11. KAPITEL
Carol Girard
Carol stellte einen frischen Strauß Blumen in die Mitte des gedeckten Abendbrottisches. Sie machte einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Am frühen Nachmittag hatte sie auf dem Markt weiße Lilien und rote Tulpen sowie frischen Lachs und Spargelspitzen für das Essen besorgt. Die Blumen standen jetzt von ihr selbst arrangiert in einer Porzellanvase, die ein Geschenk von Doug zum letzten Hochzeitstag war.
So viele Jahre lang hatte sie all ihre Energie in ihre Karriere gesteckt. Als sie ihren Job dann kündigte, geriet sie ins Wanken und wusste nicht, wie sie ihre Zeit sinnvoll nutzen konnte. Möglicherweise wäre sie aufgeschmissen gewesen, hätte sie nicht ihre Online-Selbsthilfegruppe gehabt. Diese Frauen waren für sie so wichtig geworden wie Schwestern. Sie alle kämpften mit ihrer Unfruchtbarkeit und unterstützten sich gegenseitig mit Rat und Trost. Es ermutigte Carol, dass einige der Frauen ebenfalls zu stricken begonnen hatten, um zu entspannen. Und auch, um ein Erfolgserlebnis zu haben – das Gefühl, etwas erreichen zu können. Auch sie verfolgte diese Ziele. Aber für sie war das Stricken darüber hinaus ein Zeichen dafür, dass sie ein Leben als Mutter führen wollte und vor allem auch würde.
Seit dem Tag, an dem sie den Wollladen in der Blossom Street entdeckt hatte, schien sich alles zum Guten zu wenden.
Seit sie Lydia und die anderen Frauen kannte, war ihr, als wäre die Tür zu einer ganz neuen Welt aufgestoßen worden. Zum ersten Mal sah sie in ihrer Wohnung nicht nur einen Schlafplatz oder einen Ort, an dem man sich ab und zu mit Freunden traf; es waren ihre vier Wände. Und sie entschloss sich, ein richtiges Heim daraus zu machen. Sie wollte kleine Veränderungen vornehmen, die ihre Liebe zu ihrem Mann und zu ihrem ungeborenen Kind ausdrücken sollten.
Normalerweise gingen sie in ein Restaurant, wenn ihr Bruder sie besuchte. Aber an diesem Abend plante Carol, zu Hause zu kochen. Rick hatte am Telefon geklungen, als sei er in Schwierigkeiten. Deshalb wollte sie für eine wohltuende, intime Atmosphäre sorgen, damit sie frei und ungezwungen über alles sprechen konnten.
Das Einkaufen und Dekorieren hatte einen Großteil ihres Nachmittags in Anspruch genommen. Doch sie genoss jede Sekunde. Noch vor sechs Monaten hätte sie nicht geglaubt, dass Blumen zu arrangieren oder einen ganzen Vormittag zwischen den Regalen eines Bauernmarktes herumzulaufen ihr Spaß machen würde. Doch mittlerweile verschafften ihr diese kleinen häuslichen Tätigkeiten Freude und ein Gefühl der Befriedigung. Sie tat es für ihre Familie.
Rick hatte aus der Lobby angerufen, und sie stand an der Tür, um ihn in Empfang zu nehmen. Als ihr Bruder hereinkam, umarmte sie ihn liebevoll.
“Also”, begann er und machte einen kleinen Schritt zurück, um seine Schwester besser ansehen zu können, “ich hätte nicht mit so einem stürmischen Empfang gerechnet.” Es überraschte ihn sichtlich, dass sie ihn so innig begrüßte.
“Tut mir leid. Es ist einfach so schön, dich zu sehen.”
Er lachte und sah sich in der Wohnung um. “Wo ist denn Doug?”
“Er hat angerufen – bei ihm wird es später. Aber ich bin mir sicher, dass er bald kommt.”
Sie warf einen Blick auf die Uhr, als sie ihren Bruder ins Wohnzimmer führte. Doug hatte sich nicht so begeistert über Ricks Besuch gezeigt wie Carol. “Möchtest du ein Bier?” Ihr Bruder trank selten. Und nur wenn er in den nächsten vierundzwanzig Stunden keinen Flug absolvieren musste.
“Ja, gern.” Er ließ sich auf einen Sessel sinken, von dem aus er einen freien Blick aufs Wasser hatte. Eine Weile sagte er kein Wort. Als Carol ihm sein Bier brachte, lächelte er sie an und fragte: “Kann ich dir bei den Vorbereitungen für das Abendessen helfen?”
“Nein, es ist beinahe alles fertig.” Sie ging in die Küche, um den Salat zu holen.
Er nickte und schwieg. Als sie wieder zurückgekehrt war, sah er sie plötzlich an. “Du hast alles richtig gemacht, kleine Schwester”, sagte er und klang beinahe traurig. Er nahm einen Schluck von seinem Bier.
“Du doch auch”, erwiderte sie.
Er lachte leise. “Habe ich das wirklich?”
“Meine Güte, Rick”, begann sie und versuchte, seine düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen. “Du bist Pilot einer namhaften Fluggesellschaft. Dein Traum ist wahr geworden.” Ihr Bruder hatte sich Stück für Stück hochgearbeitet. Seit sie denken konnte, hatte er von nichts anderem geredet, als eines Tages Pilot zu sein. Und seit er alt genug war, hatte er Flughäfen besucht, mit Piloten gesprochen und alles an Informationen in sich aufgesogen, was er bekommen konnte.
Er lächelte und nickte zustimmend. “Ich sollte wohl glücklich sein, hab ich recht?”
“Bist du es denn nicht?” Sie ging zu ihm und ließ den Salat auf der Anrichte stehen. Die letzten Handgriffe konnten noch warten. “Was ist los?”
“Entschuldige bitte. Entschuldige.” Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte. “Ich weiß nicht, was da gerade über mich gekommen ist. Mir geht’s gut. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.”
“Nein, das werde ich nicht. Jetzt erzähl mir schon, was dich bedrückt. Du bist doch nicht hierhergekommen, um zum x-ten Mal den Ausblick aus unserer Wohnung zu genießen, stimmt’s?”
Er zuckte die Schultern und ging nicht auf ihre Frage ein. “Eigentlich war ich ganz guter Laune, bis ich gesehen habe, was du mit der Wohnung angestellt hast.”
“Was habe ich denn gemacht?”, fragte sie lächelnd. “Und warum hat das deine Laune ruiniert?”
Ihr Bruder sah sich um und runzelte die Stirn. “Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendwas ist anders.”
Er bemerkte es also. Im Grunde genommen stand alles am selben Platz wie bei seinem letzten Besuch. Die Möbel waren auch noch dieselben. Äußerlich hatte sich also wenig verändert. Und trotzdem wirkte die Wohnung anders. Die Blumen, das polierte Holz, die glänzenden Gläser – all das waren kleine Dinge, aber sie drückten Carols veränderte Einstellung zum Thema “Zuhause” aus. Diese Wohnung war nun ein heimeliger, liebevoller Ort, der wie geschaffen war für ein Kind.
“Es gibt tatsächlich etwas, das sich geändert hat”, erklärte sie, “aber das bin ich selbst. Ich bin glücklich, Rick, einfach richtig glücklich.”
Der leere Ausdruck in seinem Gesicht trieb ihr Tränen in die Augen. “Und du bist nicht glücklich”, sagte sie leise.
“Nein”, erwiderte er, lehnte sich vor und stützte die Arme auf seine Schenkel. “Nichts scheint mehr richtig und gut zu sein, seit Ellie nicht mehr bei mir ist.”
Vor einem Jahr waren Ellie und Rick geschieden worden. Noch nie hatte er über die Trennung gesprochen. Seine Entschlossenheit, das Thema nun zur Sprache zu bringen, zeigte, wie schlecht es ihm gehen musste.
“Ich liebe sie noch immer”, gab er zu. “Aber ich habe alles kaputt gemacht.”
Carol hielt unwillkürlich den Atem an. Weil sie beide liebte – ihren Bruder und Ellie – hatte sie ihr Bestes getan, um sich aus der Angelegenheit rauszuhalten. Das einzige Gespräch mit Ellie war unangenehm und verstörend gewesen. Carol hatte sie seitdem nicht mehr angerufen.
Carol war nicht die Einzige, die die Hintergründe der Scheidung nicht kannte. Auch ihre Eltern wussten nicht genau, was das Scheitern von Ricks Ehe verursacht hatte. Was immer es auch gewesen sein mochte, er schien es zu bereuen und seine Exfrau zurückhaben zu wollen. “Hast du noch Kontakt zu Ellie?”, fragte sie.
Er nickte. “Sie sagt, es sei besser, wenn wir getrennte Wege gehen würden. Ich habe es versucht, Carol, ich habe es wirklich versucht. Aber mein Leben ist alles andere als gut ohne Ellie. Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde.” Er blickte kurz zur Decke und atmete tief durch. “Ich habe gehört, dass sie sich mit einem anderen trifft.”
“Das tut sicher weh.” Die beiden waren auf dem College zusammengekommen. Carol konnte sich noch an den Tag erinnern, als sie die offene, fröhliche Blondine zum ersten Mal sah. Sie mochte Ricks Freundin auf Anhieb und hoffte damals sofort, sie eines Tages in ihrer Familie begrüßen zu können.
“Der Gedanke, dass Ellie jetzt mit einem anderen Mann zusammen ist, macht mich wahnsinnig. Ich kann immer nur daran denken, wie dumm ich gewesen bin. Ich würde alles tun, um wieder mit ihr ins Reine zu kommen. Wenn das bedeuten sollte, dass ich meinen Job an den Nagel hängen muss, würde ich das tun – ohne mit der Wimper zu zucken.”
“Das tut mir alles so leid.” Carol wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Zumal sie doch gar nicht wusste, was tatsächlich geschehen war.
“Ja, mir auch.”
“Willst du erzählen, was passiert ist?”
“Hat Ellie dir das nicht gesagt?”, fragte er und blickte sie überrascht an.
Carol schüttelte den Kopf. “Ich habe sie zwar angerufen, nachdem du mir erzählt hast, dass sie die Scheidung eingereicht hat, aber sie wollte nicht darüber sprechen.” Sie erwähnte nicht, dass Ellie am Telefon in Tränen ausgebrochen war. Bis zum Schluss hatte Carol gehofft, die beiden würden ihre Schwierigkeiten in den Griff bekommen und sich zusammenraufen. Nach der Scheidung schien es jetzt so, als wolle Ellie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
“Ich bin so oft fort von zu Hause”, sagte ihr Bruder. “Da ist man einsam, weißt du?”
Das hatte auch Ellie angedeutet. Doch Carol wollte es nicht glauben. Rick hätte seiner Frau niemals so etwas angetan, versuchte sie sich einzureden. Er war ihr großer Bruder, ihr Held. Trotzdem musste sie es jetzt wissen. “Du … hattest doch keine Affäre, oder?”
“Nein”, antwortete er. “Das war es nicht … aber Ellie – sie konnte nicht damit umgehen, dass ich in meinem Job ständig von hübschen Frauen umgeben und selten zu Hause war. Das war eine Sache des Vertrauens.”
Für Carol machte die Tatsache, dass er ständig mit Frauen zu tun hatte, es auch nicht leichter, ihm zu vertrauen. Aber das würde sie nur ungern zugeben. Ihr Bruder musste nichts von ihren Unsicherheiten und Zweifeln wissen.
“Ich weiß nicht, warum sie so gedacht hat”, fuhr Rick fort. “Ich liebe Ellie.” Er strich sich über die Stirn. “Ich habe versucht ihr klarzumachen, dass sie die einzige Frau in meinem Leben ist. Doch sie hat mir nicht einmal zugehört. Bis heute kann ich nicht glauben, dass sie unsere Ehe einfach so weggeschmissen hat – nur weil sie mir nicht vertrauen konnte.”
Carol konnte das auch nicht glauben, aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war Ellie eifersüchtig und irrational, oder es steckte mehr hinter ihren Vermutungen – mehr, als Rick zugab.
“Ich habe alles getan, um Ellie die Scheidung auszureden”, sagte er. “Okay, ich gebe zu, dass ich manchmal in Versuchung geraten bin. Aber was zur Hölle soll ich auch jeden Abend allein im Hotel machen? Fernsehen? Ab und zu bin ich auch ausgegangen. Kann man mir das zum Vorwurf machen?”
Vielleicht gab es doch einen handfesten Grund für Ellies Misstrauen. Trotzdem fand Carol es noch immer unglaublich, dass er seiner Frau so etwas angetan haben sollte. Er war ein ehrbarer Mann – aber eben ein Mann. Und wenn er ab und zu mit einer Stewardess ein Gläschen getrunken hatte, was war daran so schlimm? Möglicherweise war Ellies Reaktion übertrieben.
“Ich denke, ich sollte dankbar sein, dass wir noch keine Familie gegründet hatten”, murmelte er.
Da gab sie ihm recht. Wenn es etwas Gutes an der ganzen Sache gab, dann das. Sie konnte den Gedanken, dass Kinder unter einer Scheidung und einem zerrütteten Familienleben leiden mussten, kaum ertragen.
“Ellie wollte immer Kinder. Aber ich war noch nicht so weit.”
Sie nickte.
“Hast du eine Ahnung, was ich jetzt tun soll?”, fragte er und blickte sie erwartungsvoll an.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Was sie ihm sagen sollte, wusste sie jedoch nicht. Wahrscheinlich war Rick selbst sein schlimmster Feind. Er war schon immer ein geselliger Mensch gewesen, ein Partylöwe, ein Draufgänger. Carol hatte ihn dafür bewundert. Er war ihr charmanter großer Bruder. Und nun machte es sie traurig, dass er so unglücklich war.
“Du musst Ellie beweisen, dass du der Richtige für sie bist.”
“Aber wie?”, fragte er verzweifelt. “Ich weiß einfach nicht mehr weiter, Carol. Ellie hat gesagt, sie will mich nie wieder sehen.”
“Du könntest ihr schreiben.”
“Was schreiben?”
“Einen Brief”, erklärte Carol. “Oder besser eine E-Mail. Schreib ihr, dass du ein Idiot warst.”
“Ich denke, das weiß sie schon.” Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Unterhaltung sah sie, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte. “Was, wenn sie mir nicht antwortet?”
“Nimm ein Nein nicht hin. Lass sie wissen, dass du nicht so schnell aufgeben wirst.”
“Soll ich ihr Blumen schicken? Oder etwas anderes in der Richtung?”
“Bring ihr Erdbeeren und andere Früchte mit.” Frisches Obst war in Alaska zwar erhältlich, kostete jedoch ein Vermögen. “Einen ganzen Korb voll”, schlug Carol vor. “Wenn ich mich recht erinnere, liebt Ellie Blaubeeren.”
“Tatsächlich?”
“Rick! Das solltest du wissen. Schließlich warst du mit ihr verheiratet.”
“Das ist das Problem”, stöhnte ihr Bruder. “Ich habe ihr viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und ich habe nicht geahnt, wie sehr ich sie liebe, bis es irgendwann zu spät war.”
“Dann musst du all das nachholen.”
Er grinste. Es war dasselbe jungenhafte Lächeln, das sie seit Kindertagen kannte. “Deine Begeisterung ist ansteckend. Glaubst du wirklich, dass ich sie zurückgewinnen kann?”
“Ja”, erwiderte sie voller Überzeugung. Es tat gut, dass ihr Bruder sich an sie wandte und ihre Hilfe erbat. Rick hatte einen Fehler begangen und nicht um seine Ehe gekämpft. Aber sie würde alles tun, um ihn nun darin zu unterstützen, das wiedergutzumachen.