Kapitel 11
Es war ein klarer, bitterkalter Tag. Sten und seine Mannschaft bewegten sich auf den Platz der Khaqans zu.
Ungläubig bestaunten sie die Monumente, die über ihnen bis in den Himmel hinaufragten. Sten kam sich vor wie ein Insekt, das im Land der Riesen spazierenging.
»Ich warte nur darauf, daß einer von denen auf mich trampelt«, sagte Cind wie ein eigenartiges Echo seiner Gedanken.
»Beim langen und knotigen Bart meiner Mutter«, knurrte Otho. »Der Mann hatte genug Ego für eine ganze Flotte von unseren Leuten.«
Otho hob eine haarige Pfote, um die Augen vor den schimmernden Kuppeln abzuschirmen, und blieb an einem besonders abscheulichen Beispiel des schlechten Geschmacks hängen. Es erhob sich zu einer Plattform, die auf den Schultern von einem Dutzend Statuen ruhte. Die Statuen - sie waren mindestens zwanzig Meter hoch - stellten perfekt geformte menschliche Männer und Frauen dar, wahrscheinlich Jochianer. Sie waren splitternackt. Auf der Plattform war eine Statue des Khaqans selbst plaziert, der allerdings in goldene Gewänder gehüllt war. Seine Hand reckte eine Fackel empor, komplett mit ewig lodernden Flammen.
»Ich könnte den Mann ja noch verstehen, wenn er Trinkhallen gebaut hätte«, sagte Otho schließlich. »Das ist einem angeberischen Wesen doch eher angemessen.
Abgesehen davon - wenn man gutes Essen bietet und auch mit dem Stregg nicht knauserig ist, hat niemand was gegen einen alten Angeber.« Er warf Sten aus blutunterlaufenen Augen einen Blick zu. »Soll nicht heißen, daß ich mich dieser Praktiken bediene. Ich persönlich ziehe es vor, wenn meine Gäste meine Heldentaten preisen.«
Sten deutete auf die Inschrift an einer Ecke des Ensembles.
Sie lautete: IHM, DER DEN ALTAI-CLUSTER MIT
SEINEM GLANZ ERHELLTE. Darunter in kleineren Buchstaben: Von Seinem Dankbaren Volk.
»Vielleicht hatte er eine ähnliche Idee«, sagte Sten. »Außer daß er sich ein für allemal von den guten Zeiten verabschiedet hat.«
Othos wuchtige Braue wölbte sich. »Deshalb sagte ich ja, es ist klüger, eine Trinkhalle zu bauen. Für jemanden, der so lange am Ruder war, hatte dieser Khaqan keine Ahnung von Führerschaft.«
Sten lachte zustimmend und gab seiner Gruppe ein Zeichen zum Weitergehen. Er hielt es für besser, zu Fuß zur Pooshkan-Universität zu gehen. Sie lag nicht weit von der Botschaft entfernt, und zu Fuß waren sie mit Sicherheit weniger auffällig als mit einer Armada gepanzerter A-Grav-Gleiter.
Außerdem besagte die erste Regel, die Sten im diplomatischen Dienst gelernt hatte, daß man sich niemals isolieren sollte. Er kannte viele Botschafter, die nie richtigen Boden unter die Füße bekommen hatten. Sie wurden von der Treppe der Botschaft zum Bankett in Staatsgemächer geführt und anschließend wieder zurück. Darin erschöpfte sich ihr Dienst am Staat. Ihm war auch nicht entgangen, daß ihre Ratschläge ausnahmslos unbrauchbar waren.
In diesem Fall fand er die Situation auf der Straße nicht anders vor, als sie die Bildschirme in der Nachrichtenzentrale abgebildet hatten. Abgesehen davon, daß es in natura wesentlich leerer war. Und es war ein anderes Gefühl, wenn man im grellen Sonnenlicht und der schneidenden Kälte stand.
Sein Atem dampfte. Schemenhafte Gestalten duckten sich zur Seite, als sein Trupp heranmarschierte; Hände und Pfoten hielten sich jederzeit einsatzbereit in der Nähe der Waffengürtel auf.
Wohin Stens Blick auch fiel, überall sah er gigantische Statuen des Khaqans auf die gewöhnlichen Sterblichen herabstarren, die zu ihren unaufschiebbaren Verabredungen durch die Straßen trippelten.
Besonders nervenaufreibend war das laute Grollen des Donners, der unablässig hinter den fernen Bergen polterte und die Stimmung unbestreitbar anheizte.
Sten behielt das im Hinterkopf, als er sich geistig auf den jungen Milhouz und die anderen studentischen Agitatoren vorbereitete.
Sämtliche Gedanken waren jedoch wie weggeblasen, als sie den Platz der Khaqans betraten. Allein seine Ausmaße sprengten die Vorstellungskraft eines normalen Lebewesens.
Ebenso wie die blendenden Farben die Sinne verwirrten. Man tat sich schwer daran, überhaupt einen vertrauten Blickwinkel zu finden. Wandte man sich von einer grellbunten Säule ab, schienen die Augen wieder ihren klaren Blick zu finden, bis sie sich mit dem nächsten Monument von schwindelerregender Größe konfrontiert sahen.
Trotz der gewaltigen Ausmaße des Platzes kam sich Sten auf bedrohliche Weise eingeschlossen vor. Aus gutem Grund.
Sein professioneller Blick erkannte sofort, daß der Platz zur optimalen Kontrolle großer Menschenmassen angelegt worden war. Dann sah er die Todeswand. Er mußte nicht eigens fragen, worum es sich dabei handelte, als er ihre schwarze Glätte betrachtete. Ein Monument des Hasses, ein Symbol durchgedrehter Machtgelüste.
Eine unerwartete Hilflosigkeit erfaßte ihn. Er kam sich viel zu klein für die Aufgabe vor, die vor ihm lag. Sein Bewußtsein sagte ihm, daß das kindisch sei. Der Platz war eigens dazu erbaut worden, um solche Reaktionen hervorzurufen. Trotzdem ließ sich das Gefühl nicht so einfach abschütteln.
Endlich erreichten sie den Ausgang auf der
gegenüberliegenden Seite. Gleich dahinter lag die Pooshkan-Universität. Als Sten leise den Singsang der zornigen Studenten vernahm, hob sich seine Stimmung sofort wieder, und seine Schritte wurden elastischer. Damit konnte man sich wenigstens auseinandersetzen und das Problem vielleicht sogar lösen.
»Die Polizei bringt sich gerade in Stimmung«, sagte Alex, der mit einem Trupp Gurkhas als Kundschafter vorausgegangen war. »Die Transporter müssen jeden Moment hier ankommen. Mit Verstärkung. Die hohen Tiere haben sich ziemlich weit zurückgezogen, falls der Pöbel doch noch durchbricht.«
»Tolle Krieger sind das, einer wie der andere«, schnaubte Otho. »Aus der dritten Reihe kommandieren, um Kinder anzugreifen. Ich sage dir eins, mein Freund: An diesem Ort hier gibt es keine Ehre, Ich schwöre dir, es wird mir keinen besonderen Spaß machen, ihnen die Köpfe einzuschlagen.«
»Langsam, Otho«, beschwichtigte Sten. »Köpfe einschlagen gehört nicht zu deiner Arbeitsplatzbeschreibung. Ist dir entfallen, daß wir eine diplomatische Mission zu erfüllen haben?«
Am Ende der Straße konnten sie alle die bedrohliche Konkretisierung ihrer Mission sehen und hören. Sten schätzte mit geübtem Blick, daß dort ungefähr eine Zillion Wesen drauf und dran waren, mit Zähnen, Nägeln, Tränengas und Schußwaffen übereinander herzufallen. Auf die Schilde der Polizisten ging ein donnernder Steinhagel nieder, darunter auch dickere Brocken.
»Ich verspreche, daß ich nicht mehr als das hier benutze«, sagte Otho und schüttelte seine geballte, hinterschinkengroße Faust. Die anderen Bhor brummten zustimmend.
»Eure Befehle lauten«, fuhr Cind Otho an, »lediglich die offenen Hände zu benutzen, im Höchstfall Ellbogen und Knie.
Leichte Tritte sind ebenso erlaubt.«
Als Otho dieses kleine Ding betrachtete, das ihm da Befehle erteilte, breitete sich eine tiefe Stille aus. Cind wich seinem Blick nicht aus. »Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt...
Gefreiter?« fragte sie.
Otho stieß ein dröhnendes Lachen aus. »Bei den gefrorenen Arschbacken meines Vaters«, sagte er. »Alles klar, nur offene Hände.« Dann sah er Sten an und wischte sich die feuchten Winkel seiner blutunterlaufenen Augen. »Sie macht mich sehr stolz«, sagte er. »Sie erweist sich der Ausbildung und der Ideale der Bhor mehr als würdig.«
Während Otho noch mit seinen Gefühlen kämpfte, wurde das Geschrei am Ende der Straße immer lauter. Eine Polizeisirene stieß einen Warnton aus, auf den ein weiterer Steinhagel folgte.
»Ich will ja nich' drängeln, mein großer haariger Freund«, meinte Alex. »Aber wir haben uns um einen Krawall zu kümmern, oder hast du das vergessen?«
»Zunächst müssen wir näher heran«, wandte Cind ein und zeigte auf die konfuse Masse, die die Straße und den Torbogen zur Universität verstopfte.
Dann hörte Sten eine bekannte Stimme. »Bewohner von Jochi«, dröhnte es aus einem tragbaren Verstärker, »hört auf die Forderungen eurer Kinder ...«
Das war der junge Milhouz. Sten sah ihn hoch oben auf der Bodenplatte einer weiteren heroischen Statue des verstorbenen, nicht ganz so großen Khaqan stehen.
»Wir überbringen euch eine Botschaft der Hoffnung und Lie
...« Die Stimme brach ab, als eine Gruppe mit Schilden bewehrter Polizisten die Studenten angriff. Wut-und
Schmerzensschreie erschallten, die jedoch sofort von dem Gebrüll der Meute der erwachsenen Zuschauer übertönt wurden.
Dann war Jubel und sogar Gelächter zu hören, als die angreifenden Polizisten ihren Kurs änderten und sich überhastet zurückzogen. Milhouz spreizte die Finger zum Siegeszeichen.
Sten konnte jedoch erkennen, daß dieser Sieg nur von kurzer Dauer sein würde. Die Polizisten waren jetzt gedemütigt und sogar noch verängstigter als zuvor. Er sah, daß sie kurz davor standen, einen neuerlichen Angriff zu starten, diesmal jedoch mit größerer und tödlicherer Wucht.
Er nickte Cind zu. »Du kennst den Einsatzplan.«
Sie bewegten sich näher heran. Alex übernahm die Flanke und schlich sich mit den Gurkhas seitlich um die Polizisten herum. Cind nahm einige Bhor mit, um zwischen Alex und die wütenden Zivilisten zu gelangen. Sten, Otho und ungefähr zwanzig Bhor gingen einfach drauflos, mitten durch die Polizisten.
»Hoppla! Entschuldigung«, sagte Cind, nachdem sie einen Ellbogen in einen untersetzten Tork, offensichtlich einen Hafenarbeiter, gestoßen hatte. »Wie unvorsichtig von mir«, entschuldigte sie sich bei einem Suzdal, den sie sauber aufs Kinn getroffen hatte.
»Tut mir aufrichtig leid«, stieß Lalbahadur Thapa aus, als er eine scharfe Stiefelspitze gegen das Schienbein eines hochaufragenden Bogazi trat. Er quetschte seine schlanke Gestalt zwischen zwei weiteren Bogazi hindurch und trat kräftig auf die Zehen eines massigen Jochianers, der ihm im Weg stand.
»Meine Schuld«, meinte Alex, als er einen Polizisten anrempelte, der daraufhin gegen seine Kollegen prallte. Alex'
Arm fuhr erschrocken über die eigene Ungeschicklichkeit zurück und schleuderte noch einen Polizisten zur Seite. »Oje, das hat bestimmt weh getan! Verzeih mir, mein Freund.«
»Wir gehen durch«, rief Sten. Sein Knie kam hoch und erwischte einen sich duckenden Polizisten so geschickt am Hinterteil, daß er mit dem Visier über den Boden schrammte.
»Tut mir sehr leid. Imperiale Dringlichkeit, müssen Sie wissen.«
Ein kräftiger Polizistenarm wand sich um Othos Hals. Zwei weitere Gesetzeshüter kamen mit erhobenen Knüppeln auf ihn zu. »Beim Barte meiner Mutter«, sagte der Bhor, »mein Stiefel ist schon wieder aufgegangen.« Er beugte sich hinunter, um das Mißgeschick zu beheben, und der Polizist segelte in hohem Bogen über seinen Kopf - direkt in seine angreifenden Kollegen hinein.
Jemand hielt Cind am Hemd fest. Ein ziemlich großer Jemand. Sie stieß ihm einen Finger ins Auge. Der große Jemand heulte vor Schmerzen auf und ließ sofort los. »Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist«, sagte Cind. »Ich bin so ungeschickt.«
Ein Suzdal schnappte nach Chittahang Limbu. Der kleine Gurkha packte ihn am Ohr, kurz bevor die Kiefer sich um seine Gurgel schließen konnten. Dann drehte er das Ohr herum. Der Suzdal folgte dem Dreh und taumelte nach hinten in seine Rudelgefährten. »Ich bin heute so kindisch drauf«, wunderte sich Chittahang. Dann flüsterte er fast unhörbar: »Schamhaar eines Yak!«
»Aus dem Weg! Imperiale Geschäfte! Aus dem Weg!« rief Sten. Sonderbarerweise funktionierte das. Die meisten Polizisten machten Platz, um sie durchzulassen. Diejenigen, die noch zögerten, bekamen einen Ellbogen oder einen kräftigen Klaps der Bhor zu spüren.
Alex stieß auf zwei Polizisten, die einem kleinen Studenten die Seele aus dem Leib prügelten. Ohne zu Zaudern hob er sie hoch in die Luft und knallte sie gegeneinander. Dann ließ er los. Sie fielen besinnungslos zu Boden.
»Ach nein, ich hoffe doch, daß ich euch nicht ernsthaft wehgetan habe, sonst rückt mir Sten auf die Pelle«, meinte er und ging weiter.
Otho und vier Bhor brachen zu der Statue durch. Sie wandten sich um und fegten wie lebendige Panzerfahrzeuge ein weites Areal um sich herum frei. Einige Sekunden später stand Sten im Zentrum dieses Platzes. Wieder einige Sekunden später hatte sich seine ganze Truppe hinter ihm aufgestellt.
Sten sah hinauf zu Milhouz. Die dicken Backen des jungen Jochianers röteten sich vor Erstaunen.
»Tut mir leid, ich habe mich ein bißchen verspätet«, sagte Sten. »Aber wenn Sie mir dieses Ding jetzt übergeben würden, kann ich mich ein wenig mit den guten Leuten hier unterhalten.«
Er zeigte auf das Megaphon in Milhouz' Hand. Der junge Jochianer starrte ihn mit offenem Mund an. Dann nickte er und übergab den Verstärker an Sten.
»Ich kann nicht glauben, daß Sie das getan haben«, sagte er.
»Ich auch nicht«, erwiderte Sten. Dann wandte er sich zu seinem Publikum um.
»Als allererstes ... verlangen wir Respekt vor der Würde aller Spezies im Altai-Cluster«, sagte Milhouz und stieß mit dem Zeigefinger auf das Dokument, das er und seine Kommilitonen aufgesetzt hatten.
»Ich glaube nicht, daß jemand etwas dagegen einzuwenden hat«, entgegnete Sten und ließ seinen Blick um den Tisch der Cafeteria wandern, an dem auch die übrigen Studentenführer saßen. Sie waren alle sehr jung und blickten sehr ernst drein.
>Seltsam<, dachte Sten, >wie sehr sich doch alle jugendlichen Lebewesen ähneln.< Ob Suzdal, Bogazi oder Mensch, sie alle hatten diese großen, aufgerissenen Augen und runden, hilflosen Gesichter. >Auf begrenzte Zeit nett anzusehen<, dachte Sten. >Wenn man näher darüber nachdenkt, ist das ein eigenartiges Merkmal universeller genetischer Programmierung. Und wahrscheinlich der Grund dafür, weshalb Eltern ihre Kinder nicht gleich nach der Geburt töten.<
»Zweitens«, fuhr Milhouz fort. Seine Wangen und sein Doppelkinn wackelten wie bei einem kleinen, höhlenbauenden Nagetier. »Die Gleichheit aller Spezies muß der Grundpfeiler der zukünftigen Regierung sein.«
»Die Bestimmungen des Imperators lassen daran keine Zweifel aufkommen«, sagte Sten trocken. »Er ist bekannt dafür, daß er sich überall für Gleichberechtigung einsetzt.«
»Trotzdem muß es gesagt werden«, mischte sich die Bogazistudentin ein. Ihr Name war Nirsky, wie sich Sten gemerkt hatte. So wie sich die Bogazimännchen vor ihr aufplusterten, mußte sie sehr attraktiv sein.
»Dann sagen Sie, was zu sagen ist«, meinte Sten.
Milhouz räusperte sich, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Drittens müssen alle Milizen auf ihre Heimatplaneten zurückkehren. Sofort.«
»Das dürfte jede neue Autorität auf ihrer Liste stehen haben«, sagte Sten.
»Sie machen sich über uns lustig«, beschwerte sich Milhouz.
»Überhaupt nicht«, antwortete Sten. »Ich verdeutliche Ihnen lediglich bestehende Tatsachen.« Sein Gesichtsausdruck blieb nichtssagend.
»Niemand hört uns zu«, japste der Suzdal. Er hatte sich Sten als Tehrand vorgestellt.
»Ja, das stimmt. Wir haben diese Forderungen schon die ganze Nacht hinausgerufen.« Die Sprecherin war eine Tork.
Eine sehr nett aussehende Tork, die offensichtlich für den jungen Milhouz schwärmte. Ihr Name war Riehl.
»Ich höre zu«, sagte Sten. »Es hat mich einige Mühe gekostet, hierherzukommen, falls Sie das vergessen haben.
Warum machen Sie nicht einfach weiter?«
»Viertens«, fuhr Milhouz fort, »verlangen wir Amnestie für alle Studenten von Pooshkan, die an diesem Freiheitskampf beteiligt waren. Dazu gehören auch wir - die Mitglieder des Aktionskomitees.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Sten und meinte, was er sagte.
»Das reicht uns nicht«, entgegnete Nirsky »Sie müssen es versprechen.«
»Versprechen sind leicht gegeben«, entgegnete Sten, »aber oft schwer zu halten. Noch einmal - ich werde mein Bestes tun.«
Milhouz' Gesicht nahm den Ausdruck heiliger Reinheit an.
»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen«, sagte er. »Ich gebe mein Leben mit Freuden für meine Ideale hin.«
»Übertreiben wir mal nicht«, beschwichtigte Sten.
»Niemandes Leben steht hier auf dem Spiel. Ich sage lediglich, daß eine neue Regierung, wie immer sie auch aussehen mag, womöglich über den Schaden, den Sie hier angerichtet haben, nicht gerade begeistert sein wird.
Es wird also vielleicht einige Bußgelder geben. Zur Strafe.
Allerhöchstens ein paar Tage im Gefängnis. Das werde ich jedoch nach Möglichkeit zu verhindern versuchen.
Möglicherweise hören sie aber nicht auf mich. Seien Sie also vorbereitet.«
Jetzt brach überall Gerede los. Sten lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während die Studenten seine Bemerkungen diskutierten. Tehrand warf ihm einen drohenden Blick zu, ließ sein Raubtiergebiß blitzen. Sten achtete nicht sonderlich darauf, ebenso wie er die übrigen dreißig oder mehr Studenten im Raum ignorierte, von denen ihn die meisten ebenfalls sehr argwöhnisch betrachteten.
Obwohl es sein Vorschlag gewesen war, sich allein mit der Gruppe zu treffen, bezweifelte er, daß sie viel unternehmen konnten, dessen er sich nicht zu wehren gewußt hätte, falls die Situation wirklich kippte.
»Tut mir leid«, sagte Milhouz schließlich, »aber wir lassen über diese Forderungen nicht mit uns handeln.«
»Was ist, wenn sie abgelehnt werden?«
»Dann brennen wir die Universität nieder«, sagte Riehl mit vor Entschlossenheit roten Wangen.
»Das würde ich Ihnen nicht raten«, erwiderte Sten. »Um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, wenn Sie Ihre Drohungen überhaupt unterließen. Das verschafft mir mehr Spielraum für die Verhandlungen mit der Polizei.«
»Nur eine Woche«, sagte Nirsky. »Dann müssen wir niederbrennen.«
»Wir sind uns alle einig«, sagte Tehrand. »Wir haben abgestimmt.«
»Dann stimmen Sie noch einmal ab«, schlug Sten vor. »Sie können ja sagen, daß es im Licht der neuen Faktoren, die Sr.
Sten gebracht hat, nötig geworden ist.«
»So funktioniert Demokratie nicht. Alle Abstimmungen sind endgültig«, sagte Milhouz pompös. »Was uns zur nächsten und wichtigsten Forderung bringt...
Die Regentschaft der Khaqans muß ein Ende haben. Jede Form der Tyrannei muß ein Ende haben. Wir fordern eine neue Ordnung. Nur mit Hilfe der Demokratie können die Probleme des Altai-Clusters endgültig beseitigt werden!«
»Um dieses Ziel zu fördern«, wandte Riehl ein, »haben wir eine Liste von Kandidaten zusammengestellt, die vom Pooshkan-Aktionskomitee akzeptiert werden.«
»Mal halblang«, sagte Sten. »Ich wüßte gern mehr über diese Liste. Sehr demokratisch kommt mir das nicht vor.«
»Ist es aber«, widersprach ihm Milhouz. »Im reinsten Sinne.«
»Er meint damit nicht die primitive Theorie, nach der jedes Wesen eine Stimme bekommt, egal ob ... ob es dieses Recht verdient oder nicht.« Riehl warf Milhouz einen schmelzenden Blick zu. Sten malte sich aus, daß Milhouz wohl auf der Liste derjenigen stand, die es verdienten.
»Verstehe«, sagte Sten und gab diplomatische Hmmm-Geräusche von sich. »Interessant, daß Sie die Sache so betrachten.«
»Gut. Sie verstehen also meinen Standpunkt«, sagte Milhouz, der den Punkt als akzeptiert ansah. »Lassen Sie uns offen sein. Die meisten Wesen - ich meine, die, ahm, ungebildeten Klassen - lassen sich am liebsten sagen, was sie tun sollen.« Er beugte sich voller Leidenschaft nach vorne.
»Sie fühlen sich ... unwohl, wenn sie gewichtige Entscheidungen treffen sollen. Sie brauchen Strukturen in ihrem Leben. Erst dann fühlen sie sich ...«
»Wohl«, half ihm Sten aus.
»Wie scharfsinnig, Herr Botschafter. Doch, das ist genau das richtige Wort. Sie fühlen sich wohler und obendrein glücklicher dabei.«
»Die Gebildeten wissen am besten Bescheid«, sagte Nirsky
»Eine seit langem bekannte Tatsache«, kläffte Tehrand.
»Milhouz sagt, mit einer gebildeten Elite kann unmöglich eine Tyrannei entstehen. Stimmt doch, Lie - ähh ..., stimmt doch, oder?« Riehl errötete, weil sie fast ihre Gefühle offenbart hätte.
Milhouz klopfte ihr herzlich auf den Schenkel und ließ die Hand darauf liegen. »Richtig. Ich habe ... etwas in der Art gesagt. Aber ich bin kein Genie. Andere beackern das gleiche Feld.« Er warf Sten einen feierlichen Blick zu. »Der Gedanke ist nicht ganz originell.«
»Wie bescheiden von Ihnen«, sagte Sten.
»Vielen Dank, Herr Botschafter. Wie auch immer ... zurück zu unserem ... Manifest. Wir finden, daß die neuen Führungspersönlichkeiten der Altaiwelten von allen wichtigen Familien des Clusters gewählt werden sollten. Die gebildetsten Suzdal, Tork, Bogazi und Jochianer - so wie ich einer bin.«
»Könnte ein erfolgreicher Abschluß an dieser Universität der Qualifikation dienlich sein?« erkundigte sich Sten.
»Es gibt kein größeres Laboratorium der Lehre als die Pooshkan-Universität. Das versteht sich also ... von selbst.«
»Hätte ich mir denken können. Wie dumm von mir«, sagte Sten.
»Obwohl wir auch hier sehr viel Bedarf an Verbesserungen sehen«, warf Riehl ein. »Viele unserer Veranstaltungen sind ...
von ihrer Grundeinstellung her inkorrekt.«
»Ich vermute, daß die Erneuerung der Universität ebenfalls auf Ihrem Programm steht«, sagte Sten.
»Absolut!«
»Und wenn nicht, dann brennen Sie die Universität nieder?«
»Genau. Wer soll uns davon abhalten?« antwortete die Bogazi. »Meine Brut ist am wichtigsten. Wenn mich jemand verletzt - gibt es viel Ärger.«
»Das gleiche gilt für uns alle«, sagte Riehl. »Die Bullen haben Glück gehabt, daß Sie gekommen sind. Wenn sie sich zu Dummheiten hätten hinreißen lassen ... na, dann hätten unsere Familien sie hart dafür büßen lassen. Glauben Sie mir.«
Milhouz händigte Sten das Papier mit dem Manifest des Aktionskomitees aus. »Hier sind unsere Forderungen. Nehmen Sie sie ... oder lassen Sie es bleiben.«
Sten zog den Moment absichtlich in die Länge. »Dann ...
werde ich lieber gehen«, sagte er schließlich. Und erhob sich.
Panik machte sich im Raum breit.
»Warten Sie«, sagte Milhouz. »Wohin wollen Sie?«
»Zurück zur Botschaft«, klärte ihn Sten auf. »Ich habe hier nichts verloren, abgesehen davon, daß es wirklich nichts mit meiner Arbeit zu tun hat. Es ist eindeutig ein Problem der örtlichen Behörden. Also ... wenn Sie mich entschuldigen würden ... Ich werde mir das, was weiter mit Ihnen geschieht, lieber auf dem Bildschirm betrachten. Mit einem schönen steifen Getränk, das mir den Magen wärmt.«
»Aber ... Sie können nicht gehen!« rief Riehl, den Tränen nahe.
»Dann passen Sie genau auf«, empfahl ihr Sten.
»Aber die Polizei wird -«
»Euch alle töten«, sagte Sten. »Die sind ziemlich sauer. Ich glaube nicht, daß es viel braucht, um sie hochgehen zu lassen.
Eure Stammbäume machen sie bestimmt noch wütender. Wißt ihr, wie sich Polizisten manchmal aufführen? Empfindlich.
Sehr empfindlich.
Komisch, was? Eure Leute denken, ihr macht hier Krawall.
Statt dessen laufen die Bullen Amok. So geht das jedesmal.«
»Was wollen Sie von uns?« heulte Milhouz. Seine Hängebacken waren weiß vor Angst.
Sten wandte sich der Tür zu. »Ich habe eine bessere Frage: Was wollt ihr wirklich? Und erspart mir diesen Manifestkram!«
Sofort herrschte absolute Stille.
»Ich sage euch was«, lenkte Sten ein. »Ich sehe zu, ob ich jemanden finde, der mit euch reden will. Der sich eure Ansichten vorurteilsfrei anhört.«
»Jemand ... Wichtiges?« fragte Milhouz.
»Ja. Jemand Wichtiges.«
»Eine öffentliche Anhörung?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht.«,
»Wir wollen Zeugen haben«, japste Tehrand.
»Ich erkundige mich, ob das möglich ist«, sagte Sten. »Ist das soweit in Ordnung? Eine faire Anhörung aller eurer Ansichten von seiten wichtiger Leute mit
Entscheidungsbefugnis. In Ordnung?«
Milhouz blickte sich um und sah hier und da leichtes Kopfnicken. »Einverstanden«, sagte er.
»Gut.« Sten ging zur Tür.
»Aber ... wenn sie nicht wenigstens zuhören ...« Milhouz versuchte ein wenig Selbstbewußtsein für die Gruppe zu retten.
»Dann brennt ihr die Universität bis auf die Grundmauern nieder«, beendete Sten den Satz für ihn.
»In einer Woche!« blaffte Milhouz.
»Ich versuche daran zu denken.« Dann war Sten weg.