Kapitel 33
Der Widerhall vom Bombenanschlag auf die Kaserne hallte noch nach, als Iskra bereits den nächsten Schritt tat, um seine militärische Überlegenheit zu konsolidieren und auszudehnen.
Die Nachrichtensperre des Ewigen Imperators spielte ihm dabei direkt in die Hände.
Iskra donnerte eine sengende Attacke gegen all jene (namenlosen) Verräter in den Äther, die den Altai-Cluster durch ihre feige Attacke auf die Friedenstruppe des Imperators gedemütigt hatten. Er verhängte das Kriegsrecht und eine nächtliche Ausgangssperre. Dunkel verwies er auf »weitere Maßnahmen«, die man »zu gegebener Zeit« ergreifen würde.
Er schloß mit der leidenschaftlichen Aufforderung an alle Bürger, die »eigenen Seelen und die ihrer Nachbarn« nach Anzeichen von Illoyalität zu durchsuchen.
Milhouz bewegte sich schlank und stolz in seiner neuen schwarzen Uniform mit dem flotten Barett und dem silbernen Abzeichen »Studenten für Iskra«. Auf der einen Schulter prangte das Rangabzeichen eines Captains, auf der anderen das Abzeichen des Reinheitscorps.
Er reckte seine Pistole in die Luft und gab schnarrend Order an seine eifrigen, jugendlichen Streitkräfte. »Ich will ein perfektes Timing. Geht in Stellung - und zwar leise, verdammt noch mal! Wenn ich das Signal gebe, gehen wir alle gemeinsam zum Angriff über. Kapiert?«
»Ja, Sir!« klang es in gedämpftem Chor.
Milhouz gab ein unmißverständliches Zeichen. Das Reinheitscorps trat in Aktion.
Der Stoßtrupp mit dem Rammbock übernahm die Spitze.
Dahinter folgte Milhouz mit dem Hauptteil der Truppe. Sie marschierten eine dunkle, baumbestandene Straße entlang, die zur Zentralbücherei von Rurik führte. Der Mond über Jochi beleuchtete die Szenerie nur spärlich.
In dieser Nacht brannte in der Bücherei noch sehr spät das Licht. Der Bibliothekar, ein älterer Tork namens Poray, hatte hart dafür gekämpft, an diesem Abend trotz der Ausgangssperre noch so lange arbeiten zu dürfen. Offiziell sollte aufrührerisches Material ausfindig gemacht und aufgrund von Iskras Krisenanordnungen eliminiert werden.
Die wirkliche Absicht des Bibliothekars bestand jedoch darin, soviel Material wie nur möglich zu retten. Poray und seine Mitarbeiter hatten einen Hilferuf an alle gleichdenkenden Intellektuellen gesandt. Während der Herrschaft der Khaqans hatten sie diese Übung schon des öfteren durchgeführt. Dank dieser Tradition war es ihnen in der Vergangenheit gelungen, die wichtigsten Texte der Bücherei zu retten.
Während sich die dunklen Schatten von Milhouz'
Reinheitscorps rings um das Gebäude zusammenzogen, beklagte Poray erneut die Auswahl, die er zu treffen hatte. Er konnte nicht alles retten. Um die loyalen Absichten der intellektuellen Gemeinschaft deutlich zu machen, mußte eine beträchtliche Menge von aufrührerischem Material übergeben werden.
Er betrachtete die Karren voller Fiches und Bücher, die in die geheimen Gewölbe der Bücherei geschafft werden sollten.
Auf der anderen Seite stapelte sich bereits das Material, das er Iskra übergeben wollte.
Es war ein vergleichsweise kleiner Stapel.
Poray seufzte. Er kam nicht gut voran. Er mußte härter durchgreifen. Er nahm zwei ältere Bücher in die Hand. Es waren richtige Bücher - die einzigen Ausgaben dieser Werke, die in der Bücherei existierten.
Bei dem einen handelte es sich um eine vielgelesene Ausgabe von Fahrenheit 451 von einem Dichter namens Ray Bradbury Das andere war ein makelloses Exemplar von Gesunder Menschenverstand, einem Buch des historischen Denkers und Philosophen Thomas Paine.
Poray war es zuwider, den intellektuellen Gott zu spielen.
Der Gedanke daran, daß er der einzige Richter über das war, was bleiben und was zerstört werden sollte, quälte ihn.
Er warf erneut einen Blick auf Gesunder Menschenverstand.
Dann auf Fahrenheit 451. Er zuckte mit den Achseln.
Bradbury landete auf dem Handwagen mit Büchern, die gerettet werden sollten.
Gesunder Menschenverstand war fürs Feuer bestimmt.
>Vergeben Sie mir, Sr. Paine<, dachte Poray Glas splitterte und Metall barst, als Milhouz angriff.
Entsetzt starrte Poray die schwarzuniformierten Jugendlichen an, die plötzlich in die Bücherei eindrangen.
Schreie ertönten. Sie stammten von Porays Mitarbeitern und einigen Freiwilligen.
»Nieder mit der Intelligenzija!« brüllte jemand.
Milhouz stürmte mit erhobener Pistole auf Poray zu.
Instinktiv hielt Poray Thomas Paine als Schutzschild hoch.
Milhouz feuerte.
Poray stürzte zu Boden.
So tot wie Gesunder Menschenverstand.
Die Schlange, die sich vor dem Laden des Gemüsehändlers gebildet hatte, war einen halben Kilometer lang. Hunderte von hungrigen Menschen standen mit gezückten Rationskarten hintereinander, gerüstet für den Augenblick, in dem sich die Türen öffnen würden.
Sie warteten hier seit Ende der morgendlichen Ausgangssperre, was für den ersten in der Schlange eine Wartezeit von sieben Stunden bedeutete. Das alles unter einer sengenden Sonne, die einen weiteren heißen Tag verkündete.
»Es wird jeden Tag später«, grummelte eine ältere Frau.
»Und es gibt immer weniger Essen zu kaufen«, murmelte eine andere vor sich hin.
»Alles Mist«, sagte ein Dritter. »Dr. Iskra sollte selbst herkommen und sich den Mistkerl vorknöpfen. Er würde diesem elenden Dieb bestimmt den Kopf abhacken lassen.«
Bevor jemand Zeit hatte, zu antworten, bewegte sich die Schlange mit einem Ruck nach vorn. »Sie öffnen!« schrie jemand. Plötzlich kam die Schlange wieder zum Stillstand.
Entsetztes Keuchen war zu hören. Leute im hinteren Teil der Schlange reckten die Hälse, um zu sehen, was dort vorne vor sich ging.
Der Gemüseladen öffnete nicht. Statt dessen marschierte ein Trupp Soldaten mit angelegten Gewehren auf die Wartenden zu.
Die Stimme eines Offiziers übertönte das Gemurmel der Menge: »Keiner rührt sich. Es handelt sich um eine Ausweiskontrolle. Rationskarten in der linken Hand bereithalten, Ausweise in der rechten.«
Die Menge murrte, leistete den Befehlen des Offiziers jedoch Folge.
Die alte Frau, die sich über die lange Wartezeit beklagt hatte, kam jedoch auf einen anderen Gedanken. Sie trat aus der Menge heraus und humpelte dem Offizier entgegen.
»Sie sollten sich schämen, junger Mann«, sagte sie. »Wir sind alle hungrig. Wir warten hier schon seit Stunden, um Essen für unsere Familien zu kaufen.«
Der Offizier schoß sie an Ort und Stelle nieder. Ihrem noch zuckenden Körper versetzte er einen Tritt. »Und ab geht's, Großmütterchen. Jetzt mußt du nicht mehr warten!«
Die Kommandantin der Blockwache, eine Bogazi, arbeitete sich an der Barrikade entlang, deren schützendes Durcheinander sie nach undichten Stellen untersuchte; sie überprüfte außerdem die Wachen auf ihren Posten. Die Barrikade war noch genauso sicher wie bei ihrer letzten Inspektion, die Wache noch ebenso aufmerksam wie bei Dienstantritt.
Sie ließ den Blick über das Wohnviertel schweifen, das jetzt friedlich schlief. In keinem der Fenster brannte mehr ein Licht, in keiner der Hütten war auch nur die kleinste Bewegung auszumachen. >Das ist gut<, dachte sie. >Sogar sehr gut.< Dann vernahm sie hinter sich ein leises Geräusch. Sie wirbelte herum. Nichts war zu hören. >Pure Einbildung<, dachte sie.
>Ich bin wirklich dumm.<
Der gepanzerte Gleiter schob sich völlig überraschend über die Barrikade; sofort hämmerten die Schnellfeuerkanonen los.
Die Kommandantin wurde in der Mitte zerteilt, noch bevor sie Zeit hatte, eine Warnung auszustoßen.
Zwei weitere schwer bewaffnete Gleiter schoben sich ins Blickfeld, die sofort das Feuer auf das Wohnviertel eröffneten.
Innerhalb von Minuten gingen sämtliche Hütten in Flammen auf, und die Bogazi strömten heraus. Einige waren verwundet.
Einige schleppten Verwundete. Alle waren sie vor Furcht förmlich gelähmt.
Jetzt durchbrachen die jochianischen Truppen mit aller Macht die Barrikade. Eine lange Reihe von Transportgleitern folgte ihnen.
Eine Stunde später rauschte Gleiter um Gleiter in die Nacht hinaus, vollgeladen mit überlebenden Bogazi.
Am nächsten Tag schoben Bagger die Toten und die rauchenden Trümmer zusammen. Als die Nacht hereinbrach, war die Siedlung dem Erdboden gleichgemacht.
Am folgenden Abend wurde im Vidfunk von Jochi die Verfügbarkeit von neuem Baugelände für »geeignete Bürger«
bekanntgegeben. Schon am Morgen darauf waren sämtliche Bauplätze vergeben.
Ein Brief von Sappeurmajor Shase Mari an Direktor-Führer S!Kt, Frontkommandeur der Siebten Armee.
... und mir ist bewußt, daß ich mit diesem Brief die militärische Befehlskette mißachte, doch ich habe das Gefühl, daß niemand außer Ihnen über die nötige Autorität und geistige Kompetenz verfügt, um dieses Problem lösen zu können (wie Sie sehen werden).
Ich schreibe Ihnen nicht nur in Ihrer Funktion als mein ranghöchster Vorgesetzter, sondern auch, weil ich mich an vergangene Zeiten erinnere, an die Jahre vor dem Zeitpunkt, an dem dieser Böse (verflucht sei die Erinnerung an ihn), der damals regierte, Sie in den Ruhestand zwang. Sie sprachen vor meinem Ausbildungslehrgang an der Kuishev-Akademie, und ich habe Ihre Worte niemals vergessen: daß ein Offizier Pflichten hat, die über seine geschriebenen Vorschriften hinausgehen, Pflichten seiner eigenen Ehre und seiner Spezies gegenüber. Mit diesem Brief nehme ich meine letzte Möglichkeit wahr, diese Pflichten zu erfüllen.
Das Problem tauchte auf, als meine Einheit den Befehl erhielt, eine Säuberungsaktion auf Ochio IX durchzuführen, einer der Umstrittenen Welten, Sektor Sieben Ihrer Front. Nur teilweise befriedet, befanden sich auf diesem Planeten immer noch Suzdal-Kampfeinheiten, die mit Waffengewalt ihre Besitzrechte daran verteidigten, obwohl es sich bei dem Planeten natürlich rechtmäßig um jochianischen Besitz handelt.
Ich wurde kurz instruiert und bekam ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, das ich ruhigzustellen hatte. Man gab mir einige Einheiten zur Unterstützung, deren Namen und Aufgaben, von einer abgesehen, ohne Belang sind. Diese Einheit war die Dritte Frontkompanie, Zweiter Säbel, Corps für besondere Aufgaben, angeführt von Captain L'merding.
Bevor die Truppe zum Einsatz kam, wurde sie von mir inspiziert, und ich gewann den Eindruck, daß die Soldaten in ihrem Verhalten auf dem Übungsplatz den Anforderungen entsprachen und besonders gut mit Waffen für die Partisanenbekämpfung ausgerüstet waren. Dies war mein Eindruck, obwohl ich das Gefühl hatte, die Einheit sei nicht besonders gut ausgebildet, ebensowenig wie ich ihre Offiziere und Unteroffiziere für besonders kompetent hielt. Ich hielt mich Captain L'merding gegenüber mit Kritik natürlich zurück, hieß seine Einheit lediglich willkommen und sagte, ich würde versuchen, ihnen Gelegenheit dazu zu geben, unter Beweis zu stellen, daß sie es wert waren, der Jochianischen Armee anzugehören und Dr. Iskra zu dienen.
Die einzige Antwort von Captain L'merding darauf war, sie hätten ihre Anweisungen und würden sie ausführen.
An diesem Punkt hätte ich mich an meinen direkten Vorgesetzten, Colonel Ellman, wenden sollen und eine Klärung der Hierarchie einfordern sollen. Ich tat es jedoch nicht. Die Truppen landeten, und wir bewegten uns in die ländlichen Gebiete hinein, die von einem
Bevölkerungsgemisch aus Tork, Jochianern und Suzdal bewohnt wurden und in denen die Suzdal die stärkste Unterstützung genossen. Wie immer leisteten die Suzdal erbitterten Widerstand (auch nachzulesen in Einsatzbericht 12-341-651-06, Monat drei, Woche eins, zwei und drei) und fügten meinen Truppen erhebliche Verluste zu. Wir machten nur wenige Gefangene, denn wie Sie wissen, ziehen die Suzdal es vor, sich umzubringen, anstatt sich zu ergeben.
Das erste Problem, das ich mit Captain L'merding hatte, bestand darin, daß er sich weigerte, seine Leute ins Gelände vorrücken zu lassen. Meinen Befehl beantwortete er ohne Umschweife mit der Feststellung, daß die wirklichen Feinde nicht irgendwelche Sumpfbewohner seien - das waren seine exakten Worte -, sondern die bösen Verschwörer hinter ihnen, die in den mittleren und großen Städten saßen. Ich schenkte dieser merkwürdigen Behauptung nicht näher Beachtung, schließlich bin ich Soldat und kein Politiker.
Ich konzentrierte mich natürlich hauptsächlich auf die Kampfhandlungen, und erst in der dritten Woche der Säuberungsaktion erhielt ich geradezu phantastische Informationen, die ich zuerst nicht glauben konnte, denen ich aber trotzdem nachgehen mußte, um die Ehre Jochis zu schützen.
In besagtem Bericht wurde die Einheit 3/2, Corps für Spezialaufgaben, der widerwärtigsten Abscheulichkeiten bezichtigt. Ich begab mich persönlich in das Gebiet, für das Captain L'merdings Einheit verantwortlich war, und stellte fest, daß diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen. Die Einheit für Spezialaufgaben tötete Suzdal-Bürger tatsächlich in einer Weise, die sämtliche sonst in einem Krieg üblichen Gepflogenheiten mißachtete. Sie hatten es vor allem auf die gebildeten Suzdal abgesehen, insbesondere auf Lehrer oder Juristen. Besondere Beachtung fanden auch reiche Suzdal. Alle diesen Bevölkerungsgruppen zugehörigen Personen wurden aus ihren Häusern verschleppt und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Captain L'merding weigerte sich, mir darüber Auskunft zu erteilen, was mit ihnen geschehen war, aber ihr Schicksal war offensichtlich.
Es gab bestätigte Berichte über Kinder, die einfach abgeschlachtet wurden, über vergewaltigte jochianische Zivilisten und Plünderungen. Damit nicht genug, waren unbewaffnete Suzdal in aller Öffentlichkeit umgebracht worden, ihre Leichen ließ man mitten auf der Straße liegen. Es gab keinen Zweifel, diese sogenannte Einheit bestand nur aus Verbrechern und Totschlägern. Captain L'merding hatte im gesamten Gebiet Anweisungen mit seiner eigenen Unterschrift verschicken lassen, in denen der geschriebene oder gesprochene Gebrauch der Suzdal-Sprache untersagt und es den Suzdal nicht gestattet war, sich in Gruppen von mehr als zwei Personen zusammenzufinden. Bei Nichtbeachtung dieser Befehle erfolgte sofortige Hinrichtung.
Er hatte noch weitere Befehle erlassen, die ebenso illegal waren, aber am schlimmsten war seine Ankündigung, daß jeder kriminelle Akt eines einzelnen Suzdal mit den drakonischsten Maßnahmen beantwortet werden würde; dazu zählten die Verwüstung des Wohnbezirks des betroffenen Suzdal, die Auslöschung der gesamten Familie und die Exekution von einhundert willkürlich ausgewählten Suzdal.
Ich teilte Captain L'merding mit, daß er vom Dienst befreit sei. Er lachte nur. Ich versuchte, ihn festzunehmen. Meine Helfer und ich wurden entwaffnet, geschlagen und mußten das Gebiet verlassen - oder mit den üblichen Konsequenzen rechnen.
Ich kehrte zu meiner eigenen Einheit zurück, unterrichtete den befehlshabenden Offizier meines Bataillons über die Aktionen von Captain L'merding und forderte eine Kampfeinheit an, die seinem schamlosen und mörderischen Treiben ein Ende bereiten sollte. Als erstes wurde mir von Colonel Ellman mitgeteilt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich ereiferte mich und bekam den direkten Befehl, L'merdings mordende Ungeheuer nicht weiter zu beachten. Colonel Ellman informierte mich darüber, daß diese und andere Abteilungen der Einheit für Spezialaufgaben nach allerhöchsten Anweisungen vorgingen - Befehle, die vielleicht nicht gerne gehört wurden, die aber dennoch ausgeführt werden mußten, wollte man die gestellte Aufgabe lösen. Ich weigerte mich, dies zu akzeptieren und wandte mich, hinter Colonel Ellmans Rücken, zuerst an meinen Brigadekommandanten und dann, als nichts geschah, an den Divisionskommandeur.
Ich wurde der Befehlsverweigerung angeklagt, und man beschuldigte mich, dem Planeten Jochi Schande zu machen.
Als ich nicht nachgab, wurde ich rechtswidrig hundert Plätze auf der Aufstiegsliste nach unten gedrückt, ohne Anhörung und ohne Verfahren. In meiner Verzweiflung wende ich mich jetzt an Sie, Direktor-Führer.
Gibt es keine Ehre mehr im Altai-Cluster? Hat unsere ehrwürdige Rasse jegliches Gefühl für Würde verloren? Ist unsere Armee, eine Armee, der ich mein ganzes Leben lang gedient habe, nichts mehr als eine Bande von hinterhältigen Straßenmördern?
Der Brief wurde niemals beantwortet. Sechs Wochen später wurde Sappeurmajor Shase Mari in einem abgelegenen Gebiet erschossen. Im Tagesbericht seiner Einheit stand, daß sich unbeabsichtigt ein Schuß gelöst haben mußte und daß es nicht gelungen sei, den Schuldigen zu finden.
Posthum wurde Sappeurmajor Marl einen Rang befördert, mit einem Ehrenband und einem Stern ausgezeichnet und mit allen Ehren im Boden der Umstrittenen Welt Ochio IX
begraben.
Die Hauptstraße, die zum Raumhafen von Rurik führte, war ein wahrer Ozean des Elends. Tausende und Abertausende Gestalten wurden im strömenden Regen von jochianischen Truppen unter Stößen und Schlägen vorangetrieben.
In diesem Zwangsmarsch gab es keine Unterscheidung nach Rassen. Man hatte Suzdal, Bogazi und Menschen wahllos zusammengetrieben.
Die Masse der Flüchtlinge war so dicht gedrängt, daß die Körper der Entkräfteten von der Menge mitgeschleift wurden.
Menschen schrien klagend nach Familienmitgliedern oder flehten einfach nur um Mitleid.
Am Raumhafen standen mehrere Kontingente
ausgemusterter Frachter bereit, die auf Iskras Befehl wieder zum Einsatz kamen. Weitere Soldaten säumten die Gangways dieser Frachter und stopften die armseligen Wesen in die Frachträume, bis diese regelrecht überquollen.
Auf ein bestimmtes Signal hin wurden die Frachtluken donnernd geschlossen, und die Frachter hoben mit ohrenbetäubendem Lärm ab. Kaum hatten sie die Atmosphäre verlassen, nahmen schon die nächsten Schiffe ihren Platz ein.
Professor Iskra beobachtete das Geschehen mit gespanntem Interesse. Er schaltete zwischen verschiedenen Einstellungen auf seinen Bildschirmen hin und her: lange Einstellungen von den vollgestopften Straßen; Nahaufnahmen verzweifelter Gesichter; wieder eine Totale, die die dramatischen Vorgänge am Raumhafen wiedergab. Während einer der Frachter abhob, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und gönnte sich einen langen, genußvollen Schluck Kräutertee.
Iskra sah hinüber zu Venloe, und sein Mund verzog sich zu einem bei ihm selten zu beobachtenden verachtungsvollen Strich. Venloe nahm an, daß es sich hierbei um ein Lächeln handelte.
»Ich hoffe, Sie sind sich darüber im klaren, daß wir hier Zeuge bedeutender geschichtlicher Vorgänge werden«, sagte Iskra. »Wer hätte sich jemals einen solchen Exodus vorstellen können? Eine derart zügige Säuberung unseres Planeten?«
Venloe grunzte nur kurz.
»Kommen Sie schon«, drängte Iskra. »Ein kleines Lob für mein geschicktes Vorgehen in dieser Krise habe ich mir doch sicher verdient, oder?«
»So würde ich Ihren Job nicht beschreiben«, sagte Venloe.
»Außerdem ist Ihre Fangemeinde auch so schon groß genug.«
Iskra empfand allzu großes Vergnügen an allem, was da vor sich ging, um ärgerlich zu werden. »Schon in Ordnung. Von Ignoranten erwarte ich gar keine Komplimente.«
Venloe deutete mit dem Daumen auf den Bildschirm.
»Halten Sie das für das Werk eines Genies?«
»Wie würden Sie es denn nennen, mein unwissender Freund?«
»Verrückt«, knurrte Venloe. »Oder einfach nur völlig dumm.«
»O weh. Dieses kalte Herz blutet für die Humanität.«
»Verwechseln Sie meine berufliche Einstellung nicht mit den Empfindungen einer mitfühlenden Seele«, sagte Venloe.
»Es sollte für jedermann, der kein pedantischer Esel ist, offensichtlich sein, daß Sie damit alles nur noch viel schlimmer machen. Das hier ist nicht nur unnötig, sondern obendrein gefährlich. Jedesmal, wenn Sie so etwas zulassen«, er deutete auf das Bild eines Soldaten, der auf einen zurückgebliebenen Flüchtling einschlug, »machen Sie sich fünf oder sechs Lebewesen mehr zum Feind.«
»Es geht hier nicht um einen Beliebtheitswettbewerb«, sagte Iskra und lachte. »Außerdem hatte ich fest damit gerechnet, es würde Ihnen gefallen. Nach dem Vorfall an der Kaserne habe ich angenommen, Sie wären entzückt darüber, daß ich Ihre armen, toten Wachtposten räche.«
»Geben Sie nicht uns die Schuld«, warnte Venloe. »Wir haben diese Art von Aktionen nie von Ihnen verlangt.
Versuchen Sie nicht, den Imperator in die Sache hineinzuziehen.«
»Aber er steckt doch schon drin«, säuselte Iskra. »Und sogar ziemlich offenkundig. Schließlich wissen doch alle im Imperium, wie wichtig ich für ihn bin.« Er zeigte auf den Monitor. »Und bald wird jeder im Altai-Cluster wissen, daß alle diese Opfer in seinem Namen dargebracht werden.«
Venloes Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Wovon reden Sie da?«
»Das ist doch nur der Anfang«, lachte Iskra. »Es wird noch viel mehr Arbeit nötig sein, um den Cluster zu säubern.«
»Was soll das heißen?«
»Sehen Sie sich meine nächste Vid-Sendung an«, sagte Iskra. »Ich glaube, sogar Sie werden von meinen neuesten Notstandsgesetzen nicht ganz unbeeindruckt sein.«
Venloe wandte den Blick von dem höhnenden Iskra ab und blickte auf den Monitor. Er sah, wie sich ein Flüchtling aus der Menge löste und ein selbstgemaltes Spruchband entrollte.
Die Zeit, bevor die Soldaten den Mann zusammenschlugen, reichte gerade aus, um das, was darauf geschrieben stand, zu entziffern: WO IST DER IMPERATOR?