Kapitel 12

Als Sten zur Botschaft zurückkehrte, hätte sich seine Stimmung nur durch einige Axtmorde aufbessern lassen.

Er warf einen Blick auf die verlogene halbfertige diplomatische Mitteilung und schleuderte den Notizblock quer durch den Raum.

Unglaublich unreif. Und außerdem nicht annähernd befriedigend.

Er spielte mit dem Gedanken, den Schreibtisch umzutreten, hielt sich jedoch rechtzeitig zurück, indem er an die enorme Masse dieses Holzblocks ganz nach dem Geschmack des Khaqans dachte. Hinzu kam der Anblick der verschrammten Beine, die beredtes Zeugnis von früheren botschafterlichen Selbstverstümmelungen ablegten, die zweifellos aus dem Kontakt mit den charmanten, altruistischen, visionären Einwohnern des Altai-Clusters herrührten.

Sten zog kurz in Erwägung, Admiral Mason in sein Quartier zu bestellen, in der Hoffnung, einen inoffiziellen Schlagabtausch provozieren zu können, begnügte sich dann jedoch mit einem lauten barbarischen Grunzen, das er durch die Scheibe des versiegelten Fensters in den prasselnden Regen des gerade über Rurik niedergehenden Gewitters ausstieß.

Daraufhin ertönte ein Röcheln.

Dann ein unterdrücktes Kichern.

Sten drehte sich nicht um.

»Muß man nicht einfach Mitleid mit diesem Burschen haben?« säuselte Alex. »Jetzt, wo er gerade entdeckt hat, daß er die Imperiale Hoheit über einen ganzen Cluster voller Campbells aufgedrückt bekommen hat?«

»Da haben wir ihn«, sagte Cind mit ähnlich ernster Stimme,

»den mutigen Sten. Den großen Krieger, den ich seit frühester Jugend anbete. Den Mann, von dem die Legende berichtet, er habe allen Wesen im gesamten Lupus-Cluster Frieden und Wohlstand gebracht und dabei nie das Lächeln auf den Lippen und das Lied in seinem Herzen verloren.«

Sten drehte sich noch immer nicht um.

»Gibt es ein einziges Wesen in diesem ganzen verdammten Cluster, das nicht unterwegs ist, um alle anderen verdammten Wesen umzubringen?« fragte er. »Gibt es verdammt noch mal irgend jemanden, angefangen bei diesen verdammten Apparatschikidioten, die sich für Innerlecktschuelle und Studenten halten, bis hin zu den Schwachköpfen, die mit ihren verdammten Privatarmeen umherziehen, und den verdammten Blödmännern, die Abzählreime auf sagen, um herauszufinden, wer diesem verdammten Idioten Iskra diesen verdammten Thron überreichen wird, dem unser Ewiger Verdammter -« Er hielt inne und bemerkte erst jetzt, daß seine Lungen völlig leer waren, holte Luft und setzte seine Tirade mit Rücksicht auf Cinds Anwesenheit ein wenig umsichtiger fort: »... dem wir die verdammten Schlüssel zu diesem verdammten Königreich überreichen sollen? Gibt es auch nur ein einziges Lebewesen, das über einen Milliliter der Milch der frommen Denkungsart verfügt, irgendwo tief drinnen in seiner oder ihrer oder was auch immer für einer Persönlichkeit versteckt?«

»Ts-ts-ts«, zischte Alex bedauernd. »Verdammt unflätige Ausdrucksweise. Und das vor einem verdammten Lord und alles.«

»Könnte mir jemand einen Drink eingießen?«

»Noch nicht, Skipper. Vielleicht ist es dir auch lieber, wenn kein Alk durch dein System rauscht.«

Jetzt endlich drehte sich Sten um. Sowohl Kilgour als auch Cind trugen jochianische Zivilkleidung. Die Kleidung armer Leute. In dunklen Farben gehalten.

Unter den Armen waren jochianische Mäntel

zusammengerollt.

Interessanter erschien ihm jedoch, daß beide Kampfwesten trugen. Jede Weste war komplett mit Funkverbindung, einer Willygun mit abgesägtem Lauf und ausziehbarem Kolben in einer Unterarmschlaufe, zwei Reservemagazinen der verheerenden AM2-Munition und einem Kampfmesser plus Scheide ausgestattet. Unter den Mänteln würden die Westen nicht zu sehen sein.

Kilgour hatte obendrein ein recht großes Päckchen unter dem Arm, ein Päckchen, das in einen dritten Mantel gewickelt war.

»Zwischen Dunkelheit und Zwielicht

Tief in der finsteren Nacht

Haben die Geschäfte des Tages Pause,

Wenn der Schurke seine Runde macht.«

Noch während er das Gedicht rezitierte, entrollte Alex das Päckchen und enthüllte das, was Sten sich bereits erhofft hatte: eine aus Zivilkleidung, einer bestückten Kampfweste und einem phototropischen Overall bestehende dritte Ausrüstung.

Kilgour fuhr fort:

»Ganz deutlich hör' ich es dicht unter mir

Das Getrippel auf Zehenspitzen gehender Füße Das stumpfe Geräusch eines eindringenden Dolches Und das Todesröcheln, das leise und süße.«

»Ihr zwei Scherzkekse wollt ausgehen und im Schütze der Nacht >Fang mich< spielen - und ich soll wohl allein hier bei der Büroarbeit zurückbleiben?«

»Ein ordentlicher und gewissenhafter Botschafter«, sagte Cind, »treibt sich nicht bei Wind und Regen draußen herum und gibt sich auch nicht mit gemeinen Messerstechern ab.«

»Du hast recht. Ich muß mich an meinen neuen Posten gewöhnen. Kilgour, hast du an meinen Kukri gedacht?« Sten legte seinen Botschafterumhang ab und fühlte sich gleich wesentlich besser.

»Zieh lieber die Mantis-Tarnung drunter, Boß. Falls wir auffliegen.«

»Worum geht's denn?«

»Du hast mir doch erzählt, daß sich der Imperator unter anderem darüber Sorgen macht, daß der Khaqan sein AM2 auf den Schwarzmarkt schafft und es nach außerhalb des Systems verkauft, um seinen Gebäudetick zu finanzieren, stimmt's?«

»Und?«

»Wenn wir davon ausgehen, daß sich die Schurken und ihr schurkisches Treiben niemals ändern, dann suchen sie jetzt nach neuen Bossen, und da meinte ich, es wäre eine prima Sache und obendrein sehr produktiv, wenn wir uns mal umschauen und herausfinden, wie der Schwarzmarkt hier so abläuft.«

»Sehr gut. Hervorragend«, stimmte ihm Sten zu.

»Wenigstens einer fängt an zu denken, wenn schon nicht ich.

Wer also ist der liebenswerte Mitbürger, der die Führerschaft seines Clusters am Straßenrand feilbietet?«

Alex erklärte es ihm. Der hiesige Chef des Mercury Corps für den Altai-Cluster, ein relativ junger und unerfahrener Agent namens Hynds, der in der üblichen Tarnung als Kulturattache auftrat, hatte einen seiner besseren Jochi-Agenten in Bewegung gesetzt.

Sten wollte wissen, wie gut der Mann war. Kilgour zuckte mit den Achseln.

»Unser kleiner Schnüffler meint: erstklassig. Seinen Berichten und der einen Befragung, an der ich teilnahm, nach zu urteilen, ist der Agent nicht besser als zweite Reihe. Wir müssen jedoch mit dem Werkzeug arbeiten, das uns zur Verfügung steht, Boß. Ich hab' noch nicht genug Zeit gehabt, um Walshingham zu spielen und eigene Leute anzuwerben.

Jedenfalls behauptet Hynds Agent, er habe einen dieser Schmuggler an der Hand, der ums Verrecken aus der Geschichte raus will.«

»Hast du irgendeine Bestätigung oder eine zweite Quelle, daß dieser Kanarienvogel, der uns einfach so zuflattert und lauthals singen will, mehr wert ist als jemand, der sich mit einer kreativen Lüge ein paar Imperiale Credits abgreifen will?«

Kilgour sah ein wenig verletzt aus, daß Sten ihn der Leichtgläubigkeit verdächtigte, führte aber seine Erklärungen weiter aus.

Der Mann, mit dem sie sich treffen sollten, behauptete, Eigentümer und Captain einer kleinen Transportfirma zu sein, die der Khaqan benutzte, um das AM2 zu verschieben. Hynds Agent hatte die Kopie eines Fiches aus dem Logbuch eines dieser Schiffe sowie zwei Ladungsfiches von dem Mann erhalten.

»Natürlich wurde die Ladung als Birnen, Pflaumen, Klatschmohn oder sonstwas ausgewiesen, interessanter jedoch ist das Ziel der Reise. Es ging zu den Honjo, die sich noch nie geziert haben, AM2 aufzukaufen, ohne viel zu fragen, woher das Zeug kommt.«

»Dünn«, lautete Stens Beurteilung.

»Stimmt schon«, pflichtete ihm Kilgour bei. »Plus das Treffen heute nacht in einem schrecklichen Stadtviertel. Wir dürfen nicht viel Verstärkung mitnehmen. Deshalb die Knarren. Und ich habe so den Eindruck, daß Cind einen guten Teil bei dieser Diskussion beisteuern könnte. Außerdem du, vorausgesetzt, du hast noch genug Puste, um mit uns Schritt zu halten.«

»Auf geht's«, sagte Sten grinsend. Die Aussicht auf ein wenig Action, selbst wenn es sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um das Treffen mit einem elenden Lügner handelte, der ihnen in einer dunklen Gasse Märchen erzählen wollte, wirkte wie eine Frischzellenkur.

»Ihnen ist aber klar, Captain Cind«, sagte er, »daß ein gewisser Gefreiter Otho uns dazu zwingen wird, unsere Barte abzuschneiden, weil wir ihn von einer Aktion ausgeschlossen haben, die zumindest eine geringe Aussicht auf Selbstverstümmelung bietet?«

Dann fiel ihm noch etwas anderes ein. »Wie kommen wir dorthin? Schließlich bin ich der Botschafter und kann mich nicht einfach von der Bühne verabschieden, ohne daß es jemandem auffällt.«

Cind setzte ein verschlagenes Gesicht auf. »Während du da draußen warst und mit der Dumpfbackenbrigade >Diplomatie< gespielt hast, habe ich überprüft, wie sicher unser Schlafzimmer ist. Inzwischen muß ich den vorherigen Botschafter eines nicht ganz alltäglichen Geschmacks verdächtigen.«

Cind ging zu den Lichtschaltern und drückte einen Auf-AbSchalter zur Seite. Eine der Wandverschalungen glitt auf.

»Ah«, sagte Sten. »Was wäre das Leben ohne

Geheimgänge?«

»Er führt von hier an unserem Schlafzimmer vorbei«, erklärte Cind. »Dann hinten herum durch den Flügel, in dem das Kanzleipersonal und die jungen Angestellten einquartiert sind. Dann geht es unterirdisch weiter bis in die Nähe der Küche, glaube ich, und schließlich kommt er als Teil der hinteren Mauer wieder an die Oberfläche.«

»Komplett mit Gucklöchern und Türen, direkt in die Betten der Dienerinnen. Der Bursche war ein echter Romantiker«, ergänzte Alex.

»Ein Perverser«, korrigierte ihn Cind.

»Wo liegt da der Unterschied?« erkundigte sich Kilgour.

»Nach dir, Skipper. Captain, wenn Sie gleich den Anschluß machen würden, dann bilde ich die Nachhut. Nebenbei bemerkt mußt du dir keine Sorgen wegen Wanzen oder dergleichen machen. Außer mir und Cind kennt niemand diesen Gang.«

In diesem Punkt allerdings täuschte sich Kilgour gewaltig

...

Der Treffpunkt lag fast vier Kilometer von der Botschaft entfernt. Die Straßen waren beinahe verlassen, nur gelegentlich rauschte ein A-Grav-Gleiter langsam durch das Gewitter, und ein-oder zweimal sahen sie irgendwo eine Gestalt entlanghuschen, zweifellos unterwegs zu frevelhaftem Tun.

Ihr Weg führte sie zu Rüriks gewaltigem Zentralbahnhof für den öffentlichen Nahverkehr. Als sie den Bahnhof erreichten, fragte sich Sten, warum diese Terminals in allen Städten in Slumgegenden angesiedelt waren. Was kam zuerst? Oder zog das ständige Kommen und Gehen die Obdachlosen an?

Die Doppelstreife gleich hinter dem Eingang beäugte sie mißtrauisch, schätzte das Trio als verstädterten Bauer, seine Frau und seinen Freund oder entfernten Verwandten und damit als uninteressant ein. Kilgour führte Sten und Cind auf einem kleinen Umweg durch das riesige Gebäude. Auf den Bänken saßen Gestalten, die dort schon seit Ewigkeiten zu warten schienen. Einige schliefen, andere aßen, einige lasen. Wieder andere starrten auf die Bildschirme mit den verschwommenen Fahrplanhinweisen oder Unterhaltungsprogrammen. Viele glotzten einfach nur vor sich hin. Auf Rurik war die Fähigkeit, Schlange zu stehen, ohne von der brüllenden Langeweile in den Wahnsinn getrieben zu werden, mehr als eine Kunstform.

Es war blanke Notwendigkeit.

Vor einem Erfrischungsstand blieben sie stehen. Heiße Getränke gab es nicht, dafür aber drei Varianten eisgekühlter Sommergetränke. Das einzige Essen, das Sten sehen konnte, war eine dünne Brühe aus einer Art von Pilzen, obendrein waren die Terrinen dreckig. Auf der Suppe schwamm ranziges Fett.

Cind, die sich noch immer als Spionin zur Ausbildung sah, beobachtete die beiden anderen dabei, wie sie unauffällig die Leute ringsum beobachteten.

Bis jetzt war die Sache gut verlaufen, obwohl Sten wußte, daß es so gut wie unmöglich war, einen ernsthaften Versuch, ihnen zu folgen, zu erkennen, wenn jeder Verfolger sie nur über eine kurze Strecke verfolgte, bevor er sie an den nächsten Agenten übergab.

Schließlich zuckte Kilgour hilflos mit den Schultern und zeigte auf eine Zeile der Anzeigetafel, die gerade blinkte: FAHRDIENST AUFGRUND DES WETTERS BIS AUF

WEITERES EINGESTELLT. Er führte sie zum nächsten Ausgang, wobei er wie ein zünftiger Landbewohner, dem man gerade gesagt hatte, er könne nicht mehr nach Hause fahren, leise vor sich hin fluchte.

Sie kamen an einer Tür vorüber, auf der NUR FÜR

PERSONAL stand, als Alex mit einem Kopfnicken das Zeichen gab und seitlich durch die Tür flitzte. Cind war völlig überrascht, doch Sten hatte sie bereits an der Schulter gepackt, und gemeinsam folgten sie Kilgour. Die Tür schloß sich hinter ihnen wieder. Alex schob mit dem Stiefel einen Keil in den Spalt, und schon befanden sie sich auf einer hallenden feuchten Treppenflucht, an deren unterem Ende ein offenes Tor und dahinter Regen zu sehen waren.

Handsignale von Kilgour. Du, Cind, vorneweg. Die Treppe runter, raus, den Ausgang sichern.

Cind glitt geräuschlos wie Quecksilber die Stufen hinab; der Mantel öffnete sich ein wenig, die Schußhand legte sich auf den Griff der Waffe, ein Finger vorsichtig in die Nähe, aber nicht auf den Abzug, bereit, die Pistole in Feuerposition herauszuziehen. Sie schob sich in die Nacht hinaus und preßte sich sofort dicht an die Wand.

Sie fand einen Augenblick, um Sten und Kilgour zu bewundern. Wieder lernte sie etwas von den beiden. Sie war noch nie Teil eines Kampfteams gewesen, bei dem derjenige, der die Befehle gab, nicht der Ranghöchste war, sondern derjenige, der mit den Verhältnissen und dem Problem am besten vertraut war.

Sten kam aus der Tür und drückte sich auf der anderen Seite mit dem Rücken gegen die Wand. Alex folgte ihm.

Auch er fand Platz in seinem Hirn, um eine

Personalbeurteilung abzuspeichern: >Das Mädel ist richtig, was? Sie weiß es zwar nicht, aber sie ist inzwischen soweit, es mit den besten Mantisleuten aufzunehmen. Ich muß Sten unbedingt sagen, daß er meinen Segen hat.< Dann war auch er draußen im Nieselregen, und sie bewegten sich im Laufschritt eine Versorgungszufahrt hinab, bis sie in die Straßen der Slums hinter dem Terminal eintauchten. Einen Block weiter suchten sie Schutz in einem Hauseingang und überprüften, ob sie verfolgt wurden.

Die Straße blieb so regendunkel und leer wie zuvor. Kilgour nickte zufrieden. Er zog einen Wanzendetektor aus der Weste und fuhr damit rasch über sie alle drei hinweg. Niemand hatte ihnen auf dem Weg durch das Terminal etwas angehängt.

»Woher wußtest du, daß diese Tür im Terminal nicht verschlossen war?« fragte Cind.

»Ach, Mädel«, erwiderte Kilgour. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Was meinst du denn, wer die aufgeschlossen hat?

Was glaubst du denn, wer das PERSONAL-Schild dort hingehängt hat? Du denkst wohl, ich verstehe nichts von meinem Handwerk?«

Er wartete nicht auf eine Antwort. »So. Jetzt ist es an der Zeit, daß wir unseren neuen Freund kennenlernen.«

Sie gingen weiter, immer dicht an den Gebäuden entlang, was niemandem großartig auffiel, da sich hier jeder so bewegte, als hätte er ein Geheimnis oder sonst etwas zu verbergen oder wäre ein Straßenräuber.

Der Slum erstreckte sich auch in die Vertikale, denn wie alles andere auf Jochi war dieses Viertel monströs, gewaltig und himmelstürmend gebaut. Die Gebäude waren vor über einhundert E-Jahren als Hochhauswohnungen für Verwaltungsangestellte errichtet und mit genügend Annehmlichkeiten und Luxus ausgestattet worden, um denjenigen, die das Räderwerk des Khaqans fleißig schmierten, das Leben nicht allzu unangenehm zu machen. Inzwischen war einige Zeit vergangen. Die Gebäude verfielen. Die Regierungsangestellten suchten sich sauberere, sicherere und neuere Quartiere. Die Armen zogen ein. Bald blieben die McLean-Lifts stehen, und es gab viele, viele Treppen zu ersteigen. Die Hausverwalter hatten Angst oder waren korrupt.

Schließlich schlug einer der Flüche zu, mit denen Jochi geschlagen war: Die Jochianer waren sehr gut, wenn es darum ging, Gebäude zu errichten, aber sie schienen sich noch nie Gedanken darüber gemacht zu haben, daß Gebäude, Straßen und Monumente instand gehalten werden müssen.

Jetzt waren die Fensterscheiben eingeschlagen, die leeren Höhlen mit Brettern vernagelt. Die oberen Stockwerke der Gebäude lagen meist im Dunkeln. Nur hier und da flackerte die Fettlampe eines Hausbesetzers oder der Lichtschein einer Räuberhöhle.

Die Fassaden der Häuser hatten einmal wie Stein aussehen sollen. Jetzt lösten oder schälten sie sich ab oder lagen in großen, glitschigen Flächen auf dem geborstenen Pflaster.

Überall lag Müll auf den Straßen und stapelte sich in den Versorgungszufahrten der Gebäude.

Ihre Route führte sie in die Nähe eines der Flüsse, die Rurik durchzogen. Es war weniger ein Fluß als ein beweglicher Pfuhl, flach und voller Abfall und alter Fahrzeuge, die man einfach von der sich hoch über seinem Bett spannenden Brücke hinuntergestoßen hatte.

Wahrscheinlich war das Ufer vor vielen Jahren ein reizvoller Streifen gewesen, wo man die Feiertage oder Sommerabende verbringen konnte. Jetzt nicht mehr. Sten fand, daß er mit dieser Situation keinesfalls zufrieden sein konnte, denn er, vermutete, daß sie sich hier mit dem Agenten treffen sollten. Die Brücke da oben war wie geschaffen für eine Falle.

Und unter der Brücke, in der Nähe des Flusses? Sten erschauerte. Nicht einmal Alex mit seinem überentwickelten und normalerweise gerechtfertigten Selbstvertrauen und Wagemut, seinen Schwerweltlermuskeln und seiner Erfahrung würde sich in diesen mitternächtlichen Alptraum wagen.

Das hoffte Sten jedenfalls.

»Hier ist unser Plan«, erläuterte Kilgour. »Ich hab' diesem Agenten gesagt, ich bin kein Blödmann, ich bring' mir Verstärkung mit. Das bist du, Cind. Ich kann dir nicht sagen, wo du dich aufhalten sollst, würde es aber begrüßen, wenn du dich unsichtbar machen und mir unauffällig folgen würdest.

Ich soll dort unten am Flußufer langgehen, wo mich unser Vögelchen treffen wird. Mir gefällt der Plan auch nicht besonders gut, aber der Kerl war ziemlich nervös. Wenn du nix dagegen hast, Boß, dann spiele ich die sichtbare Fliege im Eintopf. Du kannst über diese Mauer hüpfen und mir Deckung geben, und zwar von vorne, wenn's genehm ist.«

»Vielen Dank, Kilgour. Ich darf also durch den Flußschlamm waten und muß obendrein schneller sein als du?«

»Genau. Und geräuschloser. Deshalb bist du ja auch Admiral und ich nur ein popeliger Dienstbote.«

Sten überprüfte seine Pistole. Alles klar.

»Wenn du ein wenig in der Weste herumsuchst, findest du eine kleine Sammlung von Granaten: Bester, Leucht, Splitter und Spreng.«

»Wie lautet die Prognose - kriegen wir Ärger?« flüsterte Cind.

»Wahrscheinlich nicht. Sonst hätte ich Sten eine Haubitze mitgegeben. Nicht mehr als siebzig Prozent. Genug geredet.

Los jetzt.«

Bei genauem Hinsehen hätte man auf dem Uferstreifen einen Schatten wahrnehmen können. Einen Schatten, der sich bewegte. Doch es war wohl nur ein Spiel des Lichts von der Brücke, Licht, das man durch den rauschenden Regen kaum erkennen konnte. Der Schatten war Sten. Er glitt über die Ufermauer auf den »Strand« des Flusses hinunter.

Der reinste Schlamm. Stens Fuß versank in etwas, das womöglich kürzlich noch etwas lebendiger gewesen war als der Matsch, in dem es steckte. Er zog die Nase kraus. Du wirst weich, mein Junge. Erinnere dich wieder an dein Mantistraining, als sie dich einen halben Kilometer durch einen offenen Kanalabfluß kriechen ließen - und dir dann bei der Rückkehr deiner Ausbildungsgruppe im Basislager erklärten, der Zugang zu den Naßzellen sei absolut verboten. Einen Würger nannte man das damals korrekt im Mantis-Slang.

Sten fiel auf, daß er etwas steif war, etwas aus der Übung, was die Schnüffelei betraf, doch er schlich weiter, eine Kanalratte auf der Suche nach Aas. Hinter sich hörte er durch das Rauschen des Regens Alex' absichtlich fest auftretende Stiefelabsätze auf dem Pflaster der Uferbefestigung.

Cind hielt sich in der Nähe der verwahrlosten Gebäude auf der anderen Seite des Uferstreifens auf, glitt von Schatten zu Schatten, immer ungefähr fünfzig Meter hinter Alex, dem Köder.

Kilgour schüttelte sich, aber nicht der kalten Regenschleier wegen. Wie oft hatte er sich schon einem Treffpunkt mit einem örtlichen Agenten genähert? >Unzählige Male, Lord Kilgour<, dachte er. >Und hast du jemals dieses Kribbeln zwischen den Schulterblättern gespürt und dir vorgestellt, wie sich das Fadenkreuz scharf stellt und der Schuß auf sein Ziel zurast?< Vor ihm tauchte ein kleines Gebäude auf, direkt neben einer kaputten Straßenlaterne. Es mochte sich früher einmal um eine Haltestelle oder das Wachhäuschen eines Polizisten gehandelt haben.

Bewegung. Alex' Finger versicherten sich der Pistole in seiner Weste, hielten dann jedoch die Miniwillygun, die in einem Holster an seinem Rücken steckte, für angebrachter. Er schob behutsam den Sicherungshebel der Maschinenpistole zurück, obwohl im Krach des Gewitters ohnehin niemand das Klicken gehört hätte. Die Fingerkuppe berührte den Abzug, und er hielt die Waffe mit der Mündung direkt hinter seinem Mantel bereit. Ohne sich dessen bewußt zu sein, suchte Alex sein optimales Gleichgewicht und ging leicht geduckt weiter; ein Fuß löste sich vom Boden, drehte sich leicht nach innen, berührte beinahe den anderen Knöchel, drehte sich wieder nach außen, setzte auf dem Fußballen auf, dann bewegte sich das andere Bein vorwärts.

Der Schatten war ungefähr mannsgroß. Er bewegte sich wieder. Blitze zuckten hinter ihm auf, und Kilgours Finger legte sich um den Abzug. Dann entspannte er sich. Der Schatten verwandelte sich in einen Mann, der einen knöchellangen Regenmantel mit Kapuze trug. Im Flackern des Blitzes hatte Kilgour gesehen, daß der Mann seine leeren Hände außerhalb der Manteltaschen hielt.

Kontakt.

»Und die Sonne bricht durch die dunkelsten Wolken«, sagte er und verwünschte sich selbst für die blödsinnigen Parolen, die sich in seinem warmen Büro ganz passabel angehört hatten.

Die Gegenpartei - der Schiffscaptain - hätte mit »So offenbart sich Ehre in der übelsten Gewohnheit« antworten sollen.

Nichts als das Heulen des Sturms.

Auf der anderen Seite der Mauer ging Sten einige Meter jenseits des Wachhäuschens auf Alarmstufe Rot. Er riß die Verschlüsse des Mantels auf; der Mantel fiel in den Matsch; Stens Hand zog die stupsnasige Willygun aus dem Koppel, und sein Daumen schob den Wahlschalter weg von SAFE über FEUER, EINZEL auf AUTO; die andere Hand zog den Kolben ganz heraus. Er klemmte ihn unter den Arm und kniete sich mit einem Bein in den Schleim, wobei seine Augen ruhelos nach Zielen suchten.

Vielleicht hatte er etwas gesehen. Vielleicht war da eine winzige Reflexion etwas oberhalb des Marines, ein glänzender Draht, oder vielleicht war dort auch nichts.

Kilgour durchzuckte höchster Alarm, sein Bewußtsein erteilte Befehle an seine Reflexe. >Nein, nein, nicht hinschmeißen und dich flachmachen, Körper. Du befindest dich in der Todeszone.

Du hast ein paar Sekunden, mein Junge. Mehr Zeit als nötig.<

Der Kontakt hatte nicht geantwortet, weil der Kontakt sehr tot war. In Kilgours und Stens Schattenwelt war es fast normal, wenn man erfahren mußte, daß die Gegenspieler deinen Agenten geschnappt haben und man ihn irgendwo mit einem zusätzlichen Grinsen auffand. Und jemanden mit einer Drahtschlinge an einem Laternenmast aufzuhängen war auch nicht gerade eine der ungewöhnlichsten Hinrichtungsarten.

Aber wenn die Leiche zurechtgemacht war, um auf dich am vereinbarten Treffpunkt zu warten ...

Hinterhalt.

Alex riß eine Granate aus der Tasche, drückte den Auslöser mit dem Daumen ein und schleuderte die winzige Bombe seitlich über den eigenen Kopf von sich; im selben Augenblick setzte er sich in Bewegung, machte drei lange Sätze und sprang kopfüber nach vorne, flog ein paar Meter und knallte dann auf das regennasse Pflaster, auf dessen schmierigem Film er noch einige Meter weiterrutschte. >Ich muß einfach mehr trainieren<, dachte er. >Morgen habe ich garantiert die ganze Quetschkommode zerschrammt.

Falls es noch ein Morgen gibt<, fügte er hinzu, als rings um das Wachhäuschen Geschosse in den Dreck klatschten.

>Ein Dreiecks erkannte Sten sofort. >Sie haben uns von drei Seiten. Das ist ein dickes Ding<... und schon zog er den Abzug zurück und schoß einen potentiellen Attentäter in zwei Hälften.

Cind hatte eine Mikrosekunde auf die Stelle gestarrt, an der Kilgour soeben noch gewesen war.

Dann traf Kilgours mit Schwerweltmuskeln in die Höhe katapultierte Granate sechzig Meter über und einige Meter vor ihr die Ziegelwand - und detonierte.

Die Front des Gebäudes stürzte ein, Steine donnerten auf den zweiten Mörder herab, gerade als Cinds AM2-Salve die Kaskade von Alex' Selbstverteidigung in ein ordentliches Begräbnis verwandelte.

Der dritte im Bunde zog gerade den Abzug zu seinem zweiten Schuß durch, als Kilgour ihn ins Visier bekam und einen Schuß auf ihn abgab. Der Schuß schlug hinter dem dritten Mann wie eine Peitsche ein; Kilgours Bewußtsein murmelte etwas von verdammten Pistolen und ihren geringen Reichweiten, und seine linke Hand umschloß den Griff der Pistole, um sie zu stabilisieren, zwei Schuß lösten sich kurz hintereinander, und dann war auch der dritte Mann tot.

Das Team bewegte sich weiter - Sten nach oben auf die Ufermauer zu, Kilgour rollte sich wie ein Strandball quer über die Straße auf einen Haufen Schutt zu, und Cind kauerte sich zunächst in einen Hauseingang, dann in einen anderen. Kilgour stieß die Pistole in ihr Holster zurück und stellte seine Willygun auf Feuer.

Der Donner des letzten Blitzes krachte um sie herum, und Sten bemerkte, daß er unbewußt mitgezählt hatte: Der Blitzschlag war nur zwei Kilometer entfernt, und etwas mehr als sechs Sekunden waren vergangen, seit er erkannt hatte, daß es sich bei dem Schatten um einen Mann handelte.

Ein

Hinterhalt. Warum? Nur um Kilgour zu zeigen, daß eine andere Geheimtruppe ihn beobachtete? Eine melodramatische Art, das zu verkünden. Dieser Kontakt, selbst wenn1 es sich wirklich um einen echten Schmuggler gehandelt hatte, hatte ihnen zumindest nichts verraten. Das deutete nicht unbedingt auf eine professionelle Organisation hin. Profis gingen nie aufeinander los. Das war nicht mehr nötig, sobald man das Leck oder das potentielle Leck abgedichtet hatte.

Was auch immer, sie konnten das Wer, Was und Warum später ausführlich analysieren. Jetzt war es höchste Zeit, sich davonzumachen. Die Füße in die Hand zu nehmen. Sten machte sich keine Sorgen darum, daß vielleicht Jochi-Polizisten auftauchen könnten; er zweifelte stark daran, daß sie es mit ihrer eigentlichen Polizeiarbeit ernst nahmen, und er wußte verdammt genau, daß sie in einer Gegend wie dieser hier höchstens mit einer ganzen Kompanie patrouillieren würden.

Doch es wäre peinlich genug für den Imperialen Botschafter, bei einer derartig vulgären Auseinandersetzung ertappt zu werden.

Sten rannte los und übernahm instinktiv das Kommando, auch wenn der Einsatz bislang unter Kilgours Führung gelaufen war.

Sein Bewußtsein hatte Zeit, das Klang zu absorbieren, seine Augen hatten Zeit, das Aufblitzen hinter und über ihnen auf dieser Brücke zu sehen, und schon grub sich die Granate schmatzend in den Flußschlamm; Dreck spritzte auf, doch der Schmadder dämpfte die tödlichen Splitter.

Dann eröffneten die automatischen Waffen das Feuer.

Direkt hinter ihm fauchten Hochgeschwindigkeits-Projektile in den Dreck, und Sten wälzte sich wieder über die Mauer, rollte hinüber und landete auf einer Schulter; dann sah er das Mündungsfeuer aus dem Fenster im dritten Stock des Hauses schräg gegenüber. Er riß die Willygun hoch, fluchte über den kurzen Lauf, die miese Treffsicherheit, hatte keine Zeit, genau zu zielen, sondern schickte eine lange Salve genau in das Mündungsfeuer hinein, doch die Waffe feuerte trotzdem weiter, eine tote Hand am Abzug, bis der Schütze zu Boden ging und das Gewehr mitriß; der Rest des Magazins entleerte sich in den Himmel. Zwei weitere Gewehre ratterten unablässig weiter.

Sten war plötzlich dicht neben Kilgour und versuchte wie jener, sich ganz innig mit diesem wunderbar schützenden Trümmerhaufen zu vermählen, einem Haufen, der immer kleiner wurde, nachdem der Granatschütze sein Ziel korrigiert hatte und eine zweite Packung auf dem Pflaster detonierte.

»Die Saukerle meinen's ernst, Boß.«

Die Aussage traf ins Schwarze, denn diese Aktion ging weit über das hinaus, was man gemeinhin unter Ausschaltung eines problematischen Geheimdienstspezialisten verstand. Nachdem der erste Angriff fehlgeschlagen war, hätte man sich sofort aus den Verstecken zurückziehen müssen. Wer auch immer diese Wesen waren, sie zogen einen beinharten militärischen Hinterhalt durch; sie hatten es auf Imperiale Beute abgesehen, koste es, was es wolle.

>Die Armee<, überlegte Sten. Nein. Die war noch nicht im Spiel - zumindest glaubte er das. Jedenfalls momentan noch.

Wo zum Henker war Cind? Seine Frage wurde dadurch beantwortet, daß eine Granate ein seit langem vernageltes Fenster aufriß und Cind gellte: »Ich halte euch den Rücken frei! Los!«

Sten schlug Alex auf den Hintern, und Kilgour war schon auf den Beinen, warf sich nach vorne und hechtete in den verlassenen Laden. Sten schickte eine Salve in die ungefähre Richtung des Todes; dann übernahmen seine

Infanteristenmuskeln, und er rannte los, erreichte die Deckung, während Alex ihm Feuerschutz gab, und kauerte sich sofort hinter dem Fenster in eine Ecke. Cind kam durch die Öffnung wie ein Erdmarder, der durch den Schnee hüpft, begleitet von einer prasselnden Salve.

Ihre derzeitige Deckung würde sich schon bald als Todesfalle erweisen, das erkannte Sten sofort. Zumindest mußten sie sich keine Sorgen darum machen, daß ihnen die Munition ausging. Jedenfalls einen ganzen Tag lang nicht, denn das Magazin jeder Willygun enthielt 1400 ummantelte Einmillimeter-Geschosse AM2.

Wieder korrigierte der Granatwerferschütze sein Ziel, und eine weitere Bombe rauschte mit einem Klank aus dem Rohr und flog in einem perfekten Bogen auf sie zu; Sten schmiegte sich so dicht an den Boden, wie es schon so viele Ratten vor ihm getan hatten.

Der Schütze hatte die Entfernung zu weit berechnet; die Granate detonierte weit über ihnen an der Fassade des Gebäudes. Eine Backsteinlawine regnete herab, genau wie nach Kilgours Granate.

»Beim Barte meiner Mutter«, sagte Cind unwillkürlich,

»aber das ist die erste positive Sache, seit die Party hier losging.«

Sie hatte recht: Die Gegenseite hatte ihnen soeben zu einer standesgemäßen Brustwehr verhelfen. Doch Sten gluckste vor Lachen. »Was hat deine Mutter?«

»Halt die Klappe«, erwiderte Cind. »Da siehst du mal, was passieren kann, wenn man von zu Hause wegläuft und von Bhor aufgezogen wird.«

»Apropos Bhor«, meinte Kilgour. »Ich hätte nichts dagegen, wenn ein paar dieser Gorillas demnächst hier auftauchen würden, was?«

»Ja. Genau. Du wünschst dir ein paar Bhor, ich wünsche mir einen Hinterausgang. Was ist deiner Meinung nach wahrscheinlicher?« fragte Sten.

Sie standen auf und schoben sich vorsichtig in den hinteren Teil des Gebäudes, von dem in der Finsternis kaum etwas zu sehen war. Sie stolperten über umgestürzte Mülltonnen.

»Habt ihr eine Ahnung, wem hier unsere Frisuren nicht genehm sind?« fragte Cind. Keiner der Männer konnte mit einer Antwort dienen. So wie man in diesem Cluster dacht«, konnte es fast jeder sein.

Sten fand die Hintertür im letzten Raum des Ladens. Sie war mit einem Kreuz aus zwei schweren Balken vernagelt. >Kein Problems dachte Sten, >mit Kilgours erprobtem Grunz-und Stöhn-Talent.<

Ungefähr eine Sekunde später nahmen die Feinde auch die Hintertür unter Beschüß. Eine Granate explodierte direkt vor ihr und durchsiebte den Verschlag. Sten sah durch die Detonationslöcher draußen Bewegung, schickte eine Salve hinaus und eine Bester-Granate hinterher. Schreie ertönten, die sofort verstummten, nachdem die Granate hochgegangen war.

Eine Bester-Granate schaltete für jeden, der sich in ihrem Wirkungskreis aufhielt, die Zeit aus; nach ungefähr zwei Stunden tiefster Bewußtlosigkeit hatte das Opfer noch nicht einmal einen Schimmer davon, daß mehr als nur eine einzige Sekunde vergangen war.

»Du bist zu gnädig, Skipper.«

»Von wegen«, knurrte Sten. »Ich habe die falsche Granate erwischt. Seit du uns in diesen Schlamassel geritten hast, geht ja sowieso alles drunter und drüber.«

»Ach«, meinte Kilgour, »es gibt Tage - und Nächte -, da will der Zauber einfach nicht wirken.«

Er packte einen der Balken mit einer Hand und zog daran.

Die schwere Planke gab nach, und der Rest der Tür gleich mit.

»Den Rest des Gebäudes kannst du ruhig stehen lassen«, sagte Sten.

Die drei schoben sich durch den Spalt hinaus. Sten warf einen Blick auf die vier Männer, die nicht weit von der Tür auf dem Boden lagen. Es waren Menschen - also Tork oder Jochianer. Douws Fraktion? Oder womöglich diese andere Gruppe Jochianer, von deren Zielen und Anführern Sten erst noch hören sollte?

Ungenügende Daten. Alle vier trugen Uniformen ohne Abzeichen.

»Dann laßt uns die Sache beenden. Es wird weder sportlicher noch spaßiger, und es sind noch jede Menge Schurken übrig.«

Sten übernahm die Führung, und schon rannten sie im Laufschritt die schmale Straße hinab, wobei sie sich so schnell wie möglich fortbewegten, ohne dabei auch nur das geringste Geräusch zu verursachen.

Ihr Glück verließ sie in zwei unterschiedlichen Katastrophen. Der Sturm hörte jäh auf, beinahe so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Schlimmer noch: Der Himmel klarte auf, und zwei von Jochis Monden sorgten für viel zuviel Helligkeit.

»Haben die Bhor einen Wettergott, Cind?« erkundigte sich Sten.

»Schind. Er befehligt die Eisstürme.«

»Mist!«

Dann traf sie ihr zweites Desaster. Der Kegel eines Suchscheinwerfers spießte sie wie Insekten auf. Sten stellte sich sie drei vor dem Hintergrund eines alten Fotonegativs vor, dann ratterten ihre Waffen gleichzeitig los, das Licht zerbarst, zischte und verlosch, und sie fanden sich flach auf dem Bauch hinter dem ausgeweideten, ausgebrannten und verlassenen Wrack eines A-Grav-Gleiters wieder.

»Ich hab' ihn gesehen«, ertönte ein überraschter Ruf. »Den Kleinen. Das is' der Imperiale, den wir in der Glotze gesehen haben!«

Sten fluchte. Das würde ihn einige Erklärungen kosten.

Zunächst diesen Möchtegern-Machtgierhälsen auf Jochi gegenüber. Sten dachte auch daran, daß sein Ewiger Imperator von dem Zwischenfall hören könnte und ihm einige Fragen darüber stellen würde, was sein Bevollmächtigter Botschafter bei einem völlig unnötigen Agentenstückchen zu suchen hatte.

Nun denn, zumindest würden sie jetzt nicht umgebracht.

Und vielleicht fiel ihm ja etwas ein, um der Geißelung durch den Imperator zu entkommen.

Dann: »Den verdammten Botschafter?«

»Genau den.«

»Leg den Sack um! Sofort!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wer hier soviel Mut im Bauch hat, den Gesandten des Imperators umzulegen«, sagte Alex, »aber diesen Schurken können wir uns später vorknöpfen. Zurück. Auf dem gleichen Weg.«

Eine kleine Infanterierakete explodierte in der Wand über ihnen und verbaute ihnen damit auch diesen Weg.

»Wir sitzen in der Klemme«, verkündete Cind. »Kann einer von euch fliegen?«

»Hör auf zu scherzen. Ich kann jetzt nicht mal mehr kichern, geschweige denn fliegen.«

Sie saßen eindeutig und ziemlich tief in der Falle.

Geschoß-Salven nagten an dem A-Grav-Gleiter über ihnen.

»Wie kommt es nur«, fragte Sten in die Runde, »daß in den Livies, wenn sich der Held hinter einen blöden A-Grav-Gleiter duckt, die Kugeln immer jaulend abprallen, wohingegen sie in Wirklichkeit einfach durchsausen?«

Niemand erklärte es ihm.

Das Feuer wurde abrupt eingestellt. Sie hörten, wie sich schlurfende Schritte näherten. Cind hob ihre Pistole. Sten schüttelte den Kopf, und sie sah, wie die Kukriklinge im Mondlicht aufblitzte.

Cinds Kampfmesser glitt aus der Scheide.

Es waren vier Angreifer.

Nummer Eins sah nichts - Cinds Messer war stumpfschwarz eloxiert, und es gab nicht die geringste Reflexion, bevor sich die Klinge durch seinen Brustkorb mitten ins Herz bohrte; der Schwung des Mannes trug ihn noch ein paar Schritte weiter, bevor er zusammenbrach.

Nummer Zwei hörte nichts, als die beiden Fäßchen, die Kilgour Fäuste nannte, von links und rechts gegen seinen Kopf donnerten und sein Schädel wie eine Eierschale zerplatzte.

Nummer Drei nahm noch einen winzigen Augenblick etwas wahr, bevor ihn das Kurzschwert der Gurkhas spaltete, ihm das Schulterblatt durchtrennte, einige Rippen zerschnitt und sich in seinem Bauch festbiß.

Nummer Vier hatte zuviel Zeit. Er hatte Zeit genug, sein Gewehr zur Seite zu reißen, in Sten hinein, was ihn nach hinten taumeln ließ, wobei seine Hand vom blutverschmierten Griff des Kukri rutschte, und dann zielte der Gewehrlauf auf ihn.

Sten ließ sich in den Kniegelenken einknicken, die Finger der rechten Hand krümmten sich, und der todbringende Splitter glitt aus seiner Unterarmscheide.

Er stieß sich mit der linken Hand ab und schlug beinahe blindlings mit der Klinge zu - bei einer Messerstecherei sollte man alles tun, nur nicht nachdenken.

Zuviel Zeit... und Nummer Vier sah, wie sein Gewehrlauf in der Mitte zerschnitten wurde.

Zuviel Zeit... und Sten kam wieder hoch, seine Klinge fuhr nieder, stieß blitzend in Nummer Viers Solar Plexus, schlitzte den Mann wie einen Fisch auf; Eingeweide quollen hervor.

Sten wischte sein Messer in einem Reflex am Overall des Leichnams ab und schob es in seinen Arm zurück.

Er zog den Kukri aus dem Körper von Nummer Drei, wobei er vermied, sich den Mann, den er so säuberlich ausgenommen hatte, genauer anzusehen. >Wieder einer, Sten. Der nächste auf einer langen Liste.<

Cind und Alex warteten auf Befehle.

Sten zog seine Pistole und klopfte kurz auf den Kolben. Die beiden anderen nickten. Es dauerte zehn Minuten, bis die'

Feinde begriffen, daß die vier, die sie losgeschickt hatten, nicht mehr zurückkehrten, obwohl weder Schüsse noch Schreie zu hören gewesen waren.

Als nächstes schickten sie sieben Mann los.

Sten ließ sie bis auf vier Meter an den Gleiter herankommen, bevor er den anderen das Zeichen gab. Die Maschinenpistolen blitzten auf, und sieben zerfetzte Leichen lagen auf dem Pflaster.

Die dritte Welle kam weniger als zwei Minuten später.

Granaten leiteten den Vormarsch ein, überall an den Mauern in der schmalen Straße erfolgten ihre Detonationen.

»Unter Fair Play verstehe ich etwas anderes«, maulte Alex.

»Ich habe nicht vor, mich von denen erwischen zu lassen«, sagte Cind.

»Ich auch nicht«, meinte Sten. »Aber Selbstmord ist auch keine Lösung.«

»Wir warten ab, alter Junge. Vielleicht fällt uns ja noch was anderes ein«, erwiderte Alex.

Sten überlegte ... und noch während er damit beschäftigt war, grollte der Donner wieder, und auch der Sturm setzte erneut mit voller Wucht ein. Er fluchte. Fünf Minuten früher, und ...

>Na gut<, dachte er. >Benutze das, was dir zur Verfügung steht. Bring noch mehr Verwirrung ins Spiel.<

»Kilgour. Kannst du eine Granate zwischen sie werfen?«

Alex peilte die Lage. »Ziemlich dicht ran.«

»Wenn sie hochgeht, machen wir uns auf den Weg.

Fünfzehn Meter, hinwerfen, noch eine Granate, und dann gehen wir auf sie los.«

Cind und Alex sahen ihn an. Auf keinem der Gesichter ließ sich etwas ablesen.

»Dabei ist niemand hier, um unsere Seelen zur Hölle zu trinken«, seufzte Cind, hakte eine Granate von ihrer Kampfweste los und ging in die Hocke.

»Ach was, das geht schon klar«, meinte Alex beruhigend.

»Wenigstens sterben wir nicht im Bett.«

Er legte seine Willygun zur Seite, machte eine Granate fertig und richtete sich halb auf; die klassische Wurfposition.

Jetzt ein toller Wurfs dachte er, drückte auf den Knopf und schleuderte das Ding weg.

Die Granate prallte auf, sprang noch ein Stück über das Pflaster und explodierte knapp einen Meter vor der feindlichen Position; schon waren die drei aufgesprungen, gerade als ein Blitz die Tore der Hölle für sie aufriß und der Donner wie Pauken dröhnte. Cind stieß einen Kriegsschrei der Bhor aus; sie griffen an, drei gegen - gegen wie viele, das wußten sie selbst nicht.

Sten brüllte, gleichermaßen aus Bluff und vor Zorn: »Ayo ...

Gurkhali!« Ein Kampfschrei, der sich so gut wie jeder andere zum Sterben eignete.

Der Schrei brach sich an den Ziegelmauern.

Und die Gurkhas hörten ihn.

Und griffen sofort an.

Eine braune Welle ergoß sich aus der Nacht, Gewehre blitzten auf, dann waren sie über dem Feind, der sich bei dieser unvermuteten Attacke von hinten verdutzt umdrehte, doch da hatten die Gurkhas ihre Feuerwaffen bereits gegen die Kukris ausgetauscht.

Zwei Geschützmannschaften der Gurkhas rannten an Sten und den anderen vorüber, jede mit einem leichten Maschinengewehr ausgerüstet. Sie bewegten sich so, wie sie es gelernt hatten, suchten sich eine Deckung und ließen ihr Feuer sofort durch die Gasse brüllen, um das andere Ende dichtzumachen. .

Als Sten erkannte, daß er am Leben bleiben würde - oder zumindest diese stinkende Gasse verlassen würde -, konnte keiner seiner Angreifer mehr das gleiche von sich behaupten.

Der Regen auf seinem Gesicht fühlte sich herrlich an. Er preßte Cinds Schultern an sich, und die waren das Tröstlichste, das er sich vorstellen konnte, Alex' Grinsen der freundlichste Ausdruck, den er jemals gesehen hatte.

In der ehemaligen Stellung des Feindes glommen tragbare Fackeln auf. Die drei stolperten darauf zu.

Mahkhajiri Gurung erwartete sie bereits. »Sie waren wirklich nicht leicht zu finden, Sir. Außerdem fanden wir dieses Viertel ziemlich verwirrend. Sie hätten uns früher rufen sollen. Und wenn Sie das nächste Mal alleine ausgehen nehmen sie doch bitte einen Locator mit.«

»Woher wußten Sie überhaupt, daß ich die Botschaft verlassen habe?«

Mahkhajiri zuckte die Achseln. »Wir haben den Geheimgang kurz nach Mr. Kilgour entdeckt.

Wir sind aber nicht so gut wie Mr. Kilgour, der noch im Tiefschlaf spürt, wenn sich ein Mörder durch diesen Gang heranschleicht. Wir Gurkhas brauchen alle Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen.«

Sten, Cind und Alex blickten einander an.

»Na schön«, sagte Sten schließlich. »Dann sind Sie ja wohl ausreichend informiert. Jetzt würde ich nur noch gerne wissen, wo die Bhor eigentlich sind.«

»Oben auf der Brücke. Und draußen auf der Uferanlage.

Dort trieben sich viele Gestalten mit Gewehren herum, um die wir uns dringend kümmern mußten.

Die Bhor wollten sich unbedingt die Ehre geben. Da sie im Bereich der internationalen Diplomatie wesentlich beschlagener sind, hatten wir nichts dagegen.«

Das bedeutete, daß es dort draußen auch keine Gefangenen gab.

»Ich möchte jetzt einen A-Grav-Gleiter, zurück zur Botschaft und mich betrinken«, sagte Sten.

»Wartet bereits«, erwiderte Mahkhajiri Gurung. »Vorne auf der Straße.«

Als sie auf das Ende der Seitenstraße zugingen, zog Kilgour Sten mit einem Kopfnicken zur Seite. »Alter Knabe, das war eindeutig knapper, als mir lieb ist. Haben wir mittlerweile nicht schon genug Krieg gespielt?«

»Allerdings.«

»Weißt du, was ich am interessantesten an diesem Abend fand?«

Sten wußte es. Jemand hatte wissentlich versucht, den Bevollmächtigten Botschafter des Ewigen Imperators umzubringen. Nicht im Kampfgetümmel, sondern auf einen direkten Befehl hin.

Jedes Wesen, das mit einem Minimum an Verstand ausgestattet war, mußte wissen, daß solch ein Mord eine sofortige und unerbittliche Reaktion von Seiten des Imperators hervorrufen würde.

Sten wurde klar, daß es hier auf Jochi Leute gab, zumindest einzelne Fraktionen, gegen die sich all die Irren, mit denen er es bislang zu tun gehabt hatte, wie gesunde, friedliche Lebewesen ausnahmen.

Die Frage lautete also: Wem gehörte diese Pseudoarmee?

Granatwerfer... schwere Maschinengewehre... Männer, die wie ausgebildete, zumindest halbausgebildete Soldaten angriffen?

Sie mußten zu jemandem gehören.

Sten blieb nichts anderes übrig, als das wütende Geheul abzuwarten. Er war bereits auf die Geschichte gespannt, die sich jemand zum blutigen Tod zweier Kompanien von Banditen ausdenken würde.

Doch während der nächsten Tage wurde der Zwischenfall kein einziges Mal erwähnt.

Von niemandem.

Nicht einmal von Ruriks Polizei.