Kapitel 19
Die Kinder der Altaianer starben nicht kampflos.
Mehr als fünfundzwanzigtausend Studenten waren auf dem Universitätsgelände versammelt, als Iskras Streitmacht zuschlug. Alles hatte mit einem Geplänkel an der Barrikade begonnen. Sechzig keulenschwingende Polizisten hatten den zehn Meter hohen Gerümpelwall angegriffen.
Die überraschten Studenten wurden zurückgeworfen. Ein Trupp Polizisten brach auf die andere Seite durch und prügelte wie wild um sich, ließ Schädel bersten und Knochen brechen.
Ein paar junger Suzdal warfen sich auf sie, duckten sich unter den Hieben hindurch; dann rissen scharfe Zähne an Muskeln und Sehnen. Die Polizisten wurden wieder zurückgetrieben. Sie schienen sich zum nächsten Angriff formieren zu wollen.
Die jungen Verteidiger der Barrikade schrien nach Hilfe.
Hunderte kamen zur Rettung herbeigeeilt.
Milhouz und die anderen jungen Anführer hörten ihre Schreie im Hauptquartier des Pooshkan-Aktionskomitees.
»Man hat uns hintergangen!« rief er.
»Kommt alle! Wir müssen helfen!« sagte Riehl, deren Stimme sich vor Aufregung überschlug. Gemeinsam mit Tehrand und Nirsky rannte sie zur Tür.
Milhouz gab ihr keine Antwort. Er hatte gerade aus dem Augenwinkel etwas draußen vor dem Fenster gesehen.
Zwischen dem Sprachengebäude und dem Institut für Kulturkünste hatte er die Silhouette eines Panzers erblickt, der die Straße parallel zur Universität hinabfuhr.
»Milhouz!« rief Riehl wieder. »Komm doch. Wir müssen sie aufhalten!«
Milhouz sah einen weiteren Panzerwagen mit großer Geschwindigkeit vorbeifahren. Er beruhigte sich selbst und wandte sich zu Riehl um. Sie stand mit Tehrand und Nirsky zögernd an der Tür.
»Ich versuche ein letztes Mal, Botschafter Sten zu erreichen«, sagte er. »Ich drohe ihm die Hölle an, wenn er das hier nicht sofort unterbindet.«
Er ging auf den Sender zu, den die Ingenieursstudenten installiert hatten, und warf seinen Gefährten noch einen Blick zu.
»Geht schon los«, sagte er. »Ich komme gleich nach.«
Die drei rannten davon.
Milhouz blieb stehen. Er hielt den Kopf wie ein wildes Tier zur Seite geneigt und betrachtete die offene Tür, wartete noch einen Moment und lauschte den Hilfeschreien von der Barrikade.
Dann rannte er zum Fenster, riß es auf, schwang ein Bein über das Fensterbrett - und sprang.
An den Barrikaden zogen sich die Polizisten wieder zurück, diesmal unter einem Hagel aus Steinen und Holz und Drahtstahlgewebe.
Riehl und die beiden anderen Studentenführer kamen im Laufschritt am Schauplatz des Geschehens an und wurden ringsum mit Freudenschreien begrüßt.
Von den Barrikaden herab winkten ihnen junge Leute zu, riefen ihre Namen und forderten sie auf, noch mehr Studenten zur Abwehr des nächsten Angriffs zusammenzutrommeln.
Riehl sah sich verzweifelt nach Milhouz um. Jetzt war Führerschaft gefragt, verdammt!
»Wir müssen rauf«, zwitscherte Nirsky
»Hoch. Hoch. Hoch«, knurrte Tehrand.
Riehl, die noch immer hoffte, ihr Geliebter würde jeden Augenblick erscheinen, setzte sich in Bewegung. Junge Hände packten sie, zogen sie empor und reichten sie weiter. Und weiter hinauf. Tehrand und Nirsky folgten ihr.
Sie wurde auf die Füße gestellt. Riehl schaute auf die massive Polizeitruppe hinunter. Sie wandte ihr Gesicht den Studenten zu, reckte einen Arm hoch in die Luft und ballte die Faust.
»Freiheit für den Altai-Cluster!« schrie sie.
Die Studenten nahmen ihren Ruf auf. »Freikeit! Freiheit!«
Über dem Gebrüll hörte Riehl das Dröhnen schwerer Motoren. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie sich die Reihen der Polizisten teilten und die Sicht auf den ersten Panzer freigaben. Dann kam noch einer.
Die großen Fahrzeuge rollten näher heran. Im Laufschritt dahinter kamen Soldaten. Mit schußbereiten Waffen.
Der erste Panzer blieb stehen. Ein Gefechtsturm schwenkte rasselnd nach oben.
Eine Explosion ... dann noch eine.
Tränengasgranaten flogen in hohem Bogen über die Barrikade und senkten sich mitten in die Studentenmenge.
Schreie ertönten, Schmerzensschreie und Schreie des Entsetzens.
Riehl hielt mit tränenden Augen trotzig die Stellung. Sie schüttelte die Fäuste gegen die Panzer.
Fast gleichzeitig setzten sich die beiden Kettenfahrzeuge in Bewegung und griffen an. Sie rasten in die Barrikaden hinein und brachen hindurch, als wären es Papierwände.
Schutt wirbelte auf.
Riehl sah das scharfe Stück Baustahl durch die Luft auf sie zufliegen, wie in Zeitlupe heranwirbeln.
»Milhouz!« schrie sie.
Der Baustahl durchschlug ihre Kehle. Sie fiel wie eine leblose Puppe von der Barrikade herunter.
Die Soldaten eröffneten das Feuer.
Tehrand und Nirsky waren auf der Stelle tot.
Einige Studenten flohen in wilder Panik. Andere blieben in ihren Stellungen, wo sie von den Geschossen der Soldaten zerfetzt oder unter den Ketten der Panzer zermalmt wurden.
Und doch ... auf viele dieser Aufwiegler wären ihre Eltern stolz gewesen.
Letztendlich schoben die Soldaten sie jedoch einfach zur Seite und strömten auf das Gelände, wobei sie ein Magazin nach dem anderen in die Menge feuerten. Der letzte Widerstand der Studenten brach zusammen, und die Überlebenden rannen Deckung suchend davon.
Die Soldaten folgten ihnen.
Als sich die Nacht über die Stadt senkte, hörte man noch immer Schüsse von Pooshkan herüberhallen. Aber kein Dauerfeuer mehr. Nur noch vereinzelte Aktionen. Die Soldaten spürten die Kinder von Jochi auf und erschossen sie.
Eins nach dem anderen.