Kapitel 18

Sten stand die R-O-U-T-I-N-E bis zum Hals. Auf Jochi hieß das nichts anderes, als sich beständig im Grenzbereich zur Panik aufzuhalten. Zwei Drittel der Lämpchen auf der Nachrichtenkonsole blinkten gelb. Die anderen standen auf Rot.

Seine Funkspezialisten, die alle als diplomatische Ombudsmänner ausgebildet waren, bearbeiteten die Anfragen fieberhaft. Sie schaufelten den Mist beiseite; beruhigten dort, wo ein paar tröstende Worte ausreichten; verwiesen die Anrufer an die zuständigen Behörden weiter, wobei sie sehr wohl wußten, daß noch einige Zeit vergehen würde, bevor auch nur eine einzige Regierungsbehörde auf Jochi funktionstüchtig arbeiten würde. Und sie teilten dort, wo es ging, kleine Vergünstigungen der Imperialen Botschaft aus.

Alles, was einigermaßen wichtig schien, wurde zu einer überschaubaren Nachricht eingedampft und an Sten weitergeleitet. So viele dieser Berichte waren hereingekommen, daß Sten den ganzen Morgen im Nachrichtenraum verbracht hatte, wo er über ihnen gebrütet und gleichzeitig den Strom von Anfragen bearbeitet hatte, die nur der Botschafter selbst bearbeiten konnte.

Der erste Anruf des Tages kam von dem jungen Milhouz, der dringend den Botschafter sprechen wollte. Sten packte ihn in seinem mentalen Stapel der Dinge, die dringend zu erledigen waren, nach ganz unten. Ja, er hatte den Pooshkan-Studenten eine Anhörung mit einer entscheidungsbefugten Persönlichkeit versprochen. Nachdem er Dr. Iskras Bekanntschaft gemacht hatte, war sich Sten nicht mehr so sicher, ob er sein Versprechen würde halten können.

Er würde sich später darum kümmern. Er mußte sich etwas einfallen lassen - sobald er sich durch diesen Wust an Berichten über die Unruhen auf ganz Jochi gewühlt hatte.

Besonders um die in den Wohnvierteln und den Gettos von Rurik.

Es galt mehr als die übliche Anzahl von Blutfehden zu schlichten. Bislang keine Aufstände. Einige bedeutungslose Zusammenrottungen der Milizen. Aber es wurden keine Schüsse abgegeben - zumindest nicht aus Wut. Hier und da Gewaltausbrüche in Familien.

Sten scrollte weiter. Er fand einen weiteren dringenden Anruf von Milhouz. Der Nachrichtenoffizier hatte die Nachricht folgendermaßen zusammengefaßt: »Habe erfolgreich eine Verlängerung des Ultimatums erreicht. Das Komitee hat der Verlängerung der Deadline um eine Woche zugestimmt.«

Sten sah, daß es sich bei dem Nachrichtenoffizier um Freston handelte, seinen erfahrensten und vertrauenswürdigsten Funkveteranen. Leider war der Mann all die Jahre viel zu befähigt gewesen, und erst Sten konnte ihn von der anscheinend unvermeidbaren und mörderisch langweiligen Karriere als Chef des hochrangigen Nachrichtenstabs erlösen.

Unter Beobachtungen hatte Freston vermerkt: »Auftreten der Person äußerlich ruhig. Die Kurve der Stimmbox zeigte trotzdem Instabilität an. Sieht Botschafter Sten als Vaterfigur.

Empfohlene Vorgehensweise: Fortsetzung der harten Linie.

Sanftere Umgangsweise wird Instabilität fördern.«

>Na prima<, dachte Sten. >Vaterfigur für ein verwöhntes reiches Bürschlein.< Dabei mochte er Milhouz noch nicht einmal; er hielt ihn für einen Speichellecker mit einer schrillen Stimme, der eine Gruppe ebenso nichtsnutziger Personen für seine Zwecke ausnutzte. Verdammt noch mal! Er würde ihn zurückrufen, sobald er seine Arbeit erledigt hatte. >Vaterfigur!

Nicht zu fassen ...<

Sten überflog weitere Berichte. Dann traf er auf ein echtes Warnsignal. Panikkäufe hatten eingesetzt. Die Leute fingen an zu hamstern. Auf dem ganzen Planeten waren die Läden mit länger haltbaren Nahrungsmitteln und Getränken ausverkauft.

Auch die Brennstoff-und Kochölvorräte gingen zur Neige.

Das gefiel ihm nicht. Es bedeutete, daß Iskra ab jetzt weitaus mehr vorweisen mußte als gutgedrechselte Reden, um die Leute davon zu überzeugen, daß ihnen so etwas wie ein normales Leben in Aussicht stand.

Sten sah zu, wie sich der Mist in seinem Napf höher und höher anhäufte. Das widersprach Kilgours Gesetz des statistischen Mistaufkommens. Alex bestand darauf, daß Katastrophen immer als Dreierpack auftraten. Sten war anderer Ansicht, auch wenn das Axiom von Kilgours über alles geschätzter Mama stammte. Sten war fest davon überzeugt, daß der Ärger stets so lange auf einen einprasselte, bis man weder ein noch aus wußte. Und dann kriegte man noch zwei Tiefschläge extra verpaßt.

Die Tür zum Nachrichtenraum glitt fauchend zur Seite, und Cind stürmte herein. Er war froh, sie zu sehen. Ihr Gesichtsausdruck erfreute ihn jedoch ganz und gar nicht.

»Laß mich raten: Du bist nicht gekommen, um mir mitzuteilen, daß Iskras Vorstellung vom Paradies auf den Straßen von Rurik Wurzeln gefaßt hat?«

»Es sei denn, im Paradies marschieren Sturmtruppen auf, die Massenverhaftungen durchführen«, antwortete Cind.

Sten reagierte so diplomatisch, wie er es vermochte: »Was?

Sag das noch einmal!«

»Ich bin den Gerüchten von den vermißten Leuten nachgegangen«, sagte sie. »Es sind keinesfalls nur Gerüchte.

Ich habe Augenzeugen. Familienoberhäupter, manchmal sogar ganze Familien, werden ringsum festgenommen und weggebracht. Von Iskras Soldaten.«

»Welches Spiel spielt dieser Mann nur?« fragte Sten. »Ihm wird die ganze Sache um die Ohren fliegen, bevor er richtig angefangen hat.«

Einer der Nachrichtenoffiziere gab ihm Zeichen. »Ich habe wieder einen Anruf vom jungen Milhouz«, sagte er. »Er ist noch dran. Er sagt, es sei außerordentlich wichtig, ein Notfall.«

»Ganz bestimmt«, sagte Sten. »Lügen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, mich hat die Beriberi erwischt oder sonstwas. Und dann besorgen Sie mir Dr. Iskra. Ich muß ihn sprechen. Sofort!«

Einige Minuten später erschien das dünnlippige Gesicht Iskras auf dem zentralen Vid-Schirm.

»Wie ich höre, liegt bei Ihnen etwas Dringendes vor«, sagte Iskra.

»Ich hätte gern eine Erklärung von Ihnen, darum geht es, Doktor.«

»Mir gefällt Ihr Ton nicht, Herr Botschafter.«

»Ich singe nun mal in dieser Tonart«, gab Sten zurück,

»wenn ich erfahren muß, daß ein politischer Führer, den ich unterstütze, gefährlich knapp davor steht, den Mann bloßzustellen, dem ich unmittelbar unterstehe. Den Ewigen Imperator.«

»In welcher Hinsicht tue ich das?«

»Dr. Iskra, mir liegen bestätigte Berichte vor, daß Ihre Soldaten Massenverhaftungen vornehmen.«

»Hätten Sie mich zuerst gefragt«, konterte Iskra glatt, »dann hätte ich Ihnen diese Tatsache bestätigt. Damit wäre Ihnen ein Haufen Ärger erspart geblieben - und ein Mißverständnis.«

»Schön. Ich höre.«

»Richtig. Es wurden einige Verhaftungen vorgenommen«, sagte Iskra. »Sie als Massenverhaftungen zu bezeichnen, ist meinem Verständnis nach reichlich übertrieben. Die Angeklagten wurden der Einfachheit halber ungefähr zur gleichen Zeit festgenommen, so wie sie auch gemeinsam zur Festung Gatchin gebracht wurden, wo sie jetzt einsitzen.

Gatchin ist der Ort, an dem traditionellerweise die Personen inhaftiert werden, die von der Öffentlichkeit angeklagt werden sollen. Ich versichere Ihnen jedoch, daß es sich hierbei lediglich um Routinevorgänge handelt, die einzig dazu dienen, dem Cluster wieder zu einer gewissen Stabilität zu verhelfen.

Meine Leute brauchen Beweise dafür, daß im Altai-Cluster wieder die Gerechtigkeit Einzug hält.

Die betreffenden Personen sind unterschiedlicher Verbrechen angeklagt. Einige davon schwerwiegend. Offen gesagt erwarte ich, daß sich viele dieser Anklagen als falsch erweisen werden und daß die Verhafteten die Opfer niederträchtiger und rachsüchtiger Wesen sind.

Wie jedoch bereits erwähnt: Das Volk verlangt nach Prozessen. Deshalb werde ich ihm diese Prozesse geben. Faire Verhandlungen. So daß jeder, der fälschlicherweise angeklagt wird, seinen Namen in aller Öffentlichkeit wieder reinwaschen kann.«

>Was für ein Haufen Dreck<, dachte Sten. »Was geschieht mit den Schuldigen?« fragte er.

»Mischen Sie sich da nicht sehr heftig in Angelegenheiten ein, die Sie nichts angehen?« fragte Iskra zurück. »Was hat der Imperiale Botschafter mit dem Rechtssystem der Altaianer zu schaffen?«

»Überhaupt nichts«, gab Sten zu. »Ich bin jedoch fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß die Befehle des Imperators ausgeführt werden. Das heißt, er erwartet eine Rückkehr zu stabilen Verhältnissen im Altai-Cluster. Es ist diesem Ziel nicht gerade dienlich, Doktor, wenn Sie Anlaß für neue Blutfehden schaffen.«

»Ich verspreche Ihnen, Herr Botschafter, daß die Verhandlungen absolut fair ablaufen werden. Und ich werde mit den Schuldigen so gnädig wie möglich verfahren. Sind Sie damit zufrieden?«

Sten mußte bejahen. Natürlich log Iskra. Aber Sten konnte sich einen offenen Bruch mit diesem Mann nicht leisten. In diesem Fall würde ihm alles aus den Händen gleiten, und seine Mission wäre dem Untergang geweiht.

»Es war mir ein Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, Sr. Sten«, sagte Iskra abschließend. Der Bildschirm wurde wieder schwarz.

»Wir sollten auf jeden Fall unsere Überwachung forcieren«, sagte Sten zu Cind. »Schickt noch mehr von Kilgours Fledermäusen los.«

»Du brauchst mehr als Frick und Frack«, meinte Alex. Sten fuhr erschrocken hoch. Er hatte Alex nicht eintreten gehört.

»Wenn mich meine alten Ohren nicht ganz im Stich lassen, schießen sie gerade die Universität zusammen.«

Sten war verblüfft. »Die Studenten? Wo haben die denn die Waffen her?«

»Ich glaube nicht, daß die Kinder die Ballerei eröffnet haben«, antwortete Kilgour.

»Verdammt!« war alles, was Sten herausbrachte. Er rannte zur Tür, dicht gefolgt von Alex und Cind.

Noch während er durch die Botschaft sprintete, die wachhabenden Kompanien der Bhor und Gurkhas zu sich rief, zur Tür hinaus und über das weite Areal stürmte, erstickte das Gespenst einer völligen Katastrophe seine Gedanken. Der kleine Schwachkopf Milhouz hatte zumindest in einer Sache recht: Sollte den verhätschelten Kindern in Pooshkan etwas zustoßen, würde überall im Altai-Cluster die Hölle losbrechen.

Als er das Tor der Botschaft erreicht hatte, hörte Sten das Krachen von Gewehrschüssen aus der Richtung der Universität.

Dann wurde er gebremst. Die breite Prachtstraße vor der Botschaft war von jochianischen Soldaten abgeriegelt. Iskras Männer. Im Hintergrund standen zwei Panzerwagen.

Ein stämmiger Major baute sich vor ihm auf.

»Aus dem Weg«, keuchte Sten.

»Tut mir leid, Herr Botschafter«, sagte der Major, »aber ich darf Ihnen nicht erlauben, die Botschaft zu verlassen.«

»Auf wessen Befehl hin?«

»Auf Dr. Iskras Befehl hin, Sir. Verstehen Sie die Sache bitte nicht falsch. Es geschieht nur zu Ihrem eigenen Schutz.

Ich soll Ihnen außerdem eine Entschuldigung für mögliche Unannehmlichkeiten überbringen. Sobald der

Ausnahmezustand aufgehoben wird, dürfen Sie sich selbstverständlich wieder frei bewegen.«

Sten hörte immer noch Schüsse aus der Richtung von Pooshkan. »Ist das der Ausnahmezustand?« wollte er wissen.

Der Major zuckte die Schultern. »Da machen ein paar junge Rabauken Krawall. Begehen schreckliche Taten. Zerstören öffentlichen Besitz. Mord. Plünderungen. Sexuelle Ausschreitungen. Eine ziemlich schlimme, widerwärtige Geschichte.«

»Verdammter Lügner!« hörte er Cind murmeln.

»Ich muß mir selbst ein Bild davon machen«, sagte Sten.

Der Major blieb professionell gelassen. Aber Sten sah, daß sich die Soldaten um ihn herum anspannten. Jemand flüsterte etwas, und die Gefechtstürme der Panzerwagen schwenkten ihre Geschützrohre surrend auf die Botschaft.

»Das kann ich wirklich nicht erlauben, Sir«, sagte der Major. »Es geschieht zu Ihrem eigenen Schutz. Sehen Sie das bitte ein und zwingen Sie mich nicht, meine Pflicht zu tun.«

Sten fühlte sich wie ausgehöhlt, als er sich umdrehte. Er hörte noch mehr Schüsse und etwas, das wie entfernte Schreie klang.

Was zum Teufel konnte er jetzt noch tun? Er dachte an Milhouz und all die anderen armen verdammten reichen Kinder. Natürlich konnte er sie nicht brauchen, und wenn es in seiner Macht gestanden hätte, hätte er sie weit weg gewünscht.

Wenn er nur Milhouz' Anruf früher beantwortet hätte. Wenn er nur ...

Ach, verdammt!

Alex und Cind versuchten ihn zu beruhigen, als er sich auf den Rückweg machte. Jetzt blieb ihnen nichts mehr zu tun außer sich auf den Rückschlag vorzubereiten.