16. KAPITEL
Alix Townsend
Während sie an einem Fensterplatz bei Starbucks saß, versuchte Alix vorsichtig, die Maschen von einer Stricknadel auf die andere zu befördern und die Reihe zu Ende zu stricken. Niemand sonst in dem Kurs schien ein Problem mit diesem Projekt zu haben. Carol arbeitete bereits an ihrer zweiten Babydecke. Jacqueline hatte zu Beginn ein paar Schwierigkeiten gehabt, aber nicht annähernd so viele wie Alix. Egal wie sehr sie sich auch konzentrierte, sie begann mit einhunderteinundsiebzig Maschen und am Ende der Reihe zählte sie einhundertachtzig oder mehr. Beziehungsweise weniger, je nachdem, was sie falsch gemacht hatte.
Lydia versicherte ihr ein ums andere Mal, dass das ein durchaus gängiges Problem war. Sie erklärte mit einer Engelsgeduld, dass Alix die Maschen nicht richtig zu Ende strickte. Dann zeigte sie ihr noch einmal, wie es ging. Und Alix machte dieselben dummen Fehler wieder. Es war ihr egal, denn sie würde nicht eher ruhen, bis sie richtig stricken konnte. Dreißig Dollar hatte sie bereits in dieses Projekt investiert.
Als sie mit der Reihe fertig war, machte Alix eine kleine Pause. Sie nippte an ihrem Cappuccino und zählte die Maschen. Verdammt! Einhundertdreiundachtzig! Es war schon wieder passiert – sie hatte Maschen eingebaut, die da nicht hingehörten. “Verdammt, verdammt, verdammt”, fluchte sie unterdrückt. Offenbar färbte es ab, mit Jacqueline zusammen zu sein. Sie benutzte kaum noch wirklich schlimme Schimpfwörter.
Alix schob ihr Strickzeug auf den Schoß und schloss die Augen. Sie versuchte, den Frust und die Wut zu ignorieren. Dieser Strickkurs sollte ihr dabei helfen, ihre Aggressionen besser in den Griff zu bekommen. Das war der beste Witz aller Zeiten!
Was ihren Ärger noch mehr schürte, war, dass sich Laurel mit John in ihrem Apartment rumtrieb. Sie hatte Alix gebeten, für ein paar Stunden zu verschwinden. Die Sache zwischen den beiden war in der letzten Zeit fester geworden. John war regelmäßig in den Videoladen gekommen, und Alix hasste es, wie ihre Mitbewohnerin ständig von diesem Widerling schwärmte. Was sie betraf, so brachte John nichts als Ärger.
Als sie sich ein bisschen beruhigt hatte, fing sie an, die Reihe vorsichtig wieder aufzulösen, Masche für Masche. Das dauerte länger, als die ganze Reihe zu stricken. Zwei Maschen vor dem Ende der Reihe rutschte ihr die Nadel aus der Hand, und sie verlor eine. Ein unterdrückter Fluch entfuhr ihr, bevor sie ihn sich verkneifen konnte.
Zum Glück war Jacqueline nicht in der Nähe. Jedes Mal, wenn Alix die Kontrolle über ihr Strickzeug verlor – was relativ oft der Fall war – und deswegen fluchte, fühlte Jacqueline sich persönlich angegriffen. Dabei riss Alix sich schon sehr zusammen.
Bisher war sie einer Auseinandersetzung mit der älteren Frau aus dem Weg gegangen. Doch sie spürte, dass es unter der Oberfläche brodelte. Jacqueline duldete Alix, und umgekehrt ging es Alix mit ihr genauso.
Sie fand, dass Jacquelines Weltanschauung mehr als verdreht war. Das Einzige, was sie zu interessieren schien, waren Anspruch und Ansehen. In jeder Unterrichtsstunde saß sie an ihrem Platz und erzählte und erzählte – als ob es wirklich jemanden interessieren würde, wen sie bei welchem Event oder Clubmeeting getroffen hatte. Blabla … die meiste Zeit hatte Alix keine Ahnung, über wen Jacqueline überhaupt sprach.
Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, die verloren gegangene Masche wieder auf die Stricknadel zu befördern. Doch als sie sie beinahe eingefangen hatte, glitt ihr das Strickzeug erneut aus der Hand, und weitere zwei Reihen ribbelten auf.
Sie murmelte einen noch schlimmeren Fluch und war drauf und dran, das gesamte Projekt einfach hinzuwerfen. Hätte sie nur ein Fünkchen Verstand, würde sie ihr Strickzeug in den Müll befördern.
Mit einem Mal spürte Alix, dass sie nicht allein war. Sie blickte auf. Jordan Turner stand an ihrem Tisch. Ihr Mund fühlte sich plötzlich trocken an, und sie hatte das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Er war der Letzte, den sie hier erwartet hätte.
“Sieht aus, als hättest du eine kleine Krise!” Er zog den Stuhl neben ihr zu sich, drehte ihn um und setzte sich.
Alles, was Alix im Augenblick tun konnte, war, ihn mit offenem Mund anzustarren. Sie hatte ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Nach seinem Vorschlag, sie könnten mal einen Kaffee zusammen trinken gehen, war er verschwunden. Sie fühlte sich frustriert und enttäuscht. Es schien ihr Schicksal zu sein: Sobald sie Interesse an einem Jungen zeigte, wanderte er entweder in den Knast oder er verschwand aus der Stadt.
“Was machst du denn hier?”, fragte sie und gab sich dabei die allergrößte Mühe, ihre Freude über seinen Anblick zu verbergen.
“Eigentlich bin ich hier, weil ich dich treffen wollte”, erwiderte er und verschränkte die Arme auf der Rückenlehne des umgedrehten Stuhls.
“Klar.” Genau diese Worte hätte auch John zu Laurel sagen können. Aber sie fiel auf Süßholzraspeln nicht herein.
“Das ist wahr. Du kannst Danny fragen. Ich war im Laden und habe gefragt, wo ich dich finden kann.” Danny arbeitete stundenweise in der Tagschicht und war absolut zuverlässig. Wenn sie ihn nach Jordan fragte, würde er ihr die Wahrheit sagen.
Sie ignorierte Jordan, nahm die Masche wieder auf und strickte die Reihe zu Ende, bevor sie den Blick wieder hob. “Warum suchst du mich?”
“Ich dachte, ich spendiere dir einen Becher Kaffee. Bist du immer so kompliziert?”
Sie sah ihn an und versuchte, nicht zu blinzeln. “Nein, nicht wirklich.”
“Also stellst du diese Mir-ist-alles-egal-Haltung nur für mich zur Schau?”
Obwohl sie das eigentlich nicht vorhatte, lächelte sie. “Könnte man so sagen.”
Ihre abweisende Art schien ihn nicht zu stören. “Gibt es einen besonderen Grund dafür?”
Alix nahm ihr Strickzeug wieder in die Hand. Es würde sicher kindisch und albern klingen, wenn sie zugeben würde, wie sehr sie sich auf das Kaffeetrinken mit ihm gefreut hatte. Und er hatte sich einfach nicht mehr gemeldet. Aber statt ihm das zu gestehen, widmete sie sich wieder ihrem Strickprojekt. “Ich habe dich lange nicht gesehen”, sagte sie betont beiläufig.
“Soll das heißen, dass du mich vermisst hast? – Ich habe oft an dich gedacht, als ich weg war.”
Sie zuckte die Achseln. Dann sah sie auf, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. “Kann schon sein, dass ich dich vermisst habe.”
Er hörte das offensichtlich gern – jedenfalls schloss Alix das aus der Art, wie er den Stuhl heranrückte und sich zu ihr lehnte. Er beobachtete sie eine Weile und fragte: “Was strickst du?”
“Eine Babydecke für das Linus-Projekt.”
Jordan nickte. “Ich habe davon gehört. In den Pfarrnachrichten stand vor einigen Monaten eine Mitteilung.”
Verdammt, zur Kirche ging er auch. Sie hatte es wirklich drauf, sich immer die Richtigen auszusuchen. “Glaub bloß nicht, dass ich das aus reinster Nächstenliebe tue”, sagte sie schroff. “Ich stecke mit Sicherheit nicht so viel Mühe in eine Babydecke, weil es meine Bürgerpflicht ist.”
“Warum strickst du denn dann für das Projekt?”
Sie konnte ebenso gut die Wahrheit sagen. Alix blickte auf und musterte ihn, um zu sehen, wie er reagierte. “Damit leiste ich die gemeinnützigen Stunden ab, die das Gericht mir aufgebrummt hat.” Wenn ihn das nicht abschreckte, dann wusste sie auch nicht weiter. Sie schätzte Ehrlichkeit – und wenn dieser nette Junge jetzt immer noch an ihr interessiert sein sollte, umso besser. Wenn nicht, wusste sie wenigstens, woran sie war.
“Gemeinnützige Stunden vom Gericht? Warum?”
“Ich habe das Gesetz übertreten, und das Gesetz hat gewonnen”, sagte sie, beendete die Reihe und schenkte den Maschen bei Weitem zu wenig Aufmerksamkeit. “Aber ich wurde reingelegt. Ich hatte mit der Sache nichts zu tun, und der Richter wusste es. Also bekam ich gemeinnützige Stunden statt Knast. Schockiert das einen netten Jungen wie dich?”
“Nein.”
Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Doch sie nahm seine Antwort mal so hin.
“Meine Mutter strickt auch.”
Alix konnte sich gerade noch verkneifen zu sagen, dass ihre Mutter im Gefängnis saß. Genug Ehrlichkeit für heute, sagte sie sich. Es gab keinen Grund, ihn mit der Wahrheit zu überfordern. Sein Interesse schmeichelte ihr, und der Gedanke, dass er sie gesucht hatte, gefiel ihr. Als sie aufblickte, war sie versucht zu fragen, auf welche Grundschule er gegangen war. Sie überlegte noch immer, ob er nicht der Jordan Turner sein könnte, den sie einst gekannt hatte. Alix konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie der Junge von früher aussah. Sie wusste nur noch, dass er eine Brille getragen hatte. Dieser Jordan trug keine Brille.
“Hast du Hunger?”, fragte er plötzlich. Er spähte über seine Schulter in Richtung Tresen. “Die haben hier erstklassige Muffins. Magst du?”
“Ich könnte etwas essen”, erwiderte sie – was nicht eben die freundlichste Bemerkung war, die sie je gemacht hatte.
Er stand auf und ging zum Tresen. Alix beobachtete ihn einen Moment lang und versuchte ihr pochendes Herz zu beruhigen. Sie widmete sich wieder ihrem Projekt und vollendete die Reihe. Als sie die Maschen zählte, waren es zu ihrer Überraschung exakt einhunderteinundsiebzig Stück. Stolz lächelte sie. Jordan kehrte an den Tisch zurück. Er balancierte in der einen Hand einen Becher Kaffee, auf dem ein Teller mit einem Muffin thronte. In der anderen Hand hielt er einen zweiten Teller, auf dem sich ebenfalls ein Muffin befand.
“Wir haben Glück”, sagte er, als er alles auf den kleinen runden Tisch gestellt hatte. “Es waren nur noch zwei übrig.”
Sie nickte und griff nach dem Küchlein. “Danke.”
Jordan nippte an seinem Kaffee. “Danny wusste nicht genau, wo du steckst. Ich habe dich eher per Zufall hier sitzen sehen, als ich vorbeikam.”
Sie brach den Kuchen in der Mitte durch und war froh, dass dies der einzige freie Tisch gewesen war. Normalerweise setzte sie sich nicht auf einen Platz, an dem sie von der gesamten Straße aus gesehen werden konnte. Es gefiel ihr nicht, was im Zuge der Sanierungsmaßnahmen mit der Gegend passierte. Besonders weil sie immer mehr fürchtete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie und Laurel das Apartment verlieren würden. Und wenn das geschah, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie wieder in billigen, rattenverseuchten Hotelzimmern schlafen musste. Um wieder ein Apartment zu bekommen, würde sie gezwungen sein, einen zweiten Job anzunehmen. Wahrscheinlich musste sie dann in Kneipen arbeiten, wo nette Jungs wie Jordan niemals hinkamen.
“Wo bist du gewesen?”, fragte Alix, da er offenbar von sich aus nicht davon erzählen wollte. Er hatte nur gesagt, dass er weg war.
Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte den Becher dann beiseite. “Ich habe eine Jugendfreizeit geleitet.”
Sie wusste nicht genau, was sie darunter verstehen sollte. “Die ganze Zeit über?”
“Nicht die ganze Zeit. Die Kirche brauchte Hilfe bei der Organisation, also habe ich einige Wochen im Büro in Stanwood gearbeitet.”
“Oh.” Dies war schon das zweite Mal, dass er die Kirche erwähnte. Langsam machte sich in ihr eine böse Vorahnung breit.
“Es ist schön zu wissen, dass du mich vermisst hast”, murmelte er.
“Das habe ich so nicht gesagt”, erwiderte sie ein bisschen schroffer, als sie eigentlich wollte.
Er grinste.
Sie war erleichtert zu sehen, dass sie ihn nicht gekränkt hatte. “Also … vielleicht habe ich dich doch ein bisschen vermisst.”
“Freut mich, das zu hören.”
“Gibt es noch mehr Jugendfreizeiten, die du organisieren musst?”
Er seufzte. “Ich weiß nicht. Aber offen gesagt hoffe ich, dass es nicht so ist. Als ich den Job als Jugendseelsorger angenommen habe, glaubte ich, dass ich meine Zeit mit den Jugendlichen hier in der Gegend um die Blossom Street verbringen würde.”
Alix fühlte sich, als sei ihre Welt zusammengestürzt. “Du bist … ein Pfarrer?”
“Jugendseelsorger”, korrigierte Jordan sie. “Im Augenblick arbeite ich für die Freie Methodistische Gemeinde in der Gegend.” Seine Mundwinkel zuckten, und er sah aus, als müsste er ein Lachen unterdrücken.
“Was ist denn so lustig?”, fragte sie ärgerlich.
“Nichts. Aber aus deinem Mund klingt das Wort ’Pfarrer’ wie ’Drogendealer’ oder schlimmer.”
“Es ist nur …” Sie war bestürzt, und ihr fehlten die Worte – wie immer, wenn sie verwirrt war.
“Ich bin Jugendseelsorger, Alix”, sagte er. Jordan griff nach ihrer Hand und lächelte. “Du erinnerst dich nicht an mich?”
“Du bist es also doch!” Verdammt, sie hatte es geahnt und wünschte sich, sie hätte zuerst etwas gesagt.
“Erinnerst du dich an die vierte Klasse der Grundschule? Es hat ein bisschen gedauert, bis ich darauf kam.”
“Ich habe mir gedacht, dass du es sein könntest … ich kann es kaum glauben!” Sie rief sich die Schulzeit wieder in Erinnerung und betrachtete ihn eingehend. “Wir waren in derselben Klasse, weißt du noch?”
“Was ich noch weiß”, entgegnete er und grinste, “ist, dass du neben Jimmy Burkhart gesessen hast.”
Sie erinnerte sich an Jimmy, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte ihm eine blutige Nase verpasst und war zum Rektor bestellt worden – und all das nur, weil Jimmy einen Scherz darüber gemacht hatte, dass sie Jordan Turner heiraten wollte. Sie und die Hälfte aller Mädchen aus der vierten Klasse fanden den Sohn des Pfarrers süß und interessierten sich für ihn. Und nun war Jordan offensichtlich in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Er war Jugendseelsorger und würde Pfarrer werden. Verdammt, dass hätte man sich denken können.
“Ich hatte eine Valentinsüberraschung für dich.”
Sie starrte ihn an, überwältigt von der Erinnerung an das schicksalhafte Jahr – das Jahr, in dem ihre Mutter versucht hatte, ihren Vater zu töten.
“Ich wollte es dir in der Pause geben, aber du warst nicht da. Und du bist nie wiedergekommen.”
Alix antwortete nicht. In der Nacht vor dem Valentinstag, als sie in der vierten Klasse war, hatte ihre Mutter ihren Vater angeschossen. Beide waren sehr betrunken. Schließlich brach der unvermeidliche Streit aus. Schnell waren die Polizei und Sanitäter vor Ort. Ihre Mutter wurde in Handschellen abgeführt. Weil es keine Verwandten gab, die sich um Alix und ihren Bruder hätten kümmern können, kamen die beiden zu Pflegefamilien. Die Nacht bedeutete den Anfang vom Ende eines Familienlebens für Alix – so traurig das auch klingen mochte. Ihre Mutter kam ins Gefängnis, und ihr Vater verschwand, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Den Kontakt zu seinen Kindern versuchte er erst gar nicht wieder aufzunehmen.
Der Staat übernahm damals die Vormundschaft für die Geschwister. Wegen all des Durcheinanders war Alix nie an die Jackson-Schule zurückgekehrt … und hatte nie die Valentinsüberraschung bekommen, die Jordan ihr schenken wollte.
“Also”, begann Jordan und beugte sich ein wenig vor, “ich habe mich gefragt, wie du auf meine Bitte reagiert hättest, mit mir den Valentinstag zu verbringen …”
Sie konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Ja, sicher. Die Tochter von Alkoholikern und der Sohn eines Pfarrers. Irgendwie, fürchtete sie, würde das nicht lange gut gehen.