Kapitel 3

Sten trat in den Bereich des Sicherheitsgitters. Bei dem Signal des Offiziers der Internen Sicherheit hielt er seine Handfläche in den Identifizierungsstrahl. Das Gitter erwachte summend zum Leben, und Sten wurde in einen farbigen Schein getaucht. Irgendwo tief unten im Bauch von Arundel wurde ein ganzes Bündel Fakten zusammengesucht: Sten wurde von dem am höchsten entwickelten Schnüffelsystem des Imperiums abgeklopft.

Auf der ersten Stufe ging es um die ID. Sobald Stens Handflächenabdruck überprüft und gegengeprüft war, wurde seine Bio auf eventuelle potentielle Feindseligkeiten gegenüber dem Imperator durchforstet. Diese Information wurde ein drittes Mal mit den letzten Einträgen des Mercury Corps gegengecheckt, die bis auf die letzten vierundzwanzig Stunden aktuell auf dem laufenden waren.

Die zweite Stufe war organisch. Sein gesamter Organismus wurde auf jede mögliche bakterielle oder virologische Bedrohung für seinen Boß untersucht. Schon seit langer Zeit war es möglich, eine Bombe aus lebenden Bazillen zu basteln.

Die letzte Stufe kümmerte sich um Waffen, angefangen von der üblichen versteckten Kanone oder Klinge bis hin zu nicht ganz so augenscheinlichen implantierten Sprengstoffen. Oder, in Stens Fall, dem Messer im Arm. Er wußte, daß seine Befugnis, eine solche Waffe in der Gegenwart des Imperators zu tragen, jeden Alarm aushebelte, auch wenn die Scanner sie entdeckten.

Sten erhielt seine Erlaubnis, stieg vom Gitter herunter und ging den Korridor in Richtung der Privatgemächer des Ewigen Imperators hinab. Er fühlte sich angesichts der bevorstehenden Zusammenkunft mit seinem Boß ein wenig nervös. Es war schon sehr lange her, seit sie sich zum letzten Mal unter vier Augen unterhalten hatten. Es mußte etwas sehr Ungewöhnliches anliegen.

Aber nicht darüber machte er sich Sorgen. Es waren vielmehr die knallharten Sicherheitsvorkehrungen, die ihn nervös machten - ein seltsamer Gedanke für einen Mann, der einst Chef der persönlichen Leibwache des Imperators gewesen war. Damals hatte er jede Lücke im System rigoros bemängelt, sich um die Neigung des Imperators gesorgt, sich hin und wieder in die Menge zu mischen oder zu einem privaten Abenteuer aus der Hintertür zu schlüpfen.

Sten konnte es dem Ewigen Imperator nicht verdenken, wenn er nach dem, was geschehen war, die Zügel straffer anzog. Doch jetzt, nachdem er selbst jede Menge Erfahrung als Mann der Öffentlichkeit hatte machen dürfen, wußte Sten auch, daß es für jedes machtausübende Wesen gefährlich war, eine Bunkermentalität zu entwickeln. Zugegeben: je enger die Abschirmung, desto schwerer die Aufgabe für die Schurken.

Aber es konnte die Sache auch für die Kerle mit den weißen Hüten schwerer machen.

Und was das Personal der Inneren Sicherheit anging, das Sten bislang zu Gesicht bekommen hatte, so löste es bei ihm eine gehörige Gänsehaut aus. Er konnte selbst nicht genau sagen, warum. Je näher er an den Imperator herankam, desto mehr ging ihm das IS-Personal auf die Nerven. Sie waren alle so ... irgendwie vertraut.

Als er den hochgewachsenen blonden jungen Mann an der Tür erblickte, kam Sten die Erleuchtung. Dieser Kerl war ein Zwilling des Imperators - ebenso wie alle anderen Männer, denen er seit dem Betreten der privaten Gemächer des Imperators begegnet war! Der grundsätzliche körperliche Unterschied bestand darin, daß sie größer waren.

Er mußte widerstrebend zugeben, daß diese Vorkehrung nicht ungerechtfertigt war. Jeder einzelne der IS-Wachen glich dem

Imperator genug, um das Feuer eines Attentäters auf sich zu lenken. Und als Gruppe bildeten sie um ihn herum einen lebenden Schild.

Als Sten näher kam, knallte der IS-Offizier die Hacken zusammen. »Sie werden erwartet, Botschafter Sten«, sagte er in ruhigem Ton, der in eigenartigem Kontrast zu seinem versteinerten Gesicht stand. Er musterte Sten mit skeptischen Blicken. Sten war ein wenig verletzt, als er sah, daß sich das Mißtrauen in Selbstgefälligkeit verwandelte. Der Blödmann dachte wohl, er könnte es leicht mit Sten aufnehmen.

»Sie können gleich hinein«, sagte der IS-Offizier.

Stens Muskeln spannten sich; er wußte noch genau, wie man diese Einschätzungsspielchen spielte. Die Augen des Mannes verengten sich. Auch er wußte genau, was hier vor sich ging.

Sten lachte. »Vielen Dank«, war alles, was er sagte. Die Tür zischte zur Seite, und er trat ein. Er sah den überraschten Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes, dem bewußt wurde, daß er als eine Nummer zu klein befunden worden war. Sten konnte es mit Leichtigkeit mit ihm aufnehmen. Klar, er war etwas langsamer geworden. Außer Übung. Aber so ein Kerl würde überhaupt kein Problem für ihn darstellen.

Der Stregg traf auf den Black Velvet, wollte zunächst Ärger machen, wurde dann jedoch von der umfassenden Sanftheit geradezu verführt. Sten spürte, wie sich ein wohltuendes Glühen in seinem Magen ausbreitete.

Der Ewige Imperator strahlte ihn entwaffnend an und füllte dann die Schnapsgläser erneut mit dem feurigen Trank, den die Bhor nach ihrem früheren Erzfeind genannt hatten. »Wie unser alter irischer Freund Ian Mahoney sagt: >Noch einen, damit unser gütiger Herr weiß, daß wir es ernst meinen.<« Der Imperator kippte sein zweites Glas.

Sten folgte seinem Beispiel. Wenn der Boß die Sitzung alkoholisieren wollte, dann mußte er sich wohl oder übel anschließen - mit viel Gefühl. Außerdem hatte der Ewige Imperator recht gehabt. Wie gewöhnlich. Sten brauchte wirklich einen kräftigen Schluck.

»Mal sehen, was aus dem Essen geworden ist, das ich dir versprochen habe«, sagte der Imperator. »Bis zu anderslautenden Befehlen, Herr Botschafter, unterliegt es Ihrer Verantwortung, die Gläser gefüllt zu halten.«

Dann fing er an, in diesem Wunder aus Low-Tech-Qualität in Vermählung mit High-Tech-Geschwindigkeit

herumzuwerkeln, das er seine Küche nannte.

»Ein schwieriges Amt, Sir«, sagte Sten, »aber ich werde mein Allerbestes geben.« Er lachte, füllte die Gläser nach, trug sie zum Eßplatz hinüber und nahm seine übliche Position auf einem der hohen Küchenhocker ein.

Dort reckte er die Nase anerkennend witternd in die Luft.

Eine Mischung aus dunkel vertrauten Gerüchen, aber mit einem verführerischen Geheimnis. Der Ewige Imperator hätte einem Meisterkoch Unterricht erteilen können. Sogar Marr und Senn, die beiden hervorragendsten Genießer des Imperiums, gaben das widerwillig zu.

Am liebsten spürte der Imperator uralten Rezepten von der Erde nach. >Obwohl diese Rezepte aus der Perspektive des Imperators nicht ganz so alt sind<, dachte Sten. Schließlich regierte er schon seit dreitausend Jahren.

Sten schnüffelte noch einmal. »Asiatisch?« vermutete er. Er war selbst kein schlechter Koch, denn er hatte dieses Hobby vielleicht von seinem Boß inspiriert - während endlos langer Stunden auf langweiligen Militärposten entwickelt, auf denen das Essen sogar noch dröger als die Gesellschaft war.

»Das denkst du nur, weil es so komplex ist«, sagte der Imperator. »Es sind auch tatsächlich einige Einflüsse dabei, glaube ich. Aber umgekehrt. Die Chinesen waren zwar die besten Köche, aber diese Leute haben ihnen erst gezeigt, wo es langgeht. So mancher behauptet sogar, sie seien noch besser als die Chinesen gewesen. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig.«

Er drückte auf eine Stelle an der Kante der Arbeitsplatte.

Ein Kühlfach glitt heraus, in dem sich eine ganze Ansammlung von Tiegeln und Töpfen mit herrlichem Inhalt verbarg. Er stellte alles nebeneinander auf die Arbeitsplatte.

»Das Thema des heutigen Abends ist Indien«, sagte der Ewige Imperator. »Hat gewissermaßen etwas mit dem Auftrag zu tun, den ich mir für dich ausgedacht habe.« Er lächelte. Sten hatte seinen Boß schon öfter gutgelaunt erlebt, aber noch nie so aufgekratzt. Auch das noch! Schon wieder ein unmöglicher Auftrag. Sten war nur leicht beunruhigt. Schon verlockten ihn die noch ungenannten Probleme. Aber er durfte nicht so schnell klein beigeben.

»Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Sir«, sagte Sten und nahm einen Schluck Stregg, »aber ich hatte mich eigentlich auf einen kleinen Urlaub eingestellt.« Das kurze irritierte Zucken im Gesicht seines Bosses entging ihm nicht. Gut.

»Treibe es nicht zu weit«, fuhr ihn der Ewige Imperator an.

Sten war sofort alarmiert, als er sah, wie schnell die Irritation sich in Zorn verwandelte. »Ich habe den Kanal gestrichen voll von negativen Reaktionen. Kapiert ihr das denn nicht? Ich halte dieses ganze Ding mit Geduld und Spucke zusammen ...« Die Stimme des Imperators verebbte.

Sten konnte beobachten, wie er seinen Zorn niederkämpfte.

Es war ein deutlicher Kampf. Der Imperator schüttelte den Kopf und grinste Sten unsicher an.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe viel Druck momentan, der Job und so. Manchmal vergesse ich sogar, wer meine alten Freunde sind. Meine echten Freunde.« Er prostete Sten zu und trank von seinem Stregg.

»Es war mein Fehler, Sir«, sagte Sten. Sein Instinkt sagte ihm, daß es wichtig war, die Schuld auf sich zu nehmen. »Der Geruch dieser leckeren Sachen hat wohl seine Wirkung auf meine faule Seite nicht verfehlt.«

Das gefiel dem Imperator. Er nickte knapp, aber bestimmt und machte sich wieder an die Arbeit - und an das abgebrochene Thema.

»Was mir zur Zeit am meisten Kopfzerbrechen bereitet«, sagte der Imperator, »erinnert ein wenig an den Ort, von dem dieses Essen stammt. Innerhalb der Grenzen Indiens gab es mehr Leute mit unterschiedlichen Auffassungen als irgendwo sonst auf der Erde. Es war ein einziges Durcheinander von verfeindeten Gruppierungen, die einander schon so lange gegenseitig an die Kehle gingen, daß sie vergessen hatten, warum sie sich eigentlich so haßten. Nein, das nehme ich zurück. Eigentlich erinnerten sie sich nur zu genau daran.

Ein Hindu oder Sikh konnte einem genau den Tag und die Farbe des Himmels an diesem Tag benennen, an dem der Ururgroßvater des anderen Kerls seine Greueltat verübt hatte.«

Er schob eine Schüssel herüber, die mit einer grünlich aussehenden Masse gefüllt war. »Das ist Dhal«, sagte der Imperator. »Eine Art Bohnen-oder, wie in diesem Fall, Erbsengericht. Es ist absichtlich fade. Um dem Rest eine gewisse Balance zu geben. Putzt nach jedem Biß oder so den Gaumen. Ich habe es schon gestern vorbereitet. Wir müssen es nur aufwärmen.«

»Was dieses Problemkind angeht...«, hakte Sten nach.

»Genau.« Der Imperator kippte seinen Stregg. »Ich hätte auch ein anderes Beispiel als Indien nehmen können. Aber das Essen dort bestand hauptsächlich aus Kartoffeln - und Schweinen, wenn sie welche hatten. Jedenfalls stellten sie eine Wahnsinnswurst her. In Mehl paniert und dann gebraten. Aber es kam einem nicht wie Wurst vor.«

Sten roch die Zutaten, die der Imperator in einer bestimmten Reihenfolge hinzufügte. »Indien ist doch hervorragend, Sir«, sagte er.

»Bei dem Ort, an den ich dich schicken will, handelt es sich um den Altai-Cluster«, brummte der Imperator.

Sten runzelte die Stirn. Er war nur so ungefähr auf dem laufenden, was diesen Cluster betraf. »Die Jochianer, unter anderem, stimmt's, Sir? Aber ich dachte immer, sie gehören zu den treuesten Verbündeten, die wir an Bord haben.«

»Das ist richtig«, erwiderte der Imperator nachdrücklich.

»Und ich möchte, daß das so bleibt. Das Problem besteht jedoch darin, daß der Khaqan - so nennt sich der Bursche, der die Bude dort leitet - bis zum Arsch im Alligatorenteich steht.«

Der Imperator hielt einen Haufen in Würfel geschnittenes Fleisch hoch.

>Ungefähr zwei Pfunds schätzte Sten.

»Das hier ist Ziege«, sagte der Imperator. »Ich habe für sie und ihre Brüder und Schwestern ein Gehege bauen lassen und auf dem Feld das gleiche Zeug angebaut, das ihre Vorfahren damals in Indien zu fressen gekriegt haben - Minze, wilde Zwiebeln, was auch immer.« Er schob die Masse in eine backofentaugliche Kasserolle.

»Der Khaqan wird allmählich alt und ein wenig daneben«, fuhr der Imperator fort. Dieses Hin-und Herspringen zwischen den Themen war typisch für ihn. Mit den Jahren hatte Sten jedoch festgestellt, daß er überhaupt nicht sprang; jedes Thema hatte unmittelbar mit dem anderen zu tun.

»Wie auch immer«, sagte der Imperator, »er hat sich seinen Ärger größtenteils selbst zuzuschreiben ... Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, ihn zu verlieren.«

Sten nickte zustimmend. Wer auch immer, dieser Khaqan sein mochte, der Altai-Cluster war ein wichtiger Verbündeter.

Weitaus schwerer wog die Tatsache, daß der Sternhaufen verdammt nahe an der Erstwelt lag. »Was bedrückt den Herrscher, Sir?«

»So ziemlich alles und jeder«, antwortete der Imperator, der jetzt anfing, Gewürze auf der Ziege zu verteilen. »Ein wenig Ingwer«, sagte er und beugte sich erneut über das Rezept.

»Gewürznelken, Kardamom, Chili, Kümmel... kräftiger als der andere ... ein paar zerquetschte Knoblauchzehen und natürlich Salz und Pfeffer.«

Er gab etwas Joghurt und Zitronensaft dazu, rührte alles kräftig um und stellte es zur Seite. Dann fing er an, Zwiebeln in Erdnußöl zu rösten.

»Im Altai-Cluster gibt es drei verschiedene Spezies«, sagte der Imperator. »Aufgespalten in vier verschiedene Gruppierungen. Elende Drecksäcke, eine wie die andere.

Zunächst einmal die Jochianer. Menschen. Die Hauptrasse. Der Khaqan ist Jochianer, klar.«

»Genau«, erwiderte Sten. So funktionierte es normalerweise, wenn ein Wesen allein regierte. Anwesende ausgeschlossen. Es gab weitaus weniger Menschen als andere Spezies im Imperium.

»Ihre Hauptwelt ist Jochi, dort schwingt auch der Khaqan sein Zepter. Sie ist das Zentrum des Clusters. Egal... Für die anderen Schurken in diesem Stück ...«

Er schüttete die Hälfte der Zwiebeln über die Ziege und rührte erneut um. Dann zog er den Reis vom Ofen. Das Wasser kochte seit fünf Minuten. Er kippte das Wasser ab, vermischte den Reis mit den Zwiebeln und verteilte ihn über der Ziege.

»Ein wenig Butter darübertröpfeln«, sagte der Imperator,

»und ... voila! Ich nenne es Bombay Birani, aber grundsätzlich ist es alter geschmorter Ziegeneintopf.« Er knallte einen fest schließenden Deckel darauf, schob die Kasserolle in den Backofen und stellte ihn auf Braten.

»Jetzt werde ich ein bißchen schummeln«, sagte der Imperator. »Eigentlich müßte man es auf 200 Grad stellen, eine Stunde braten lassen, dann auf 160 herunterdrehen und noch mal vier Stunden braten lassen.«

Sten steckte diese Zahlen so weg wie den Rest des Rezeptes.

»Aber Marr und Senn, sie seien gesegnet, haben einen neuen Ofen erfunden, mit dem sich die echte Backzeit um die Hälfte oder noch mehr verringern läßt. Und ich kann wirklich keinen Unterschied feststellen.«

»Und diese anderen Schurken, Sir?«

»Ach ja. Gut, wir haben also die Joachianer, Menschen, wie schon gesagt. Abgesehen davon, daß sie die Hauptrasse darstellen, verfügen sie über einen meiner alten Handelsfreibriefe. Den habe ich ihnen vor ungefähr 500 Jahren verliehen. Damals war das dort wildes und undurchsichtiges Grenzland.

Was mich auf die Tork bringt. Auch sie sind Menschen, vom Schlag der alten Goldgräber.«

Sten wußte nicht genau, was der Imperator damit meinte, erahnte aber so ungefähr die Zielrichtung.

»Die Tork kamen schon sehr früh in den Cluster, damals, als in dieser Region das Imperium X entdeckt wurde«, fuhr der Imperator fort. »Minenarbeiter, Raumfahrer, die nicht mehr auf ihre Schiffe zurückkehrten, Händler, Joyboys und Joygirls, so dieser Schlag. Mit dem Unterschied, daß sie, nachdem das Vorkommen an Imperium X erschöpft war, nicht zum nächsten gewinnversprechenden Loch weiterzogen, sondern dortblieben.«

Imperium X war das einzige Element, das AM2-Partikel abschirmen konnte. AM2 war der Stoff, auf den das gesamte Imperium aufgebaut war. Er unterlag der Kontrolle des Ewigen Imperators, und zwar so ausschließlich, daß sämtliche Vorräte an AM2 automatisch rapide zur Neige gegangen waren, nachdem das Privatkabinett ihn ermordet hatte. Sechs Jahre lang hatte das Kabinett vergeblich nach dem Ursprung von AM2 geforscht. In der Zwischenzeit war das Imperium unaufhaltsam auf seinen Ruin zugesteuert - ein Zustand, mit dessen Behebung Sten zur Zeit fast ausschließlich beschäftigt war. Dabei zweifelte er manchmal daran, ob er die komplette Umkehr noch erleben würde.

»Natürlich waren die Tork nicht begeistert, als die Jochianer auftauchten. Doch diese Händler-Abenteurer knallten einige Köpfe aneinander, zeigten den Tork meinen Freibrief, und das war's dann.

Die Zeit verging, und die Jochianer verzweigten sich ein wenig, bildeten viele nur lose miteinander in Verbindung stehende Welten - Stadtstaaten. Der Vater des gegenwärtigen Khaqans führte alles vor ungefähr dreihundert Jahren wieder einigermaßen zusammen.«

Sten sagte nichts dazu. So war nun mal das Recht der Pioniere. Er selbst hatte einige dieser alten Praktiken eingesetzt, um das Privatkabinett zu Fall zu bringen. »Was ist mit den beiden anderen Spezies? Vermutlich Ureinwohner des Clusters?«

»Genau. Sie nennen sich Suzdal und Bogazi. Viel weiß ich von denen auch nicht. Wahrscheinlich haben sie die gleichen empfindlichen Punkte wie alle anderen Wesen auch. Wie es aussieht, waren sie gerade dabei, ihre Heimatplaneten zu verlassen und sich gegenseitig zu entdecken, als die Tork auftauchten.

Die Suzdal und Bogazi hatten lächerliche Raumschiffe.

Doch sie stellten es recht geschickt an, einander das Leben schwerzumachen; und dann kamen die Tork. Sie hatten keine große Mühe mit ihnen. Mit Stardrive kann man so ziemlich jeden Hinterwäldler zum Staunen bringen.«

Sten konnte sich den Schock vorstellen. Da hat man es gerade mal geschafft und die technologische Leiter von der Steinzeit bis ins Weltall erklommen, blickt zu den wartenden Sternen hinauf und kommt sich richtig gut vor. Man steht ganz oben auf den Stufen der Geschichte. Niemand, der es vor einem versucht hat, ist so weit gekommen.

Und dann: Zack! Plötzlich kommen Aliens - in diesem Falle Menschen -

daher, mit ihrer tollen Ausrüstung und

hochmodernen Waffen, mit denen sie dich und dein ganzes Volk wieder in dumpfe Steinzeitlinge verwandeln. Plus, Wunder über Wunder, sie können von einem Stern zum nächsten, von Sonnensystem zu Sonnensystem hüpfen. Sie können sogar mit Leichtigkeit quer durch die ganze Galaxis fliegen. AM2-Antrieb. Die größte Errungenschaft der Geschichte.

Zum ersten Mal konnte sich Sten vorstellen, wie es vor vielen Jahrhunderten gewesen sein mußte, als der Imperator mit seinem AM2 unter dem Arm ankam. Es hätte jede bestehende Zivilisation erschüttert, alle wären sie auf die Knie gefallen und hätten darum gebeten, ebenfalls das Licht sehen zu dürfen.

Der Ewige Imperator sinnierte über eine halbvergessene Zutat. »Cilantro«, sagte er. »Das war's.« Er bröselte ein paar Blätter in eine Schüssel mit kleingehackter Gurke und Joghurt.

>Richtig<, dachte Sten. >AM2 plus das Geheimnis des ewigen Lebens ... Das muß wirklich ein Knüller gewesen sein.<

Es war ein unglaubliches Abendessen. Unvergeßlich. Wie immer.

Überall auf dem Tisch standen Berge von Essen. Dhal und Gurkendip; drei Sorten Chutney: grüne Mango, Bengal und scharfe Limone. Echte scharfe Limone. Kleine Schüsseln mit besonders scharfen Soßen und winzigen Pfefferschoten. Und frisch gebackene Fladenbrote. Chapaties, wie sie der Imperator nannte. Außerdem das Bombay Birani. Dampfende Wohlgerüche stiegen aus der Kasserolle auf.

»Hau rein«, sagte der Imperator.

Sten haute rein.

Viele Minuten aßen sie schweigend, genossen jeden Bissen und spülten mit einem Getränk nach, von dem der Imperator behauptete, es sei echtes Thai-Bier.

Nachdem der gröbste Hunger gestillt war, spießte der Imperator ein Stück Ziege mit der Gabel auf und hielt es in die Höhe, um es genauer zu betrachten.

»Was meinen alten Kumpel angeht, den Khaqan«, sagte er.

Er schob das Fleischstück in den Mund und kaute. »Er ist ein Tyrann allererster Güte, ich streite es nicht ab. Als Tyrann hat man jedoch immer das Problem, daß man ständig auf der Hut sein muß. Man darf den Deckel keinen Spalt aufmachen und ein wenig Dampf ablassen. Sobald das geschieht, werten es deine Feinde als Zeichen der Schwäche. Und schon steckst du bis zur Halskrause in Problemen.

Du darfst auch nicht nachlässig werden. Oder senil. Nach allem, was ich gehört habe, befürchte ich, daß der Khaqan nachlässig wird, vielleicht sogar senil. Ich weiß, daß er jedes erdenkliche Lebensrettungsgerät ständig in seiner Nähe hat.

Ständiger Blut-und Organaustausch, Hormonimplantationen, die ganze Palette. Mit ein bißchen Glück lebt er noch lange genug, bis ich mir im klaren darüber bin, was als nächstes zu tun ist. Momentan habe ich zu viele andere Dinge um die Ohren.«

Sten nickte. Er konnte sich nur annähernd vorstellen, wieviel der Imperator momentan zu tun hatte. Sten war nicht in das Gesamtgeschehen eingeweiht, aber seine Aufträge - samt und sonders die Bekämpfung diplomatischer Buschbrände und sein Kreis unterrichteter Freunde vermittelten ihm eine ungefähre Ahnung davon.

Bei der Rückkehr des Imperators war das Imperium im Zerfall begriffen gewesen. Ganze Regionen hatten schon seit geraumer Zeit ohne AM2 auskommen müssen. Mit dem Verschwinden der billigen Energie waren ganze Industriezweige zusammengebrochen; Rebellionen waren aufgeflammt. Die Bevölkerung war gezwungen gewesen, sich auf jede erdenkliche Weise durchs Leben zu schlagen.

Seither hatte der Ewige Imperator versucht, die Löcher zu stopfen, wo er nur konnte. Und dabei einige Regionen völlig vernachlässigt. Er hatte Systeme unter rigider wirtschaftlicher und militärischer Kontrolle an sich gebunden und sich an ihnen festgeklammert. In den Reihen seiner Verbündeten gab es viele neue Gesichter. Gestalten, mit denen er keine gemeinsame Geschichte hatte. Fragwürdige Gestalten. Verängstigte Wesen, die auf das Elend ihrer Untertanen blickten und sich ständig gegen Verschwörungen und Staatsstreiche absichern mußten.

»Ich habe dem Khaqan viel mehr AM2 gegeben, als er verdient«, sagte der Imperator. »Er aber hat es vergeudet. Hat es dafür verwendet, sich riesige Monumente erbauen zu lassen, anstelle es dafür einzusetzen, sein Volk zu ernähren. Seine Leute haben die Schnauze voll.

Ich habe ihn sogar wegen seines Verhaltens verwarnt. Vor ungefähr einem Jahr ist unser Botschafter im Altai-Cluster abberufen worden. Reine Routinesache. Keineswegs Routine ist jedoch, daß ich bislang noch keinen Ersatz für ihn bestimmt habe.«

>Gegen den Khaqan anzutreten ist allerdings eine ziemlich schwierige Aufgabe<, dachte Sten. »Ich wundere mich nur, daß er inzwischen nicht aufgewacht ist«, sagte er.

»Ich auch. Aber wie gesagt, er ist alt, seine Wege sind fest eingefahren. Aber wenn er untergeht, haben plötzlich sämtliche ungläubigen Thomasse unter meinen Verbündeten die Hosen voll. Sie werden mehr. AM2 verlangen. Das wiederum bringt die Wirtschaft in unübersehbare Schwierigkeiten.«

Sten verstand. Sämtliches Geld war an den Wert der zugrundeliegenden Energieeinheit des Imperiums gebunden.

Wurde mehr davon produziert, setzte eine inflationäre Geldentwicklung ein. Produzierte man weniger, resultierte daraus eine Deflation. Es war also ein Doppelknaller: Da es wenig Energie gab, gab es auf dem Markt weniger Güter.

Infolgedessen schössen die Preise nach oben, was zu noch größerer Verknappung führte, zu Schwarzmärkten und unruhigen Bevölkerungen.

Der Imperator vollführte einen gewaltigen Drahtseilakt.

»Wer soll denn Nachfolger des Khaqans werden?«

erkundigte sich Sten.

Der Imperator seufzte. »Niemand. Er hat keinen lebenden Erben. Außerdem ist er ein Kleinklein-Krämer. Mischt sich in jede Kleinigkeit ein, angefangen von wieviel Wasser im Schwimmbecken des Hauptpalastes sein soll bis hin zu den Preisen, die ein A-Grav-Taxi verlangen darf. Er würgt jede Initiative ab. Als Kapitalist ist der Khaqan so la-la. Als Manager hingegen ist er unmöglich.«

Der Imperator stürzte mehr Bier hinunter. »Trotzdem wird er jetzt immer verzweifelter. Er bittet mich um ein Zeichen meiner Unterstützung. Etwas, das seinen Leuten zeigt, daß ich auf seiner Seite stehe. Zusammen mit dem AM2, natürlich.«

»Und Sie möchten, daß ich dieses Zeichen sein soll«, sagte Sten.

»Genau. Veranstalte eine große Show für ihn. Du bist einer meiner Top-Helden. Medaillen. Auszeichnungen. Siege.

Sowohl auf dem Schlachtfeld als auch auf diplomatischem Parkett und der ganze Schamott. Ich lasse meine Medienleute ein ganz großes Ding damit aufziehen. Was nicht heißen soll, daß du viel Unterstützung notwendig hättest.« Er blickte Sten an. Doch jetzt lächelte er nicht mehr; er sah besorgt aus. Sten kam zu dem Schluß, daß er nicht unbedingt wissen mußte, was sein Boß gerade dachte.

Der Imperator riß sich aus seinen Gedanken heraus und grinste. »Nimm dir mit, wen du willst - deine Bhor-Kumpane, irgendwelche Einzelkämpfer, deine übliche

Expertenmannschaft, wen auch immer. Sorge nur dafür, daß sie alle wie aus dem Ei gepellt aussehen. Und damit die ganze Angelegenheit auch wirklich eine Flaggenparade wird, sollst du mein privates Schiff dafür benutzen. Die Victory.«

Das wiederum zauberte ein Grinsen auf Stens Gesicht.

Der Imperator lachte. »Ich dachte mir schon, daß du dafür zu haben bist.«

Die Victory war ein Wirklichkeit gewordenes Traumschiff.

Ein Schlachtschiff/Einsatzschiff-Träger der neuen Klasse, aber nach den Sonderwünschen des Imperators umgebaut. Fürstlich von oben bis unten. Um die Eingeborenen zu beeindrucken, wie der Imperator zu sagen pflegte. Absolut alles an diesem Schiff war ultraluxuriös, von den Mannschaftsunterkünften bis hin zur Imperialen Suite.

»Na, das nenne ich wirklich eine gelungene

Stellenausschreibung«, sagte Sten und prostete seinem Boß zu.

»Aber wenn ich den Khaqan schon in der Öffentlichkeit umarmen und abküssen muß - wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten, wenn wir allein sind?«

»Unterkühlte Höflichkeit«, sagte der Imperator. »Eindeutig reserviert. So gruselig, wie nur möglich. Ich will, daß er meine Augen in deinen sieht. Sag ihm, daß ich versprochen habe, sofort einen neuen Botschafter einzusetzen. Außerdem ... Ich brauche auch ein paar Informationen darüber, wer denn sein Nachfolger sein wird, wenn er den Löffel abgibt. Auf diese Art kann ich mit dem Kerl schon mal ein paar Worte wechseln.

Vielleicht trägt es ja dazu bei, das Leben im Altai-Cluster ein wenig netter - und stabiler - zu gestalten, wenn der alte Knabe nicht mehr ist.«

Sten nickte. Er hatte die Anweisungen verstanden. Ihm war auch klar, daß der Imperator seine Meinung darüber hören wollte, wer nun wirklich der Nachfolger werden sollte.

»Noch etwas«, sagte der Imperator. »Sag ihm, ich setze ihn auf meine persönliche Einladungsliste. Die kurze Liste. Ich erwarte seinen Besuch in ungefähr einem Jahr.«

»Das wird ihm gefallen«, entgegnete Sten. »Mehr Propaganda an der Heimatfront.«

»Allerdings wird ihm das gefallen«, stimmte ihm der Ewige Imperator zu. »Aber nicht das, was ich ihm zu sagen habe.

Unter vier Augen.«

Er spießte das letzte Stück Ziege auf und riß es mit scharfen weißen Zähnen von der Gabel.

Sten tat der Khaqan kein bißchen leid. Es hörte sich ganz so an, als sei er, mit Kilgour gesprochen, ein »ausgesprochener Drecksack«.