Kapitel 36
Siebenunddreißig E-Stunden später rollte der Donner über Rurik.
Sten stellte gerade mit aller erforderlichen Sorgfalt seinen Bericht zusammen, der sämtliche Details über Iskras Ermordung enthielt. Die detaillierte Schilderung des Vorfalls diente zur Ergänzung und Vertiefung des Blitzberichts, den er schon kurz nach seiner hastigen Ankunft in der Botschaft an den Ewigen Imperator und die Erstwelt abgeschickt hatte.
Ein Funkspruch vom Raumhafen ging in der Botschaft ein: Eine Imperiale Einheit oder mehrere Imperiale Einheiten hatten gerade angekündigt, daß sie sich im Landeanflug befanden.
Weder Sten noch Alex hatten Zeit genug, sich lange über diese Nachricht zu wundern. Handelte es sich hier um Unterstützung? Oder um irgendwelche Imperialen Streitkräfte, die überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten? Oder um eine Invasion?
Am Himmel rumorte es noch lauter als bei einem der gewaltigen jochianischen Gewitter; Raumschiffe dröhnten über ihre Köpfe hinweg.
»Oh, du leidender Jesus«, fluchte Alex. »So viele Entchen hab' ich schon seit Kriegsende nicht mehr gesehen. Müssen zwei, nein drei Geschwader sein. Mit ausgewachsenen Schlachtschiffen. Da hat jemand endgültig die Schnauze voll.
Oder sie sind uns letztendlich doch noch auf die Schliche gekommen, alter Knabe.«
Sten antwortete nicht. Auch er beobachtete den Himmel.
Hinter den Kampfschiffen donnerte die zweite Welle herein.
Truppentransporter, Versorgungsschiffe und Geleitschutz.
Sten schätzte, daß eine ganze Divison der Imperialen Streitkräfte angekommen war.
Was um alles in der Welt...
»... treibst du denn hier, Ian?«
»Wollt ihr unsere Antwort von vorgestern?« fragte Ian Mahoney. »Oder unsere Antwort auf eure charmanten Nachrichten an die Erstwelt?«
»Die, mit der ich am besten klarkomme«, sagte Sten. Sie standen auf der Kommandobrücke der Repulse, eines Imperialen Schlachtschiffs, das unter Mahoneys Kommando flog. Um sie herum war der ehemahls so verlassene Raumhafen von Rurik mit Schiffen überfüllt und sah aus wie ein wichtiger Militärhafen auf der Erstwelt.
Die Einschätzung von Sten und Alex erwies sich als richtig.
Mahoneys Streitkräfte bestanden aus drei
Kampfschiffgeschwadern und Mahoneys »Privat-Einheit«, der 1. Gardedivision.
Mahoney hatte sie sogleich empfangen und mit dem Admiral bekannt gemacht, der die Flotteneinheiten führte, einem eher steifen Zeitgenossen namens Langsdorff.
Anschließend hatte er den Admiral von der Kommandobrücke gejagt und eine Flasche Scotch geöffnet, den eigens für den Imperator hergestellten Spezialalkohol.
»Ich setze euch also über meine beiden Befehlsvarianten in Kenntnis. Nach dem Bombenattentat auf die Kaserne hat mich der Imperator beauftragt, eine Truppe zur Friedenssicherung zusammenzustellen. Er wollte mich zum richtigen Zeitpunkt mit ein bißchen Rückendeckung ankommen lassen. Meine Arbeitsplatzbeschreibung lautete auf Imperialer Gouverneur.
Ich sollte euch unterstützen und sicherstellen, daß Iskra auf dem Thron bleibt.«
Sten schürzte die Lippen. »Seine Einstellung gegenüber Iskra hatte sich also nicht verändert?«
»Gab es denn einen Grund dafür?«
»Ja! Ungefähr zwölf Tonnen der besten Steine, die ich je poliert habe, und ein Eimer aus reinem Silber, in dem ich sie, allzeit bereit, aufbewahre. Egal. Meine Steinesammlung zeige ich dir später. Die Sache mit Iskra hat sich von selbst geklärt.«
»Deswegen haben sich auch meine Befehle geändert«, sagte Mahoney. »Der Altai-Cluster soll jetzt direkt von der Erstwelt aus regiert werden.«
»Fremdherrschaft«, wunderte sich Alex. »Das war verdammt noch mal noch nie eine Lösung. Entschuldigung, Sir.«
»Kilgour, der erste Tag, an dem du nicht fluchst, wird der erste Tag sein, an dem ich wieder in meine Uniform steige. Mir gefällt es auch nicht. Aber so lautet mein Befehl. Direkt von ihm.«
»Für wie lange?«
»Hat man mir nicht gesagt.«
Sten rollte das Glas mit dem Drink, von dem er noch nicht einmal genippt hatte, zwischen den Handflächen hin und her und versuchte, den richtigen Ansatz für die nächste Frage zu finden, »Ian - wie lauten deine Befehle im Hinblick auf mich?«
»Ich habe keine. Womit hast du denn gerechnet?«
»Ich weiß nicht.«
Sten erklärte, daß er um vorzeitige Entlassung gebeten hatte, was ihm vom Imperator verweigert worden war. Jetzt, nachdem Iskra tot war und der gesamte Altai-Cluster noch dichter am Rand des totalen Chaos stand, nahm er an, daß er entweder unehrenhaft entlassen und nach Hause geschickt werden oder zumindest einen anderen Auftrag bekommen würde.
»Ich vermute, daß du weiter Botschafter bleiben sollst«, sagte Mahoney »Zumindest so lange, bis sich der erste Schock gelegt hat. Dann werden sie einen von uns weiterverschieben.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Imperator zwei seiner höchstbezahlten Problemloser lange an ein und demselben Platz einsetzt. Schließlich hat er anderswo noch andere Probleme am Hals.«
»Allerdings.«
»Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen darum machen, daß hier einer dem anderen die Butter vom Brot nimmt, oder was meinst du, Sten?«
»Ich habe nicht aus diesem Grund gefragt.«
»Schon gut. Alles ist vorbereitet. Mal sehen, ob wir diese Holzköpfe nicht mit etwas wie einem bewaffneten Waffenstillstand in Schach halten können. Wir fangen gleich morgen damit an.
Und vielleicht kannst du jetzt endlich dein Glas austrinken.
Du bist ja richtig empfindlich geworden, hier draußen bei diesen gemeingefährlichen Vollidioten. Empfindlich und paranoid.«
»Höchstwahrscheinlich hast du recht damit«, sagte Sten und versuchte sich befehlsgemäß zu entspannen.
Jetzt hatte er wenigstens etwas und jemanden, auf den man sich verlassen konnte. Trotzdem rumorte der Gedanke nach wie vor in seinem Hinterkopf, daß sie sich hier im Altai-Cluster befanden und daß auf die eine oder andere Weise womöglich auch Mahoney, die Flotte und die Imperiale Garde in diese verdammte blutige Anarchie, auf die hier alle geradezu versessen zu sein schienen, mit hineingezogen werden könnten.