Henry und Blue fuhren mit dem Taxi zu Mr Fogartys altem Haus. Es taugte als Basis für ihre Nachforschungen in der Gegenwelt so gut wie jedes andere, ja es war besser als die meisten anderen. Das Haus wurde ganz offensichtlich von niemandem genutzt, und da es am Ende einer Sackgasse lag, wurde es auch nicht beachtet, und es tauchten auch keine zufälligen Passanten auf – ohne Zweifel genau die Gründe, warum Mr Fogarty es seinerzeit gekauft hatte. Nach seiner Begegnung mit Hauptkommissar Tyneside wollte Henry vor allem und dringend ein ruhiges Plätzchen haben, an dem er nachdenken und unter vier Augen mit Blue reden konnte, ohne dass sie unterbrochen wurden.
Als sie die Küchentür hinter sich schlossen, fragte Blue: »Hatte er vielleicht eine Art Wohnzimmer? Ich finde es hier drin ein bisschen unheimlich.«
Henry ging es genauso, obwohl das vor allem von den alten Erinnerungen herrührte. »Ja, hatte er. Es ist allerdings ziemlich unordentlich – jedenfalls war das früher so.«
Das war es auch immer noch, es lagen diverse Bücherstapel herum, aber auf der Couch war Platz genug, sodass sie sich nebeneinander daraufsetzen konnten. Henry griff nach Blues Hand. »Was denkst du jetzt?«
»Du weißt, was ich denke: Das habe ich dir dort schon gesagt. Ich glaube, dass Mella hierhergekommen ist, um deine Mutter zu besuchen.«
Henry schürzte die Lippen. »Glaubst du, sie haben ein Portal im Haus benutzt, woraufhin es eingestürzt ist?«
»Ja.«
»Glaubst du, es geht ihr gut?« Henry holte tief Luft und sagte es: »Lebt sie noch?«
Blue sah ernüchtert, aber zuversichtlich aus. »Ja.«
»Irgendeine Idee, wo sie jetzt vielleicht sein könnte?«
»Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach«, sagte Blue. »Offensichtlich wieder im Reich.«
»Ja, aber das Reich ist groß.« Es war in Wirklichkeit ein ganzer Planet.
»Ich glaube, wir können den Bereich vielleicht ein wenig eingrenzen«, sagte Blue. »Wo sich das Portal öffnet, hängt ja davon ab, wie die Koordinaten eingestellt waren. Also, du erinnerst dich, dass ich gesagt habe, sie muss irgendeine alte Bedienung in die Hand bekommen haben?«
Henry nickte. »Ja.«
»Hast du dich nicht gefragt, wo sie eine gefunden haben könnte?«
»Na ja, doch, aber ich dachte …« Er wedelte vage mit den Händen in der Luft herum.
Blue wartete noch einen Augenblick, damit er sich erklären könnte. Als er das nicht tat, sagte sie: »Ich dachte, dass sie möglicherweise hier eine gefunden hat.«
»Hier drin?«, fragte Henry. »Hier an diesem Ort? In Mr Fogartys Haus?«
»Wenn du nicht eine in deinem früheren Zuhause liegen gelassen hast, gibt es keine andere Möglichkeit.«
»Nein«, sagte Henry nachdenklich, »ich hab keine zu Hause liegen gelassen.« Er hatte es tatsächlich geschafft, mal eine zu Hause zu verschusseln, aber das war eine andere Sache. Wenn er sie damals nicht hatte finden können, würde Mella auch nicht darüber stolpern. Was Blue sagte, hatte Hand und Fuß. Wo sonst sollte Mella an eine Portalbedienung in der Gegenwelt gekommen sein, wenn nicht in Mr Fogartys Haus? Ihre Tochter musste zuerst hierhergekommen sein, bevor sie losgefahren war, um ihre Großmutter zu besuchen. Was auch einen Sinn ergab: Er hatte ihr so viel von Mr Fogarty erzählt, dass der alte Knabe auf sie wie ein Held gewirkt haben musste. Außerdem befand sich einer der alten Knotenpunkte direkt hinter Mr Fogartys Schmetterlingsstrauch.
»Wenn es eine Bedienung war, die Mr Fogarty gehört hat, dann war sie wahrscheinlich auf den Purpurpalast eingestellt«, sagte Blue. »Oder auf Fogartys alte Unterkunft auf dem Palastgelände.«
Henry sah sie voller Bewunderung an. Sie hatte vollkommen recht. Mr Fogarty hatte Portale immer nur benutzt, um von seinem Haus zum Palast zu kommen und wieder zurück. Ihm kam ein Gedanke. »Sie hat sie vielleicht verstellt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Blue. »Ich glaube nicht, dass sie überhaupt vorgehabt hat, ein Portal zu benutzen. Warum sollte sie? Sie war doch gerade erst in der Gegenwelt angekommen. Sie will deine Mutter kennenlernen, und wahrscheinlich auch die Freundin deiner Mutter, so wie ich unsere Tochter kenne. Sie will ungewöhnliche Orte in der Gegenwelt besichtigen und erforschen. Sie will noch gar nicht wieder nach Hause. Außerdem wusste Mella, wie gefährlich es ist, diese alten Bedienungen drinnen zu benutzen. Ich glaube, sie hat die Bedienung aus Versehen gedrückt und bei der Gelegenheit das Haus deiner Mutter in die Luft gejagt. Glücklicherweise scheint ja zu dem Zeitpunkt niemand anderes im Haus gewesen zu sein.«
»Oh mein Gott«, rief Henry aus. Wie sollte er das seiner Mutter erklären? Dann fiel ihm plötzlich ein, dass er das ja gar nicht musste. Er verspürte Erleichterung und gleichzeitig ein vages Schuldgefühl. Er richtete seine Gedanken wieder auf das, was wichtig war, und das war bestimmt nicht seine Mutter. »Du bist dir ziemlich sicher, dass Mella nicht in den Trümmern verletzt worden ist, als das Haus einstürzte?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht da war, als das Haus einstürzte. Der Verfolger hat kein Anzeichen für Leichen gefunden – das habe ich dir schon gesagt. Was er gefunden hat, war Mellas Energiespur. Mella ist also dort gewesen, war aber offensichtlich nicht mehr da, als das Haus zusammenfiel.«
»Ich kapier es einfach nicht«, sagte Henry. »Was ist denn deiner Meinung nach passiert?«
»Das Haus ist nicht eingestürzt, als sich das Portal öffnete – sondern, als es sich schloss. So war das nämlich mit diesen alten Bedienungen. Ich glaube, Mella muss es aus Versehen geöffnet und dann begriffen haben, dass beim Schließen die Gefahr einer Explosion bestand. Also ist sie durchgegangen, um für den Fall einer Explosion auf der richtigen Seite zu sein: Sie ist ziemlich schlau, unsere Mella. Zumindest weiß sie, wie sie auf sich aufpassen muss.«
»Sie ist also wieder zurück ins Reich, wahrscheinlich zum Purpurpalast?«
»Das wäre meine Vermutung«, sagte Blue.
»Dann gehen wir also jetzt nach Hause, finden sie und legen sie für die nächsten zehn Jahre an die Kette?« Ihm kam ein Gedanke. »Warte mal: Wenn sie bloß durchgegangen ist, um sich in Sicherheit zu bringen, würde sie nicht sofort wieder zurückkehren? Dein Verfolgerteufel sagte, dass unter den Trümmern niemand war, also hat sie meine Mutter wahrscheinlich nicht angetroffen, wie sie eigentlich geplant hatte, und so …«
»Da sind Leute hinterm Haus.« Blue sah auf. »Ich hab sie am Fenster vorbeigehen sehen.«
»Das werden Kinder sein«, sagte Henry wegwerfend. Kinder kamen manchmal hierher und schnüffelten herum – er erinnerte sich noch von früher daran, als er Hodge gefüttert hatte. »Was denkst du? Würde sie nicht sofort wieder zurückkehren? Auf jeden Fall würde sie doch sehen wollen, ob das Haus wirklich explodiert ist – bei den alten Bedienungen ist das nicht immer passiert.«
»Sie würde vielleicht sofort zurückkehren wollen, aber unter Umständen würde das nicht klappen«, sagte Blue. »Manchmal sind diese alten Bedienungen regelrecht kaputtgegangen, wenn sich das Portal schloss. Sie könnte erst wieder zurückkommen, wenn sie ein neues hätte. Oder zumindest das Portal des Hauses Iris erreichte. Das könnte sie allerdings nicht benutzen, weil ich Hauptportalingenieur Peacock angewiesen habe, ihr die Benutzung zu verbieten.«
»Also«, sagte Henry, »wenn die alte Bedienung nicht kaputtgegangen ist, dann schleicht Mella wahrscheinlich irgendwo in der Nähe von Mutters Haus, das heißt von dessen Überresten, herum. Aber wenn sie kaputt ist, dann ist sie wahrscheinlich wieder zu Hause im Purpurpalast und versucht, an eine andere Bedienung heranzukommen.« Er runzelte die Stirn. »Und wir sind hier, kilometerweit von beiden Orten entfernt.« Er drehte sich um, um Blue anzusehen. »Sollten wir versuchen, durchs Portal zurück zum Palast zu kommen, oder …«
Da wurde laut an die Hintertür geklopft. Das Geräusch hallte im leeren Haus wider. Henry spürte, wie Blue neben ihm erstarrte. »Wer ist das denn?«, fragte sie.
»Das wird ein Versicherungsvertreter sein«, sagte Henry. Manchmal versuchten Versicherungsvertreter in dieser Gegend ihr Glück, indem sie von Tür zu Tür gingen. Auch daran erinnerte er sich aus jenen Tagen, als er Hodge gefüttert hatte. »Ich werde ihm sagen, dass er verschwinden soll.« Er stand auf und ging zur Tür, hielt dann aber inne. »Ich bin nicht sicher, ob wir zum Palast zurückkehren sollten. Ich meine, wenn sie wirklich dahin gegangen ist, könnte sie inzwischen gut wieder hier sein, und selbst wenn sie dort ist, wäre sie sicher schon wieder auf dem Weg hierher, wenn wir sie endlich gefunden hätten.«
Wieder wurde geklopft. »Komme schon! Komme schon!«, rief Henry. Zu Blue sagte er: »Die andere Möglichkeit ist, dass Madame Cardui sie, wenn sie wirklich wieder zurück ist, schnappt, aber wenn das geschieht, wird Cynthia uns das sofort wissen lassen. Wenn wir also alles bedenken, dann wäre es das Vernünftigste, zurück zum Haus meiner Mutter zu fahren, also zu den Überresten, und dort nach Mella zu suchen: Vielleicht schickst du auch noch mal deinen Verfolgerdämon los. Und wenn sie nicht da ist, warten wir, weil sie wahrscheinlich nur noch nicht da ist und am Ende auftauchen wird. Was glaubst du?«
»Ich glaube, dass du einen erstaunlichen Verstand hast«, sagte Blue.
»Ja, wirklich?«, sagte Henry erfreut.
»Du solltest dich jetzt besser um den Vertreter kümmern«, sagte Blue, als sich das Klopfen wiederholte.
»Ja«, sagte Henry. »Ja.« Als er in Richtung Küche ging, rief er ihr über die Schulter zu: »Zumindest wissen wir jetzt, was wir tun müssen. Zumindest haben wir jetzt einen Aktionsplan.« Er sah die Umrisse des Vertreters, die sich hinter der Milchglasscheibe der Hintertür abzeichneten. »Ich komme!«, rief er wieder fröhlich. Er drehte das Vorhängeschloss auf. »Wenn es sich um eine Versicherung handelt, fürchte ich …«
Die Tür schwang krachend nach innen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte hintenüber. »Schnapp dir die Kaiserin!«, blaffte jemand herum. Dann raste eine Gestalt auf ihn zu, und obwohl Henry völlig überrascht war, schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht.
»Wo ist sie?«, fragte jemand missmutig.
»Himmel!«, keuchte der Mann, den Henry getroffen hatte. Er war schwarz gekleidet und maskiert wie jemand, der als Ninja verkleidet auf eine Kostümparty wollte. Henry trat ihm zwischen die Beine, der Angreifer klappte nach vorn und fiel dann schwer auf die Knie.
»Los, George.« Ein alter Mann trat durch die offene Tür. Schon auf den ersten Blick erkannte Henry ihn als Silas Brimstone. Aber Brimstone war doch in irgendeine Irrenanstalt eingesperrt und fraß Fliegen. Henry zielte, um seinem Gegner noch einen Tritt zu verpassen, diesmal gegen den Kopf dieses idiotischen Ninjas. Der alte Mann – Brimstone – hob einen Zauberkegel.
»Runter!«, schrie Blue. Henry blickte sich um und sah, dass sie einen speziellen Stimlus in der Hand hielt, die Version, die keinen unmittelbaren Kontakt benötigte. Er hatte einen Wirkungsradius von etwa drei Metern und Henry befand sich direkt in der Schusslinie. Er ließ sich auf den Boden fallen und rollte zur Seite, aber aus irgendeinem Grund hatte Blue Schwierigkeiten, die Waffe abzufeuern.
»Er hat mir in die Eier getreten!«, keuchte der Ninja, und obwohl seine Stimme vor Erstaunen verzerrt war, erkannte Henry sie sofort. Die Stimme gehörte Jasper Chalkhill.
Chalkhill und Henry kamen beide auf die Füße. Blue versuchte immer noch zu feuern und zu guter Letzt schoss ihr Stimlus einen Energiestoß ab. Er erwischte Chalkhill an der Schulter, als er nach Henry griff, und wirbelte ihn herum, wobei ihm die Maske abfiel. Brimstone zerbrach den Zauberkegel und kicherte, als ein Drahtnetz wie eine Rauchwolke herausströmte. Das Ding wickelte sich sofort um Blue, woraufhin sie den Stimlus fallen ließ, und machte sich dann über Henry her. Er zuckte zurück, aber es hatte schon seinen Arm erwischt. Seine alte Allergie gegen Magie setzte ein, sodass er sich auf den Boden erbrach.
»Oh Henry!«, hörte er Blue seufzen, wobei er sich nicht sicher war, ob sie das aus Verzweiflung oder Mitleid gesagt hatte. Dann zogen die Drähte sich fester zusammen, sodass er gegen Blue gepresst wurde, was schön war, aber nicht lange anhielt, weil er Mühe hatte zu atmen, dann überhaupt keine Luft mehr bekam, und dann entglitt er, entglitt in die Dunkelheit …
… Dunkelheit, schweigendes Dunkel.