Sie lagen Seite an Seite auf einem Himmelbett. Henry blinzelte. Das Bett war mit schwarzen Satinlaken bezogen. Die Brokatvorhänge leuchteten in einem tiefen Rot, bei dem sich einem der Magen umdrehte. Die Vorhänge am Fuß des Bettes waren aufgezogen, sodass er einen Teil des Zimmers sehen konnte. Ein zauberbetriebenes Gemälde an der Wand gegenüber zeigte eine klassische Szenerie mit Nymphen, die apathisch vor Satyrn flohen. Der Teppich auf dem Boden war in einem eitrigen Gelb gehalten. Henry setzte sich auf, und sein Kopf pochte plötzlich, als hätte er am vorigen Abend ordentlich getrunken.
»Was für ein schauerlicher Geschmack«, murmelte er.
Blue ließ dieses komische leise Stöhnen hören, das sie immer hervorstieß, wenn sie aufwachte. Sie sah Henry an, dann die Vorhänge, dann das bewegliche Wandbild. Einen Augenblick später setzte sie sich ebenfalls auf. Beide trugen sie immer noch dieselben Sachen, die sie für den Besuch in der Gegenwelt ausgewählt hatten.
»Sieht aus, als wären wir wieder im Elfenreich«, sagte Henry. Das Wandbild war der entscheidende Hinweis. Es sei denn, jemand gebrauchte eine Rückprojektion.
»Ja«, murmelte Blue. Sie schwang die Füße auf den Boden und stand auf. »Hast du irgendeine Ahnung, wie lange wir bewusstlos waren?«
»Überhaupt keine.« Henry schüttelte den Kopf und wünschte, er hätte es nicht getan. »Hast du Kopfschmerzen?«
»Ja.«
»Lange genug, sodass sie uns zurück durchs Portal und hierherbringen konnten, nehme ich an«, sagte Henry. »Das waren Chalkhill und Brimstone.«
»Ja«, sagte Blue erneut.
»Ich dachte, er sei wahnsinnig geworden.«
»Brimstone? Das war er auch. Ist er wahrscheinlich immer noch.« Sie zögerte. »Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich sehr lange bewusstlos gewesen, aber ich vermute, es ist schwer zu sagen.«
Henry nahm all seinen Mut zusammen und stand ebenfalls auf. Sein Kopf wackelte ein wenig, fiel aber nicht von den Schultern. Er kniff die Augen zu, öffnete sie dann wieder und fühlte sich ein wenig besser. »Er hat irgendeine Art von magischem Netz benutzt.«
»Typischer Netzzauber«, sagte Blue. »Der setzt deinem Nervensystem zu wie Hael. Aber das sollte schnell abklingen, jetzt wo wir wach sind.«
Sie sahen sich im Schlafzimmer um. Das Grelle und Kitschige setzte sich auch bei den Möbeln fort, aber das bemerkenswerteste Objekt war ein Frisiertisch mit Spiegel, der seine eigene Beleuchtung produzierte. Henry erhaschte einen Blick auf sich selbst und dachte, dass er trotz allem ziemlich gut aussah.
»Positive Verzerrung«, murmelte Blue verärgert. »Dies ist das Schlafzimmer eines Gecks.«
»Chalkhill?«, sagte Henry. Was einen Sinn ergeben würde, da sie von Chalkhill und Brimstone gefangen genommen worden waren. Aber warum sollte Chalkhill sie in seinem Schlafzimmer einsperren? Warum nicht irgendwo in einem Kerker? Henry konnte es immer weniger glauben, aber die Wahrheit war, dass sie Kaiser und Kaiserin waren – na ja, Kaiserlicher Prinzgemahl, wie auch immer. Man entführte doch nicht Kaiser und Kaiserin und sperrte sie dann in seinem Schlafzimmer ein, wo irgendjemand hineinspazieren und sie entdecken konnte und es keine angemessenen Sicherheitsvorkehrungen gab. So etwas würde sich höchstens ein Kind als Teil eines Märchens ausdenken. Aber vielleicht war das gar kein echtes Schlafzimmer. Vielleicht war es ein als Schlafzimmer getarnter Kerker. Aber ob nun echt oder getürkt, es gab nur eine Priorität. Er sah sich um. »Die Frage ist, wie können wir von hier entkommen?«
»Durchs Fenster?«, schlug Blue vor. Zusammen gingen sie zum Fenster und blickten auf ein gepflegtes Stück Garten hinaus.
Henry strich mit seiner Handfläche sanft über das Fensterglas und spürte das vertraute allergische Prickeln gegen Magie. »Es ist zaubergeschützt«, sagte er. Ihm kam der Gedanke, dass der gepflegte Garten auch eine Illusion des Zauberbelags sein könnte. Was wirklich da draußen war, konnte genauso gut das wütende Meer, ein Lavasee oder ein Wald voller Dinosaurier sein.
»Könnte trotzdem zerbrechlich sein«, sagte Blue.
Henry bezweifelte das. Chalkhill und Brimstone würden sie kaum in einem Raum mit zerbrechlichem Fensterglas einsperren. Dennoch wusste er, dass es besser war, sich nicht mit Blue zu streiten, die sehr stur sein konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er sah sich um, bis sein Blick auf den Stuhl vorm Frisiertisch fiel. »Bleib hinter mir«, sagte er.
Blue machte Platz, als Henry den Stuhl gegen die Fensterscheibe schleuderte. Er schlug mit einem lauten Peng gegen das Glas und wurde heftig zurückgeschleudert. »Mann!«, keuchte Henry, ließ den Stuhl fallen und schüttelte seine Hände, die noch vom Schlag zitterten.
»Sicherheitsglas«, murmelte Blue. »Die Flucht wird wohl nicht so leicht werden, wie wir dachten.«
Henry, der keinen Augenblick angenommen hatte, dass es leicht werden würde, stellte den Stuhl vorsichtig wieder neben den Frisiertisch. »Ich frage mich, ob es hier mal einen Kamin gegeben hat …«
»In einem Schlafzimmer?«, fragte Blue ungläubig.
»Wenn es ein altes Haus ist«, sagte Henry. »In meiner Welt gab es früher Kamine in den Schlafzimmern alter Häuser. Ich dachte, hier könnte das vielleicht auch so sein.«
»Nicht, seitdem die Magie entdeckt wurde«, sagte Blue. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir je Kamine in Schlafzimmern hatten. Wie auch immer, hier ist keiner.«
»Nein, ich sehe, dass hier keiner ist. Aber dies ist entweder ein neues Haus oder ein altes Haus, das renoviert wurde. Wenn es ein neues Haus ist, gibt es keinen Kamin, aber wenn es ein altes, renoviertes Haus ist, dann ist vielleicht irgendwo einer versteckt.« Wenn es irgendwo einen versteckten Kamin gab, dann wären sie vielleicht in der Lage, dort durchzubrechen und den Schornstein hochzuklettern, vorausgesetzt, der Schornstein war nicht zugemauert worden. Er begann, die Wand abzuklopfen wie ein Arzt die Brust eines Patienten, in der Hoffnung, etwas Hohles zu entdecken.
Blue wandte sich angeekelt ab und ging wieder ans Fenster. »Irgendetwas ist mit diesem Garten …«, sagte sie.
»Ich dachte, dass er vielleicht gar nicht existiert«, sagte Henry. So weit klang die Wand fest wie ein Fels, möglicherweise weil sie tatsächlich aus einem Felsen gehauen war.
»Was meinst du damit – gar nicht existiert?«
»Landschaftszauber oder wie auch immer das heißt«, murmelte Henry. »Die kitschigen Zauber, die bei mickrigen kleinen Stadthäusern eingesetzt werden, damit man denkt, man wohnt auf einem Landgut.« Seine Gedanken kehrten zu einer früheren Idee zurück, aber er beschloss, die Theorie vom getarnten Kerker nicht zu erwähnen, die Blue bloß aufregen oder, schlimmer noch, sie verärgern könnte. Er klopfte wieder an ein Stück Wand. Es klang fest.
»Ich bezweifle es«, sagte Blue. »Landschaftszauber sind billig und schäbig. Wenn man aus einem bestimmten Winkel darauf schaut, gibt es fast immer einen verräterischen Schimmer. Auf diesem Fenster ist nichts dergleichen.«
»Blue …«, sagte Henry.
»Außerdem ist irgendetwas merkwürdig an dem Garten da draußen, etwas …«
»Blue …«, sagte Henry wieder.
»… Vertrautes. Es ist, als ob …«
»Blue«, sagte Henry, »die Tür ist offen.«
Sie drehte sich um, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck des Erstaunens an, der sich schnell in Bewunderung verwandelte. »Wie in Gottes Namen hast du das gemacht?«
Henry fragte sich das gerade selbst. Er hatte die Wand abgeklopft, als er zur Tür gekommen war, und irgendetwas – wahrscheinlich die Macht der Gewohnheit – hatte ihn dazu gebracht, die Klinke herunterzudrücken. Die Tür hatte sich problemlos geöffnet. Einen Moment lang erwog er zu behaupten, er habe das Schloss geknackt – er mochte diesen bewundernden Blick –, aber er wusste, sie würde dann bloß fragen, wie, und der anschließende Ärger war die Sache nicht wert. Stattdessen sagte er: »Ich habe gar nichts gemacht: Sie war nicht abgeschlossen.«
Blue runzelte die Stirn. »Bist du sicher?«
Henry deutete auf die offene Tür und hob beide Augenbrauen.
»Ich nehme an, du bist es«, sagte Blue. Sie kam rüber, nahm seine Hand, und gemeinsam marschierten sie aus dem Zimmer.
Sie befanden sich im Schlafzimmerflügel einer luxuriös ausgestatteten Behausung. Keine der Türen war verschlossen und es waren auch keine magischen Sicherheitsmaßnahmen in Kraft. Wächter waren keine zu sehen; sie schienen die einzigen Lebewesen im Haus zu sein.
Als sie ein weiträumiges Wohnzimmer betraten, sagte Blue plötzlich: »Du hattest recht!«
»Hatte ich?«, fragte Henry. »Womit denn?«
»Guck dir mal das weiße Klavier mit den Diamantenbeinen an«, sagte Blue. »Das ist Chalkhills Haus, ganz sicher. Ich bin schon mal hier gewesen – deshalb kommt mir der Garten so bekannt vor. Ich war mal mit Kitterick hier.«
Henry sah sich um. Warum sollte Chalkhill sie entführen und sie dann durch sein Haus spazieren lassen? »Warum …«, setzte er an.
»Das war die Zeit, als er so wahnsinnig affektiert war und sich nur noch mit Innenausstattung beschäftigte, um die Tatsache zu verschleiern, dass er Lord Hairstreaks Spion war«, sagte Blue. »Er hat das Haus genauso belassen, wie es damals gewesen ist. Komm und guck dir den Garten an – du wirst das nicht glauben!«
Sie zog ihn durch die Terrassentür auf einen perfekt getrimmten Rasen und nahm dann den Gartenweg um das Herrenhaus herum, der an einem Beet mit Fingerhut und Glockenblumen entlangführte, die leise sangen. Der Pfad mäanderte durch einen herzförmigen Hain und an einem Krocketrasen mit leuchtend rosa Toren vorbei.
»Jetzt mach dich auf was gefasst«, murmelte Blue.
Sie bogen um die Ecke und Henry starrte auf einen Swimmingpool, der aus einem einzigen Stück Amethyst gehauen, dann in Gold gefasst und mit ewig sprudelndem Wasser gefüllt worden war. Die ganze Szene war in warmen und permanenten Sonnenschein getaucht.
»Mein Gott!«, keuchte er.
»Das ist schon was, oder?«, sagte Blue.
Henry wandte seinen Blick vom Pool ab. »Was ich nicht verstehe, ist, warum sie uns entführt und dann hierhergebracht haben. Ich meine, du wusstest, dass dies Chalkhills Haus ist, und andere müssten das auch wissen. Das ist doch der erste Ort, wo sie suchen werden, wenn er seine Lösegeldforderung stellt.«
»Vorausgesetzt, er plant, eine Lösegeldforderung zu stellen«, sagte Blue angespannt.
»Nun, was sollte er sonst … oh. Ach, du lieber Himmel. Du denkst, er könnte …«
»Ich weiß es nicht«, sagte Blue. »Es geht wahrscheinlich um Lösegeld, aber du hast recht – es ist merkwürdig, dass er uns hierhergebracht hat.«
»Und alles ohne Wächter«, überlegte Henry. »Obwohl ich annehme, dass es ein Sicherheitssystem gibt, auch wenn wir noch nicht darauf gestoßen sind. Ein Kraftfeld oder so etwas.«
Aber Blue schüttelte den Kopf. »Das braucht er gar nicht. Dieses Haus liegt mitten in den Wildmoor Broads. Wir sind von Schwarmkraut umgeben. Der einzig sichere Weg herein und hinaus führt durch die Luft.«
»Und wir haben keinen Flieger«, sagte Henry.
»Und wir haben keinen Flieger«, bestätigte Blue.
Sie spazierten zusammen durch den Garten, bis sie den Rand des Besitzes erreichten und auf die wilde Weite der Broads starrten. Schwarmkraut brodelte und zuckte wie ein wütendes Meer. Ein zauberbeschichteter Zaun hinderte es daran, auf Chalkhills Grund und Boden überzugreifen.
»Hat jemals dort draußen jemand zu Fuß überlebt?«, fragte Henry.
»Einmal ist jemand fast einen Kilometer weit mit einem gepanzerten Wagen gekommen, obwohl sich das Fahrzeug kurz danach aufgelöst hat. Und es gibt die Legende, dass zu der Zeit von Scolitandes dem Dürren zwei entflohene Häftlinge die ganzen Broads zu Fuß durchquert haben, aber niemand glaubt das wirklich.«
»Ganz gleich«, sagte Henry, »wenn wir keinen Flieger finden, müssen wir es trotzdem versuchen.«
Blue nickte ernüchtert. »Ich weiß. Um Mellas willen.«