Kapitel 28

Die Frage, ob die Entdeckung am Ort des Rauchs den Kurs des Imperators verändern würde, sollte nicht beantwortet werden.

Ihre Familie war weder reich noch arm. Jedenfalls nicht das, was die Bewohner von Rurik als arm bezeichnet hätten; auf vielen anderen Planeten hätte man sie als Slumbewohnerin angesehen. Aber sie kannte sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater, und nur zwei ihrer Brüder waren als Kleinkinder gestorben. Sie hatte immer mindestens eine Mahlzeit am Tag erhalten, und ihre Kleider waren sauber, wenn auch mehrmals abgeändert und teilweise schon von ihrer älteren Schwester getragen.

Sie war Jochianerin. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, daß sie als Kind - mit sechzehn E-Jahren betrachtete sie sich selbstverständlich bereits als Erwachsene - einen besonderen Haß gegen die Suzdal oder die Bogazi verspürt hätte, obwohl sie in ihrem Wohnsektor nur selten Vertreter dieser beiden nichtmenschlichen Spezies zu Gesicht bekam. Auch für die wenigen Torkfamilien, mit denen sie flüchtig zu tun hatte, empfand sie nichts als Mitleid.

Vor einigen Jahren hatte sie Geschichten gehört, die davon erzählten, daß sich ihre Welt verändern würde. Alles würde besser werden. Wenn erst dieser Tyrann, der Khaqan, über den sie sich nie zuvor Gedanken gemacht hatte, nicht mehr war, dann würde endlich ein neues Zeitalter anbrechen.

Ein Mann namens Iskra würde es ihnen bringen. Einige ihrer Freunde gaben ihr Pamphlete zu lesen, die davon sprachen, daß dieser noble Mann schon immer an den Altai-Cluster geglaubt hatte, daran, daß er dereinst das Zentrum der Zivilisation sein würde und daß dieses neue Feuer von den Jochianern entfacht werden würde.

Natürlich las sie keine der Veröffentlichungen des Doktors.

Man hatte ihr gesagt, sie seien für jemanden ihres Geschlechts und ihrer Herkunft viel zu kompliziert, und sie hatte keine Lust, ihre Zeit damit zu verschwenden. Sie schloß sich einer kleinen Organisation an, einer Geheimorganisation natürlich, und sie schwor einen Eid darauf, unter allen Umständen mitzuhelfen, das neue Zeitalter herbeizuführen.

Und dann kehrte Iskra auf seinen Heimatplaneten zurück.

Sie hatte in der jubelnden Menge gestanden, die ihn begrüßte.

Sie glaubte sogar, ihn gesehen zu haben - als winzigen Punkt weit entfernt auf einem Balkon des Palastes, der ehemals dem Khaqan gehört hatte.

Dann fing das Gerede an. Das neue Zeitalter wollte sich nicht schnell genug einstellen. Die Torks stolzierten noch immer umher und stellten ihren Reichtum zur Schau, ein Reichtum, den sie sich ungerechtfertigterweise von den Jochianern angeeignet hatten. Schlimmer noch: Jochi wurde noch immer von der Anwesenheit der Suzdal und der Bogazi verseucht.

Selbst als die »Aliens« den Planeten verlassen hatten, gab es noch genug Böses, das Dr. Iskras Hände daran hinderte, den Wahnsinn in seinen festen Griff zu bekommen. Doch nachdem ihr Zellenführer es ihr erklärt hatte, erkannte sie endlich auch, wer die wirklichen Feinde waren: diese Imperialen, die versuchten, Dr. Iskra als ihren Handlanger zu mißbrauchen, genauso, wie sie es mit dem Khaqan getan hatten. Jetzt wurde ihr klar, daß Dr. Iskra beinahe wie ein Gefangener in seinem eigenen Palast gehalten wurde und keinesfalls so frei regierte, wie sie es bisher geglaubt hatte.

Sie wollte etwas unternehmen. Etwas, das den Wandel rascher in die Wege leitete.

Irgendwie, auf irgendeine Weise mußte sie doch helfen können.

In den Livies sah sie, was die anderen getan hatten. Zwei junge Männer und eine Frau hatten sich selbst angezündet und freiwillig diesen unehrenhaften Tod in Kauf genommen, weil nur durch solch ein Signal allen Jochianern bewußt werden konnte, daß sie diejenigen waren, die man entehrte.

Sie berichtete ihrem Zellenführer von ihrer Bereitschaft zu sterben. Er sagte, er müsse seinen Berater fragen, ob ein solcher Akt zu begrüßen wäre.

Zwei Tage später sagte er ihr, daß sie nicht für dieses Schicksal bestimmt sei. Statt dessen war ihr erlaubt, eine noch größere Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die die Imperialen wie ein wütender Wind aus dem Norden von den Welten des Altai-Clusters vertreiben würde.

Sie war hocherfreut und zugleich beschämt.

Sie lernte und probte sorgfältig.

Zwei Tage, nachdem Sten die Toten im Wald gefunden hatte, erhielt sie die Nachricht, daß ihre Zeit gekommen sei.

»Diese Hohlköpfe hören einem nicht einmal zu«, sagte der Wachtposten zu den beiden anderen Imperialen Soldaten, die zum Dienst am Wachhäuschen abgestellt waren. »Denen kann man hundertmal sagen, hier ist zu, es gibt hier keine Abkürzung zu den Marktbuden, und sie nicken nur, lächeln freundlich, und wenn sie beim nächsten Mal in die Stadt kommen, probieren sie es wieder. Als der Schöpfer die Jochianer fragte, ob sie Grips haben wollten, dachten sie, er hätte Gips gemeint und riefen: >Ach was, so etwas brauchen wir nicht!<«

Der Wachtposten stand an einer der Straßen, die zum Platz der Khaqans führten. Sie war bewacht, weil der Teil des Palastes, den man dem Bataillon des 3. Imperialen Garderegiments als Unterkünfte, Büros und Kantine überlassen hatte, nur knapp hundert Meter entfernt war.

Er gähnte. Es war weniger als eine Stunde nach Sonnenuntergang, und das bedeutete weniger als eine Stunde bis zur Ablösung. Dann konnte er endlich essen gehen. Er nahm seine Willygun, schlang den Trageriemen um den Arm und spazierte aus dem Wachhäuschen heraus. Er betrachtete den Transport-Gleiter, der auf ihn zuschwebte. >Ein verdammter Oldtimer<, dachte er. >Das Ding hängt ja richtig schräg.<

Seine Ladefläche war mit etwas beladen, das aussah wie halbreife und halbverfaulte Baumfrüchte, die außer einem Jochianer niemand gekauft, geschweige denn gegessen hätte.

Er schüttelte den Kopf und überlegte sich, daß er, nachdem er gesehen hatte, wie wenig die Jochianer zum Leben hatten, nach seiner Dienstzeit nie mehr auf seinem Heimatplaneten über etwas meckern würde. >Man könnte fast Mitleid mit ihnen haben<, dachte er. >Wenn sie nicht so haßerfüllte Idioten wären.<

Die Kunststoffscheibe war so schmutzig und zerkratzt, daß er nicht erkennen konnte, wer im Cockpit des Gleiters saß. Der Posten streckte beide Hände mit den Handflächen nach unten aus. Das universelle Zeichen für >anhalten<.

Der Gleiter hielt an, doch er senkte sich nicht. Er schaukelte leicht in dem böigen Wind, der vom Platz der Khaqans her wehte.

Der Posten fluchte. Er trat ein paar Schritte zur Seite.

Vielleicht konnte ihn der Fahrer nicht sehen. Dann huschte beinahe so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. Sie war wirklich ein hübsches Mädchen. Er winkte wieder - gerade als der Gleiter voll durchstartete und einen Satz nach vorn machte, direkt auf ihn zu.

Er mochte wohl heruntergekommen aussehen, doch die McLean-Generatoren des Gleiters waren neu und auf maximale Beschleunigung getunt. Der Posten hatte nur eine Sekunde Zeit darüber nachzudenken, ob ihn die junge Frau vielleicht mißverstanden hatte, dann warf er sich zur Seite, und der Gleiter raste immer schneller werdend vorbei.

Imperiale -

und allgemein sinnvolle

Sicherheitsvorkehrungen besagten: Die Zufahrt zu einer Sicherheitszone sollte immer so angelegt werden, daß jedes Fahrzeug, ob Boden-oder Luftfahrzeug, gezwungen war, seine Geschwindigkeit auf ein Minimum zu drosseln. Dieser Eingang jedoch verfügte nur über eine einzige V-Kurve.

Solide Blockaden, fester Drahtzaun oder sogar aufgerollter Stacheldraht hätte mindestens bis in eine Höhe von drei Metern errichtet werden müssen. Dieses Tor verfügte lediglich über drei Rollen Stacheldraht, wobei die dritte nicht einmal entrollt war.

Der Transport-Gleiter sauste in den Draht, fuhr jedoch weiter.

Die Imperialen Sicherheitsvorschriften führten des weiteren unmißverständlich aus, daß jede Sicherheitszone von einer zweiten Blockade gesichert sein mußte, falls die erste durchbrochen wurde.

Hier war nie eine solche Blockade errichtet worden.

Weiterhin besagten die Vorschriften sogar noch strenger, daß eine Mannschaftsunterkunft auf keinen Fall für ein Selbstmordkommando erreichbar sein durfte. Die minimalen Voraussetzungen dafür waren in feindlichen Gebieten Monitore, Luftabwehreinrichtungen, Bodenhindernisse, ständige Patrouillen mit schweren, panzersprengenden Waffen, et cetera, et cetera.

Der Gleiter war nur noch zehn Meter von den Stufen entfernt, die zu den Unterkünften der Imperialen Garde hinaufführten, als die junge Fahrerin, deren vorgetäuschtes freundliches Lächeln jetzt zu einer Fratze geronnen war, sich zu einem kleinen Kontrollkästchen hinunterbückte, das in aller Eile auf den Boden geschweißt worden war.

Daran befanden sich zwei Zughebel, einer davon war rot, der andere blau angesprüht. Man hatte ihr gesagt, daß der blaue Hebel den Timer auslöste, wonach sie dreißig Sekunden Zeit habe, um sich in Sicherheit zu bringen.

Der rote ...

Der rote sollte im Notfall benutzt werden.

Sie wußte nicht, daß beide Hebel das gleiche bewirkten, denn sie hatte beschlossen, kein Risiko einzugehen. Dies würde der Schuß sein - der Donnerschlag - den man noch weit über die Grenzen von Jochi oder des Altai-Clusters hinaus hören würde.

Man würde den Knall sogar auf der Erstwelt vernehmen, wo jener böse Puppenspieler, der Ewige Imperator, endlich gezwungen sein würde, zuzuhören, und endlich erkennen würde, was seine politischen Ränkespiele alles anrichteten.

Sie zog den roten Hebel nach oben.

Sie starb als erste, als die drei Tonnen konventionellen Sprengstoffs, die der Gleiter in Wirklichkeit geladen hatte, detonierten.

Die Druckwelle raste durch die Mauer des Trakts mit den Unterkünften. Von den 650 Personen, aus denen das Bataillon laut Register bestand, lag mehr als die Hälfte noch im Schlaf oder wurde gerade von ihren Unteroffizieren aus dem Schlaf gebrüllt. Insgesamt befanden sich 580 Gardisten im Palastgebäude.

Golonel Jerety war gerade dabei, mit der Kaffeetasse in der Hand seinen Stellvertreter und den Sergeant Major des Bataillons zu fragen, ob sie noch einen Schluck haben wollten, als ihn die Druckwelle überraschte.

Die Explosion brachte die gesamte Unterkunft zum Einsturz.

Diejenigen, die Glück hatten, starben gleich bei der Explosion.

Die etwas weniger Glücklichen erwachten nie mehr aus ihrer Bewußtlosigkeit oder wurden von herabstürzenden Gebäudeteilen erschlagen.

Es gab aber auch andere.

Noch bevor die Druckwelle vollständig abgeebbt war und während der Staub noch immer aufstieg, setzten ihre Schreie ein.

Nachdem sie durch die halbe Stadt gerast war, erreichte die Druckwelle auch die Imperiale Botschaft.

Sten lag noch immer brütend im Bett, und Cind versuchte ihn davon zu überzeugen, daß dieser Tag nur besser werden konnte, wenn er sich zurücklehnte und ihre Zunge ihren Weg fortsetzen ließ. Dann spürte er das Grollen, das das ganze Gebäude erzittern ließ. Sofort war er auf den Beinen, splitternackt; im ersten Moment war er sicher, daß die Schweine die Botschaft selbst angegriffen hatten.

Er stand am Fenster, hörte nicht auf Cinds Rufe, er solle sich auf den Boden werfen, und blickte hinaus auf die langsam aufsteigende, gewaltige Säule aus Flammen und Rauch.

Tief in seinem Inneren wußte er, daß damit ein Wendepunkt gesetzt war.

Er hatte jedoch nicht die geringste Vorstellung, was als nächstes passieren würde.

Doch er verspürte ein merkwürdiges Kribbeln, das ihm verriet, daß es etwas sein würde, wogegen sich der Verrat und all die Morde, die sich bis jetzt ereignet hatten, vergleichsweise wie ein Kinderspiel ausnehmen würden.