50. KAPITEL
Alix Townsend
Alix vollendete ihre Crème brûlée und machte einen Schritt nach hinten, um ihrem Ausbilder die Chance zu bieten, ihre Arbeit zu begutachten. Mr. Diamont trat vor, betrachtete das Dessert mit kritischem Blick und klopfte schließlich behutsam auf die flambierte Zuckerkruste. Dann kostete er von der zarten, schaumigen Karamellcreme darunter und nickte zufrieden. Er wandte sich ihr zu. “Wirklich gute Arbeit, Alix. Du kannst gehen.”
Sie starrte ihren Ausbilder an, nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Dennoch zögerte sie nicht länger, nahm Kochmütze und Schürze ab und eilte aus der Küche. Lob von Mr. Diamont war so selten wie zu viel Geld im Portemonnaie zu haben.
Ihr Budget war knapp bemessen – und daran würde sich auch im nächsten Jahr der zweijährigen Ausbildung nichts ändern. Sie war schon mit weit weniger über die Runden gekommen. Wenig Geld zu haben störte sie nicht, denn sie machte endlich etwas, das sie liebte. Kochen! Jahrelang hatte sie davon geträumt, eine Kochschule zu besuchen, aber die Unterrichtsgebühren waren fast so hoch wie Studiengebühren. Allein und ohne die Hilfe ihrer Freunde Jacqueline und Reese Donovan hätte sie sich diesen Traum niemals erfüllen können.
Kurz nachdem Carol und Doug das Baby von Laurel adoptiert hatten, lernte Alix den Ehemann von Jacqueline kennen. Reese hatte unzählige prominente und einflussreiche Freunde. Durch seine guten Beziehungen war es ihm gelungen, ihr ein Stipendium in einer lokalen Kochschule zu beschaffen. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, bestand Jacqueline darauf, dass Alix in ihrem Gästehaus wohnte, während sie die Ausbildung machte. Weil Martha mittlerweile im Ruhestand war, übernahm Alix einige der Aufgaben im Haushalt der Donovans, um sich ein bisschen Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen.
Das alles schien zu schön, um wahr zu sein. Manchmal musste sie sich kneifen, um sich davon zu überzeugen, dass das alles tatsächlich passierte. Um sich davon zu überzeugen, dass es ihr passierte, Alix Townsend.
Als sie sich umgezogen hatte, rief sie vom Telefon im Umkleideraum aus Jordans Handy an.
“Hi”, sagte sie, als er sich meldete.
“Bist du fertig für heute?” Er schien auf ihren Anruf gewartet zu haben.
“Mr. Diamont hat gesagt, ich könne gehen.”
“Schon? Du musst alles richtig gemacht haben.”
“Ja, muss ich wohl”, erwiderte sie. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht herauszuplatzen, wie leicht und gut sie alles geschafft hatte – dazu blieb auch noch genügend Zeit, wenn sie sich nicht mehr in Hörweite der anderen Kochschüler befand.
“Ich frage mich, was es mich kosten würde, dich dazu zu überreden, mir mal eine Crème brûlée zu machen”, sagte er. “Das ist nämlich mein Lieblingsdessert.”
“Oh, ich weiß nicht, aber mir fällt bestimmt etwas ein.”
“Darauf wette ich. Soll ich dich abholen?”
“Wenn du magst.” Er hatte nie viel Zeit, und deshalb hätte sie es nie von ihm verlangt. Normalerweise würde sie ihn auch nicht während der Arbeit anrufen, aber sie hatte sich wegen des heutigen Tests einige Sorgen gemacht. Deshalb wollte er gern, dass sie ihm direkt Bescheid sagte, wie es gelaufen war. “Ich kann auch den Bus nehmen”, sagte sie.
“Ich bin schon unterwegs.”
Sie wartete etwa zehn Minuten lang vor der Seattle Cooking Academy, bevor Jordans Auto auftauchte. Sie waren inzwischen seit einem Jahr zusammen, und Alix hatte sich daran gewöhnt, dass er ein Teil ihres Lebens geworden war – und noch an einige andere Dinge. Er konnte sie zum Beispiel davon überzeugen, jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wie ein normaler Mensch mit einem ganz normalen Leben. Mit Leuten um sich herum, die sich um sie sorgten und wollten, dass es ihr gut ging. Sie glaubte mittlerweile, dass es stimmte, was Jordan sagte. Gott hatte sie noch nicht aufgegeben.
Jordan hielt an der Bordsteinkante und beugte sich rüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Alix stieg ein, und sie küssten sich. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und fädelte sich dann in den fließenden Verkehr ein.
“Ich denke, du weißt nicht, was für ein Tag heute ist”, sagte er lässig.
Sie zermarterte sich das Gehirn, doch ihr fiel nichts ein. “Ist der sechste Mai denn ein besonderer Tag?”
“Für dich etwa nicht?”, fragte er und schob schmollend die Unterlippe vor.
“Offenbar nicht.”
Er grinste und versuchte sich auf den Verkehr zu konzentrieren. “Das war der erste Tag, an dem du mich mit deinen babyblauen Augen im Videoladen angeschaut hast.”
“Meine Augen sind braun!”
“Egal”, sagte er im selben lockeren Tonfall, den sie ihm gegenüber so oft benutzte. “Du erinnerst dich also ehrlich nicht mehr? Es war der sechste Mai, als ich dich draußen vor dem Videoladen stehen sah. Du hast geraucht. Eigentlich wollte ich mir nur ein Video ausleihen, als du mich unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand angesprochen hast.”
“Ich hatte dir ein Video zurückgelegt.”
“Du warst scharf auf mich.”
“Ich? Scharf auf dich?”, brummelte sie. “Du träumst wohl.” Sie blickte ihn gespielt wütend an – obwohl es ihr insgeheim ausgesprochen gut gefiel, dass er sich offenbar an jede Minute ihrer Beziehung noch so genau erinnern konnte.
“Also ist heute so etwas wie ein Jahrestag für uns.”
“Für uns?”, fragte sie und genoss die Neckereien zwischen ihnen.
“Du bist doch meine Freundin, oder?”
“Und dein Chef.”
“Das auch.”
Sie zuckte die Schultern, als sei seine Frage etwas Nebensächliches. “Ja, ich denke schon, dass ich deine Freundin bin.”
“In dem Fall solltest du einen Blick auf die kleine Schachtel in meinem Handschuhfach werfen.”
Plötzlich glaubte Alix, zu fliegen, statt zu fahren. “Eine Schachtel im Handschuhfach? Für mich?”
“Sieh nach.”
Ihre Hände zitterten, als sie das Fach öffnete. Da war sie. Eine kleine schwarze Schatulle mit einer leuchtend roten Schleife lag zwischen der Betriebsanleitung des Wagens und den Fahrzeugpapieren. Sie zog die Schachtel vorsichtig heraus und stellte sie auf ihre Handfläche.
“Was ist da drin?”, fragte sie. Sie konnte nichts daran ändern: Sie klang atemlos.
“Mach sie auf und sieh nach”, erwiderte Jordan.
Das lockere Geplänkel war vorbei, und Alix bekam das Gefühl, dass es in dem Auto plötzlich sehr warm und stickig wurde.
Als sie seiner Aufforderung nicht nachkam, ermutigte er sie: “Was ist? Warum zögerst du? Öffne die Schachtel.”
“Es ist eine wunderschöne Schachtel.”
“Danke, aber der Inhalt ist noch schöner.”
Sie löste die Schleife und öffnete schließlich ganz sacht den Deckel der Schatulle. In einem Samtkissen steckte ein wundervoller Ring, der mit einem Rubin und zwei kleinen Diamanten verziert war.
“Jordan”, flüsterte sie überwältigt. “Das ist so schön.”
“Das habe ich mir auch gedacht.”
“Aber … warum?”
“Habe ich dir nicht eben erklärt, dass wir uns jetzt seit einem Jahr kennen?”
“Ja, ich weiß, aber …” Wenn er sie nun zum Weinen brachte, würde Alix ihm das nie verzeihen.
“Stecke ihn dir an.”
Vorsichtig zog sie den Ring aus der Schatulle und steckte ihn an den Finger. Er passte perfekt.
“Jetzt ist es offiziell”, sagte er.
“Wie bitte?”
“Du und ich.”
Sie wollte ihm sagen, dass sie keinen Ring brauchte – wie wundervoll er auch sein mochte –, um das zu beweisen. Doch sie lächelte nur.
“An unserem nächsten Jahrestag”, fuhr er fort, “wenn du mit der Ausbildung fertig bist, möchte ich diesen Ring gern durch einen Verlobungsring ersetzen. Was meinst du?”
Und plötzlich liefen Alix doch Tränen über die Wangen. “Ich denke, das wäre toll”, flüsterte sie. “Würdest du jetzt bitte den Wagen anhalten, damit ich dir beweisen kann, wie sehr ich dich liebe?”
“Das”, erwiderte Jordan, “lässt sich einrichten.”