang nachdenklich an. »Der Wald erstreckt sich in nordsüdlicher Richtung. Wenn man nach Süden geht, führt er direkt ins Elfenreich, aber wenn man gerade hindurchgeht, erreicht man das Gebiet des Karcist Kreml.«

»Da sollte ich eigentlich auch sein«, murmelte Pyrgus nachdenklich. Seine Gedanken rasten. Wo auch immer sie waren, die Mantikore versammelten sich nicht länger an der Grenze, sodass die Mission, die er sich selbst verordnet hatte, beendet war. Was bedeutete, dass er sich jetzt seinem offiziellen Auftrag widmen konnte. Wenn er die Tafel der Sieben schnell erreichte, konnte er mit seiner Suche nach Mella an dem Ort beginnen, wo sie zuletzt gesehen worden war, und gleichzeitig herausfinden, ob es in der gegenwärtigen Lage irgendeinen diplomatischen Spielraum gab. Er war jetzt optimistischer als bei seinem Aufbruch. Er dachte weiter über die verschwundene Herde nach und fand es schwierig, sich vorzustellen, dass irgendjemand anderes als das Militär Haleklinds sie verlegt haben könnte. Und wenn das Militär sie verlegt hatte, bedeutete das eine veränderte Lage, möglicherweise sogar einen Wechsel zum Besseren. Er kam zu einem Entschluss und wandte sich an Corin.

»Alter Freund, ich möchte dir für deine Hilfe danken.«

»Kann nicht sagen, dass wir viel getan hätten«, Corin zuckte mit den Schultern.

»Ihr seid für mich hierhergekommen – das ist es, was zählt. Und was auch immer hier passiert ist, die Mantikore sind im Augenblick außer Gefahr. Jetzt muss ich also offiziell Kontakt zur Tafel der Sieben aufnehmen.«

Corin sah ihn kurz an. »Du hast nicht vor, durch den Wald zu gehen, oder?«

»Sollte ich das nicht?«

»Nicht allein, nein, das solltest du nicht. Erstens würdest du dich wahrscheinlich verlaufen, so wie ich dich kenne. Zweitens sind die Waldmantikore die mit Abstand gefährlichste Art der ganzen Rasse. Gefährlich und unberechenbar.«

»Ja, aber wenn man sie in Ruhe lässt, dann lassen sie einen …«, protestierte Pyrgus.

Corin schnitt ihm das Wort ab. »Jetzt komm mal auf den Boden der Tatsachen, Pyrgus. Ich weiß, dass du Tiere liebst, aber sie können dich immer noch umbringen. Wir begleiten dich.«

Pyrgus blickte Corin an, blickte die Männer an, die sich hinter ihm in Reih und Glied aufgestellt hatten. »Das würdest du? Ihr? Wirklich?«

Corin sah über seine Schulter. »Was sagt ihr, Männer?«

Salutierend hoben die Männer ihre Fackeln und riefen: »Ja!«

 

Der Marsch durch den Wald verlief ohne Zwischenfall. Es lief so glatt, dass Corin begann, sich Sorgen zu machen. »Bei einer Gruppe dieser Größe hätten wir inzwischen doch wenigstens auf einen Sicherheitszauber stoßen müssen«, sagte er schließlich zu Pyrgus. »Dieser Wald grenzt an das Gelände des Karcist Kreml. Völlig undenkbar, dass es ungeschützt ist – das wäre eine offene Einladung.«

»Vielleicht verlassen sie sich auf die Waldmantikore, um Leute abzuschrecken«, schlug Pyrgus vor.

»Hast du irgendwelche Mantikore gesehen?«

»Ehrlich gesagt, nein«, sagte Pyrgus. »Aber ich dachte, es wäre der Lärm unserer Gruppe, der sie abhält.«

»Dann wären sie ja ein toller Schutz«, sagte Corin. »Zufällig weiß ich, dass es in diesem Gebiet magische Schutzvorrichtungen gab. Zumindest ursprünglich. Einige davon sind außerdem ausdrücklich dazu gedacht, größere Gruppen aufzuhalten. Eine oder zwei Personen kann man den Mantikoren überlassen, aber eine Gruppe unserer Größe sollte überall die Alarmglocken läuten lassen. Seit wir im Wald sind, benutze ich einen Detektor, und es gibt kein Anzeichen von irgendetwas. Es ist, als hätte …« Er zögerte. »Wenn ich die Sieben nicht besser kennen würde, würde ich sagen, es ist, als hätte jemand die Zauber abgeschaltet.«

»Lasst uns einfach den Göttern danken, dass keine in Kraft sind«, sagte Pyrgus weise. »Das macht uns das Leben leichter. Sobald wir den Karcist Kreml erreicht haben, werden wir keine Probleme haben: Die Mitglieder der Tafel kennen mich und ich bürge für den Rest von euch. Ich sage ihnen, dass wir durch den Wald gekommen sind, um meine Mission geheim zu halten: Das werden sie doch zu schätzen wissen.«

»Okay«, sagte Corin, nicht allzu überzeugt. Und in dem Augenblick, in dem sie aus dem Wald auf das Gelände des Kreml traten, wusste auch Pyrgus, dass irgendetwas nicht stimmte.

Die gepflegten Rasenflächen und sorgfältig getrimmten Begrenzungen waren verwüstet. Sträucher, Büsche, selbst Zierbäume waren herausgerissen worden, und das Gras war so zertrampelt, dass man darunter die braune Erde sehen konnte. Dahinter waren die Wachhäuschen dem Erdboden gleichgemacht, und von den Wächtern war niemand zu sehen. Pyrgus starrte zum Gebäude und sah sofort, dass das Fenster rechts vom Haupteingang zerbrochen war. Der Eingang selbst war unbewacht und die Doppeltüren standen weit offen – in den Annalen des revolutionären Haleklinds ein unerhörter Vorgang.

Pyrgus und Corin sahen sich an. »Irgendetwas ist geschehen«, sagte Pyrgus unnötigerweise. Gemeinsam starrten sie wieder auf das Gebäude und rannten dann gleichzeitig los. Corins Männer zögerten kurz und rannten hinterher. Als sie den Haupteingang erreichten, trat eine kleine Gestalt hervor. Pyrgus blieb abrupt stehen. »Mella!«, rief er aus. Mella sah ihn an. »Wer sind Sie?«, fragte sie.