Kapitel 40
Die Stürme, die von den Bergen herunterfegten, waren so heftig, daß die Botschaft unter ihnen erbebte. Sogar hier, im Konferenz-Raum, der sich tief im Innern des Gebäudes befand, konnte Sten das Peitschen der Blitze und das dumpfe Rollen des Donners noch hören.
Er schauderte. Nicht etwa des kalten Regens, sondern der Worte wegen, die das seltsame Wesen aussprach, das etwa einen Meter über dem Boden des Raumes schwebte.
»... bedauerlicherweise muß ich mitteilen, daß sich meine Überlegungen nicht als fehlerhaft erwiesen haben. Vielleicht bin ich deswegen ein solches Risiko eingegangen und habe die Mühe auf mich genommen, Dr. Rykor einen Besuch abzustatten in der falschen Hoffnung, daß ich doch einem furchtbaren Irrtum erlegen war und daß unsere weise Freundin mich sanft in die Realität zurückführen würde.«
Sr. Ecu machte eine abrupte Bewegung mit seinem Schwanz und schwebte auf Sten zu. Ein hochempfindlicher Fühler reckte sich und berührte Stens Hand.
»Aber es war kein Irrtum, Der Ewige Imperator ist komplett wahnsinnig. Und diese Tatsache wird unweigerlich in eine totale Katastrophe münden.«
Sten schwieg. Zum zweiten Mal in seinem Leben fühlte er sich als Waise. Seit seiner Jugend, nachdem man seine Familie umgebracht hatte, hatte er für den Imperator gearbeitet und gekämpft.
»Ich kann es kaum glauben«, sagte Mahoney. Obwohl er schon seit einiger Zeit selbst einen ähnlichen Verdacht gehabt hatte, fiel es ihm nicht leicht, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
»Es tut mir sehr leid, alter Freund«, erwiderte Sr. Ecu.
»Aber gerade Sie wissen am besten, wie recht ich habe. Es gibt aber noch zwei andere Dinge, die ich Ihnen beiden nicht vorenthalten darf.«
Er veränderte seine Position und näherte sich ein wenig dem Fußboden. Sein Fühler wühlte in dem geöffneten Koffer.
Mahoney hielt plötzlich ein Fiche in der Hand.
»Das ist eine Liste der möglichen Berater des Imperators, die meine Agenten zusammengestellt haben. Wissen Sie, sobald ich davon überzeugt war, daß der Imperator wahnsinnig ist, fragte ich mich, wer sein Berater sein mochte. Wem leiht er sein Ohr? Wer gibt seine Befehle weiter?«
Mahoney starrte auf das Fiche in seiner Hand. »Und was haben Sie herausbekommen?«
»Poyndex«, erwiderte Ecu ohne Umschweife.
Sten atmete tief durch. Das war ein weiterer Tiefschlag.
»Der Mann ist ein Überläufer«, protestierte Mahoney »Er hat den Imperator verraten, um dem Privatkabinett beizutreten.
Dann hat er das Privatkabinett verraten, um sein eigenes Leben zu retten.«
»Das ist wahr. Und jetzt koordiniert er die Pläne des Imperators, sämtliche Provinzen des Imperiums in eine Art spätfeudalistische Ländereien zu verwandeln. Der Job, den Sie abgelehnt haben, wie ich aus meinen Unterlagen ersehen kann.
Aus moralischen Gründen.« '
Mahoney ließ sich verzweifelt in seinen Sessel fallen. »Wie konnte es nur so weit kommen?« fragte er sich laut. »Nach all diesen Jahren?«
Der Fühler des Manabi förderte noch weitere schlechte Neuigkeiten zutage. Diesmal war Sten an der Reihe. Er wurde mit zwei in Papier gehüllten Dokumenten konfrontiert. Eines war blau, das andere rot. Auf beiden stand vorschriftsmäßig sein Name.
»Ihre persönlichen Akten«, sagte Sr. Ecu. »Vergeben Sie mir, daß ich in Ihre Privatsphäre eingedrungen bin.«
Sten zuckte mit den Schultern. Was hatte das jetzt noch für eine Bedeutung?
»Der erste Bericht, der mit der blauen Hülle, ist der offizielle. Er ist für die Öffentlichkeit bestimmt, die über Ihre mannigfaltigen herausragenden Leistungen im Imperialen Dienst informiert wird.
Bei genauer Analyse ergeben sich bestimmte Lücken in diesem Lebenslauf. Lücken, die geschickt kaschiert werden.«
Sten und Mahoney wußten beide, daß es sich bei diesen sogenannten Lücken um Geheimmissionen handelte, die Sten im Auftrag des Imperators durchgeführt hatte.
»Bemühen Sie sich nicht, mir diese fehlenden Jahre zu erklären«, sagte Sr. Ecu. »Ich bin ohne weiteres dazu in der Lage, mir die Natur dieser Missionen vorzustellen, die Sie im Auftrag des Imperators unternommen haben.«
»Danke«, sagte Sten müde. »Vermutlich.«
»Bitte öffnen Sie jetzt die zweite Akte, Sten«, sagte Sr. Ecu.
Sten klappte die rote Deckseite des Umschlags zurück, unter der ein Deckblatt mit dem Briefkopf der Inneren Sicherheit zum Vorschein kam. Erstaunt sah Sten zu Sr. Ecu hoch.
»Ich soll vor ein ... Untersuchungsgericht?«
»Die Untersuchung ist bereits abgeschlossen«, erwiderte Sr.
Ecu. »Wenn Sie Zeit haben, das einmal durchzulesen, werden Sie feststellen, daß die Damen und Herren der Inneren Sicherheit die erwähnten Lücken in einem ganz anderen Licht sehen.
Diese Sichtweise führt zu der unabänderlichen Schlußfolgerung, daß Sie ein Verräter sind, Sten. Sie, der loyalste aller Mitarbeiter des Imperators, sind zum Werkzeug seiner Feinde geworden.«
Sten blätterte die Akte rasch durch und sah, wie sich Beweis an Beweis reihte. Dann klappte er den roten Bericht zu.
»Unterlagen für den >Fall, daß<, vermute ich?«
»Genau. Falls Sie Probleme haben, einen Auftrag auszuführen - oder den Imperator auf andere Weise verärgern -, dann wird diese Akte ins Spiel gebracht. Im gleichen Atemzug werden Ihre Verdienste in Fetzen zerrissen.«
Sten fühlte, wie der Raum um ihn herum ins Schwanken geriet. Nicht wegen des Sturmes. Er zwang sich selbst zur Ruhe. »Ich danke Ihnen vielmals für die Warnung, Sr. Ecu.
Aber - vermutlich hatten Sie mehr im Auge als nur meinen guten Ruf.«
Sr. Ecu ging mit seinem Besuch ein gewaltiges Risiko ein.
Natürlich hatte er ein absolut sicheres Transportmittel gewählt, das ihm Ida von den Roma, die alte Teamkameradin Stens aus Mantis-Zeiten, zur Verfügung gestellt hatte. Wenn irgend jemand etwas über die Absichten seines Besuchs herausbekam, dann brachte Sr. Ecu nicht nur sich selbst, sondern sein ganzes Volk in Gefahr.
Der Manabi verzichtete plötzlich auf jegliche diplomatische Taktik.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen«, sagte er.
Sten war erschüttert. »Helfen? Wie denn? Ich verfüge weder über eine Armee noch über Raumflotten. Ich bin bloß -«
»Nicht gleich den Kopf verlieren, junger Freund«, sagte Sr.
Ecu. »Ich weiß nicht einmal sicher, um was ich Sie bitten würde. Außer ... zu denken ... scharf nachzudenken. Wenn diese häßliche Angelegenheit im Altai-Cluster abgeschlossen ist... dann kommen Sie zu mir, in meine Heimat. Und Sie auch, Ian. Immerhin haben wir schon einmal ein Wunder vollbracht, oder etwa nicht?«
»Aber damals handelte es sich lediglich um das Privatkabinett«, sagte Sten. »Nicht um den Ewigen Imperator.«
»Ich glaube, wir sollten ihm zuhören, Sten«, flüsterte Mahoney rauh. »Ich habe meine Untertanentreue einem Symbol geschworen, nicht dem Mann.«
Sten schwieg. Wie hätte er es erklären können? Für den persönlichen Verlust, den er soeben erlitten hatte, gab es keine Worte. Der König war tot, allerdings. Lang lebe der König.
Plötzlich dachte er: >Was hält mich jetzt noch? Wem bin ich noch etwas schuldig? Außer Cind? Außer meinen Freunden?< Er dachte an einen Rückzug nach Smallbridge. Er sehnte sich nach den Wäldern und Bergen und nach seiner Hütte an den zugefrorenen Seen.
»Suchen Sie sich einen anderen«, antwortete er Sr. Ecu.
»Ich möchte nicht undankbar erscheinen - aber ich werde Ihre Warnung ausschließlich zu meinem eigenen Nutzen verwenden.«
»Ich werde trotzdem auf Sie warten, Sten«, sagte der Manabi. »Ich habe Vertrauen in Sie.«
»Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte Sten brüsk.
»Meine Leute werden Sie zu Ihrem Schiff zurückbegleiten. Ich wünsche Ihnen eine sichere Heimreise. Und vielen Dank für Ihre Mühe.«
Sten ging zur Tür. Mahoney folgte ihm langsam.
»Rykor hat mich davor gewarnt, daß Sie mich zuerst abweisen würden«, rief Sr. Ecu hinter ihm her. »Aber am Ende würden Sie doch kommen.«
Sten war plötzlich grundlos wütend und knurrte dem sanftmütigen Wesen, das eine so weite Reise auf sich genommen hatte, zu: »Verdammte Rykor!«
»Denken Sie einfach darüber nach, Sten«, hörte er den Manabi noch sagen, während er das Zimmer verließ. »Das würde uns allen eine Menge Zeit ersparen.«
Sten stürmte durch die Empfangshalle. Er kochte vor Wut.
Er wollte weg. Irgendwohin. Sich betrinken. Auf einem Pistolenlauf herumkauen.
Als er am Empfang vorüberstürmte, dem Ausgang der Botschaft entgegen, nahm er die bleichen, verängstigten Gesichter der Offiziere in der Halle kaum zur Kenntnis.
Mahoneys riesige Pranke landete auf seiner Schulter und drehte ihn herum. Sten gelang es mit äußerster Anstrengung, nicht auf seinen Freund einzuschlagen.
»Sten! Hör mir doch mal zu, verdammt! Erinnerst du dich, was ich damals auf der Erstwelt gesagt habe? Bevor alles anfing? Ich glaube, jetzt weiß ich, worin unsere Antwort bestehen könnte.«
Sten schüttelte seine Hand ab. »Ich habe genug von diesen Spielchen, Ian«, sagte er. »Soll sich doch mal jemand anders um die Antworten kümmern. Verflucht! Schon die Frage interessiert mich überhaupt nicht mehr.«
Plötzlich standen vier große Individuen in der grauen Uniform der Inneren Sicherheit mitten in der Empfangshalle.
Stens Herz machte einen wilden Satz, als er begriff, was ihre Anwesenheit zu bedeuten hatte.
Die ISTypen kamen langsam näher. Ihr Anführer wies sich mit einer kurzen Geste aus. Ein anderer zog Handschellen aus seiner Uniform. Sten machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
Der IS-Anführer ging jedoch an ihm vorbei. Stens Kopf flog herum, als der Mann sich an Ian wandte. »Gouverneur Mahoney, Sie werden bitte mit uns kommen.«
Sten starrte die Gruppe atemlos an. Was ging hier eigentlich vor? Warum waren die nicht hinter ihm her?
»Aufgrund welcher Anordnung?« hörte er Mahoney brummen.
»Aufgrund der Anordnungen des Ewigen Imperators«, fuhr ihn der Anführer an. »Man beschuldigt Sie der Inkompetenz gegenüber dem Feind. Das Kommando wird Ihnen hiermit entzogen. Sie werden zur Erstwelt gebracht und dort offiziell angeklagt... Wenn der Anklage stattgegeben wird, dann kommt Ihr Fall vor Gericht.«
Sten suchte verzweifelt nach irgendeinem Sinn in dem, was er da gerade gehört hatte. Sie mußten über das reden, was sich auf den Umstrittenen Welten ereignet hatte. Die dumme, erniedrigende Niederlage von Admiral Langsdorff. Er trat zwischen die IS-Offiziere und Mahoney
»Aber - er hat nichts damit zu tun«, protestierte Sten.
»Aus dem Weg, Botschafter«, sagte der Anführer.
Sten drehte sich herum, um nach Unterstützung zu rufen, aber noch während er sich drehte, fragte er sich, welcher Narr ihm wohl zu Hilfe kommen würde.
»Ist schon in Ordnung, Sten«, sagte Mahoney. »Machen wir die Dinge nicht noch schlimmer.«
Er stieß Sten beiseite. »Ich bin bereit«, teilte er dem IS-Commander mit.
Hilflos sah Sten zu, wie sie ihn gegen die Wand drückten, seine Füße zur Seite stießen und ihn einer gründlichen entwürdigenden Durchsuchung unterzogen. Mahoneys Arme wurden ihm nach hinten auf den Rücken gebogen. Sie legten ihm Handschellen an - so fest, daß seine Hände vom angestauten Blut anschwollen.
Einen Moment später wurde Mahoney aus der Botschaft hinausgeführt.
»Ich rufe den Imperator an«, rief ihm Sten hinterher. »Es muß sich um einen Fehler handeln. Ich spüre es. Um einen schrecklichen Fehler.«
»Geh nach Hause, mein Junge«, brüllte Mahoney, während sie ihn schon durch die Eingangstür schoben. »Denk dran, was ich dir gesagt habe - geh nach Hause!«
Die Türen zischten ... und er war verschwunden.
Sten rannte zum Nachrichtenraum und stieß den Offizier, der Nachtdienst hatte, beiseite. Er hämmerte persönlich den Code ein und drückte die Sendetaste.
»Ich möchte mit dem Imperator sprechen«, brüllte er den Beamten an, der seinen Anruf endlich entgegennahm. »Und zwar sofort, verdammt noch mal.«
»Tut mir leid, Botschafter Sten«, sagte der Offizielle. »Ich habe explizite Instruktionen erhalten. Der Imperator möchte nicht mit Ihnen sprechen. Unter keinen Bedingungen.«
»Jetzt halt mal die Luft an, du Flachhirn!« schnaubte Sten.
»Hier spricht Botschafter Sten. Nicht irgendein nichtsnutziger Angestellter.«
Der Beamte tat so, als würde er noch einmal sorgfältig eine Liste auf einem unsichtbaren Bildschirm durchgehen. »Tut mir leid. Hier liegt kein Fehler vor. Der Imperator hat ganz besonders darum gebeten, daß Ihr Name von seiner persönlichen Zugangsliste gestrichen wird. Tut mir leid, wenn das gewisse Unbequemlichkeiten für Sie nach sich ziehen sollte ... aber ich bin sicher, daß Sie das, was Sie benötigen, auch über die offiziellen Kanäle bekommen können.«
Der Bildschirm erlosch.
Sten sank auf seinen Stuhl. Jetzt konnte er für Mahoney nur noch beten.
Und das war absolut unmöglich für einen Mann, der auf einen Schlag alle seine Götter verloren hatte.