Kapitel 26

Sten konnte nicht schlafen. Jedesmal wenn er wegdöste, schob sich das Gesicht des Imperators vor sein geistiges Auge.

Dieser Blick ließ ihn nicht los. Augen, die niemals still standen. Augen, die die Ränder seines Bewußtseins berührten, Stens geheimste Zweifel miteinander vernetzten und sie zu Beweisstücken erhoben.

In Stens Alptraum verband der Imperator all jene Zweifel zu einer sich wie ein Aal windenden Masse. Dann drehte er sich zu Sten um, das Gesicht dunkel vor Zorn. Und diese Augen sie suchten mit flackerndem Blick nach ihm. Sten wußte, wenn sie je zur Ruhe kamen, würde es aus mit ihm sein.

Jetzt kamen sie wieder, rollten und rollten und schnitten einen rauchenden Pfad quer über den Fußboden. Dann hoben sie sich, suchten nach seinen eigenen, weit geöffneten Augen und brannten sie aus.

Sten erwachte heftig keuchend und in kalten Schweiß gebadet. Er torkelte ins Bad und würgte über der Toilette. Er kniete lange dort und kam sich des dummen Alptraums wegen lächerlich vor, hatte jedoch Angst, zurück ins Bett zu kriechen und eventuell weiterzuträumen.

Ein leises Rascheln, die parfümierte Wärme von Cind.

»Ist schon wieder in Ordnung«, sagte er.

»Sieht ganz so aus. Ich finde öfters völlig gesunde und glückliche Menschen zusammengekrümmt würgend auf dem Badezimmerboden.«

»Ist gleich wieder gut... einen Augenblick noch.«

»Bestimmt. Jetzt hör auf zu streiten, Kleiner, sonst kriegst du richtig Ärger.«

Sie hievte ihn hoch, zog ihn aus und schob ihn unter die Dusche. Die kalten Nadelstiche brachten ihn rasch wieder zu vollem Bewußtsein, wuschen den Schweißfilm von ihm ab wie altes Fett. Dann wurde das kalte Wasser heiß und ließ ringsum dichte Dampfwolken aufsteigen. Cinds nackte Gestalt kam durch die Wolken auf ihn zu, bewaffnet mit Seife und einem rauhen Schwamm.

»Dreh dich um«, sagte sie. »Ich fange mit deinem Rücken an.«

»Kann ich doch selbst machen«, erwiderte Sten und streckte die Hand nach der Seife aus.

»Ich sagte, dreh dich um!« Sie rieb mit dem noch rauhen Schwamm über seine Brust.

»Autsch! Schon gut, schon gut! Du hast gewonnen!« Er drehte sich um.

»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist«, sagte Cind. »Ich gewinne immer.«

Sie machte den Schwamm naß, seifte ihn ordentlich ein und fing an zu schrubben.

Es fühlte sich herrlich an. Er vergaß diese Augen.

Später, als Sten in frischem Bettzeug gegen einige Kopfkissen gelehnt an dem heißen, würzigen Tee nippte, den Cind in der Botschaftsküche bestellt hatte, hörte er draußen den Wind durch die Straßen von Rurik heulen. Eigenartigerweise fühlte er sich jetzt ganz friedlich. Gemütlich.

Cind hockte sich neben ihm auf das Bett. Sie hatte ein weiches, sehr buntes Gewand um sich geschlungen. Ihre sonst so sanft geschwungenen Brauen zogen sich zusammen, als sie über Stens Traum nachdachte.

»Hast du dich schon jemals gefragt, was geschehen wäre, wenn der Imperator niemals zurückgekommen wäre?« fragte sie.

Sten schüttelte den Kopf. »Das kommt mir wie ein noch schlimmerer Alptraum vor. Es ging ganz schön drunter und drüber, falls du dich noch daran erinnerst.«

»Ich erinnere mich nur zu gut. Du hast recht, es ging drunter und drüber. Der springende Punkt ist doch der, daß wir etwas dagegen unternommen haben. Alle trugen soviel Hoffnung in sich, eine Vorstellung, wie die Zukunft aussehen sollte.«

»Glaubst du denn, wir hätten jetzt keine Zukunft mehr?

Zugegeben, die allgemeine Lage ist angespannt. Aber wenn wir dieses Tal erst einmal durchschritten haben -«

»Dann wird alles wieder normal?« unterbrach ihn Cind.

»Sag mir, was normal ist, Sten. Ich bin jung. Ich weiß kaum etwas von den wunderbaren Tagen vor dem Krieg gegen die Tahn.«

»Sei nicht so sarkastisch.«

»Du weichst meiner Frage aus.«

»Also schön. Es war nicht gerade das Paradies.«

»Was war es dann?«

Stens Gesichtsausdruck wurde kläglich. »So ähnlich wie jetzt, muß ich zugeben. Bis auf ... es war einfach mehr von allem da.«

»Damals waren alle glücklicher, hm? Die Leute hier auf Jochi zum Beispiel, sie waren viel glücklicher, oder? Klar, sie hatten diesen Khaqan, der sie unter der Knute hielt, aber sie hatten immerhin volle Bäuche. Das machte es erträglich. Der reinste Himmel für die Unterdrückten.«

»Du bist schon wieder zynisch.«

»Du weichst mir schon wieder aus.«

»So funktionieren die Dinge eben«, sagte Sten. »Jemand muß die Führung übernehmen, die Dinge am Laufen halten.

Leider kommt es hin und wieder vor, daß dieser Jemand ein Drecksack ist, ein Tyrann.«

»Wie der Khaqan?«

»Ja. Wie der Khaqan.«

»Wie Dr. Iskra?«

»Besonders wie Dr. Iskra. Der Khaqan konnte wenigstens die Entschuldigung vorweisen, alt, senil und verrückt zu sein.«

»Aber wir haben den Befehl, den Leuten hier diesen Iskra in den Rachen zu stopfen«, sagte Cind, »obwohl wir wissen, daß er höchstwahrscheinlich noch schlimmer als der Khaqan ist.

Ergibt das einen Sinn?«

»Nicht, solange man nicht das ganze Bild vor Augen hat«, erwiderte Sten. »Selbst zu seinen besten Zeiten ist das Imperium immer ein heikler Balanceakt zwischen einigen ziemlich hartgesottenen Persönlichkeiten gewesen. Und wie du zugeben mußt, leben wir nicht gerade in den besten Zeiten.«

»Hier stimmen wir lückenlos überein.«

»Gut. Außerdem mag Iskra zwar ein Drecksack sein, aber er ist immerhin der vom Imperator eingesetzte Drecksack.«

»Mit anderen Worten: Er ist entschuldigt? Es geht in Ordnung, auch wenn wir diese Völker dadurch für viele Generationen ins Elend stürzen?«

»Ich würde es nicht unbedingt so ausdrücken, aber, ja, es entschuldigt einiges. Abgesehen davon gibt es nämlich noch Milliarden anderer Wesen in diesem Imperium, an die es zu denken gilt.«

»Und wie viele von ihnen müssen unter einem wie Dr. Iskra kuschen?«

Sten öffnete den Mund und wollte antworten. Doch die Antwort blieb ihm im Hals stecken. Sein Unterkiefer klappte wieder zu.

Cind machte weiter Druck, ohne genau zu wissen, worauf sie eigentlich hinauswollte. »Was zeichnet einen guten Tyrannen, einen guten Diktator aus, Sten? Den perfekten Regenten eines Systems? Gibt es das überhaupt?«

»Ich denke schon. Zumindest für eine gewisse Zeit. Oft genug möchten die Leute gesagt bekommen, was sie tun sollen.

Und wenn dann nicht ein Ritter auf einem weißen Pferd dahergeritten kommt und sie erlöst, dann fangen sie an zu streiten und sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Mit der größten Dankbarkeit treten sie ihre Rechte an diesen Ritter ab, einer wie der andere.

Wenn sie Glück haben, ist ihr neuer Herrscher noch jung, eine Persönlichkeit mit einer starken Vision. Es spielt keine Rolle, was das für eine Vision ist, solange alle darin übereinstimmen, daß sie es wert ist, ihr zu folgen. Dieses Streben sorgt meistens dafür, daß auch der Rest des Hauses in Ordnung gehalten wird.

Das Problem liegt darin, daß ich noch nie von einem Beispiel gehört oder gelesen habe, bei dem nicht ab einem gewissen Punkt die Entropie einsetzt. Wie bei Khaqan.«

»Erkläre das bitte.«

»Wenn ein Diktator zu lange am Ruder ist, wird er nachlässig. Er entfernt sich von seinem Volk. Fängt plötzlich an zu glauben, seine Macht komme direkt von oben, von Gott.

Er schart eine Gruppe von Speichelleckern um sich. Schakale, die ihm nach dem Mund reden, um im Gegenzug ihren Anteil an dem Aas zu bekommen.

Schließlich kommen alle Herrscher - ich spreche hier von absoluten Herrschern - an den Punkt, an dem sie mehr von den Schakalen als von ihrem Volk abhängig sind. Und das ist der Anfang vom Ende, denn sie verlieren den Blick dafür, wer ihnen wirklich ihre Macht verleiht. Nämlich ganz einfach das Volk, das sie regieren.«

»Schöne Vorlesung, Professor Sten.«

»Ich wollte dich nicht belehren.«

Cind schwieg einen Augenblick und nestelte an dem Gürtel ihres Gewandes herum. Dann sagte sie mit unerwartet tiefer Stimme: »Das hört sich in meinen Ohren wie eine ziemlich treffende Beschreibung des Imperators an.«

Sten antwortete nicht darauf. Er nickte nur kaum merklich.

»Du hast meine erste Frage nicht beantwortet«, sagte Cind.

»Was, glaubst du, wäre geschehen, wenn der Imperator nicht zurückgekehrt wäre?«

»Es ist witzlos, darüber nachzudenken«, erwiderte Sten.

»Tatsache ist, daß wir alle ohne das AM2 wieder in das Stadium der Barbarei zurückfallen. Sogar innerhalb der kleinsten Planetensysteme gäbe es so gut wie keine Kommunikation mehr. Interstellare Raumfahrt müßte entweder wieder mittels der alten, tödlichen Longliners durchgeführt werden oder würde, falls man den Stardrive ohne AM2

betreiben will, die Ressourcen eines ganzen Systems erschöpfen. Kein Fortschritt. Verdammt, was heißt Fortschritt!

Wir würden alle zurückschreiten, in völlige Ignoranz zurückfallen. Und wie diese Witzfiguren vom Privatkabinett erfahren mußten, ist der Ewige Imperator nun mal der einzige, der das AM2 kontrolliert.«

»Was ist damals damit geschehen?« fragte Cind. »Das habe ich nie so richtig verstanden.«

»Es war einfach nicht mehr da«, antwortete Sten. »Das Kabinett hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um hinter das Geheimnis zu kommen, doch alles, was sie in Erfahrung brachten, war die Tatsache, daß der Nachschub von AM2 in dem Moment aussetzte, in dem der Imperator getötet wurde; oder was auch immer mit ihm geschehen war.«

»Woher kommt das AM2?« fragte Cind.

»Was?« Sten war wirklich verwirrt. Doch es handelte sich um die Art von Verwirrung, die einem Wesen das Gefühl vermittelte, daß es seine kleinen grauen Zellen schon seit langer Zeit nicht mehr aktiviert hatte. Ein Gefühl wie das eines verdatterten Ochsen vor dem neuen Scheunentor.

»Wenn die Lieferungen aussetzten, müssen sie doch vorher von irgendwo gekommen sein«, sagte Cind. »Ich meine damit nicht ein riesiges, geheimes Lager mit AM2-Vorräten oder etwas dergleichen. Denn auch die müssen ja irgendwann einmal zur Neige gehen - und wieder aufgefüllt werden. Das wiederum heißt, daß jemand - oder etwas - es holen muß.

Woher? Oder ist das eine dumme Frage?«

»Sie ist überhaupt nicht dumm.«

»Das war mir nicht ganz klar. Sie ist mir eben erst eingefallen. Andererseits denke ich mir, daß sich schon der eine oder andere diese Frage gestellt haben muß.«

»Aber nicht sehr laut«, sagte Sten. »Der Imperator sieht es nicht gerne, wenn man sich in seine AM2-Geschichten einmischt.«

»Trotzdem. AM2 muß irgendwo existieren. In großen Mengen. Ganze Gebirge davon. Man muß es nur abholen. Und wer es findet -«

»Jemand hat es gefunden«, sagte Sten, als ihm ein riesiges Licht aufging. Und er war sich nicht sicher, ob ihn diese Erkenntnis glücklich machte.

»Das war es, was ihn zum Imperator gemacht hat, stimmt's?« fragte Cind.

»Nur teilweise richtig«, erwiderte Sten. »Du hast noch etwas vergessen. Es bedurfte noch etwas mehr als nur AM2-«

»Wie das?«

»Er ist auch hinter den Trick gekommen, wie man ewig lebt.

Zumindest ist er dicht herangekommen.«

»Ach das«, sagte Cind. »Was ist schon dabei? Wer will schon ewig leben? Nach einiger Zeit wird doch alles langweilig. Man hat nicht mal mehr Spaß an Sachen wie -«

»Autsch!« jaulte Sten auf, als Cind eine seiner Brustwarzen zwischen ihre scharfen Zähne nahm.

»Und es wäre auch überhaupt nicht mehr aufregend, wenn man -«

»Ich gebe dir ... ein paar Stunden Zeit, um damit aufzuhören«, sagte Sten.

»Und obendrein macht man sich nicht mehr das geringste aus-«

Sie kreiste mit den Hüften und zog an Stens Kopf. Sten folgte ihren Richtungsanweisungen, und dabei dachte er daran, daß diese Frau eine wunderbare Art hatte, ihren Argumenten Gewicht zu verleihen.