37. KAPITEL

“Beim Stricken lernt man – wie so oft im Leben – aus seinen Fehlern genauso wie aus seinen Erfolgen.”

(Pam Allen, Redakteurin bei Interweave Press)

Lydia Hoffman

Es klingt gewiss melodramatisch, aber ich hatte das Gefühl, mein Leben sei zu Ende. Und dieses Gefühl ließ mich nicht los, während ich in der Klinik in meinem Bett lag und mir der Geruch von Franzbranntwein und antiseptischen Mitteln in die Nase stieg. Ich habe den Geruch von Krankenhäusern immer gehasst. Jemand, der so lange im Krankenhaus war wie ich, hätte sich eigentlich langsam daran gewöhnen müssen. Aber ich konnte es nicht. Die Röntgenaufnahmen bestätigten meine schlimmsten Befürchtungen: Ein Tumor hatte sich gebildet. Glücklicherweise war dieser Tumor durch meine Nasenhöhle erreichbar, sodass nicht wieder durch meine Schädeldecke gebohrt werden musste.

Die Untersuchung lag zum Glück bereits hinter mir, die Biopsie war durchgeführt und die Proben ins Labor geschickt worden. Leider ergaben sie keine eindeutigen Ergebnisse. So musste eine zweite Probe eingeschickt werden, um eine weitere Meinung einzuholen. Bei meiner Krankengeschichte konnte man sich keine Unsicherheiten leisten.

Margaret hatte einen Strauß Nelken bringen lassen, der neben meinem Bett stand und mich aufheitern sollte. Es war das erste Mal, dass meine Schwester mir überhaupt Blumen schickte. Unsere Beziehung zueinander hatte sich langsam, aber sicher verändert – doch auch ihre kleinen Aufmerksamkeiten konnten mir nicht helfen, diese furchtbare Situation durchzustehen.

Tief in meinem Herzen wusste ich, was mir bevorstand. Ich konnte es kaum ertragen. Nicht schon wieder. Mit jeder Faser meines Körpers wollte ich herausschreien, wie unfair das alles war. Wie ein kleines Kind wollte ich brüllen und jammern und einen Wutanfall bekommen.

Dad war nicht mehr da, um mir beizustehen. Und das Gefühl, vollkommen verlassen zu sein, überwältigte mich beinahe. So irrational es sein mochte – ich nahm meinem Vater furchtbar übel, dass er einfach gestorben war. Ich war so wütend. Wütend auf meinen Vater. Wütend auf Gott. Wütend auf die ganze Welt.

Fast zwei Tage lang stand ich wegen der verschiedensten Untersuchungen und des Eingriffs unter Medikamenten und war vollkommen benommen. Nun konnte ich keinen Schlaf mehr finden. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Brads Gesicht. Alles, was ich hörte, war seine Stimme. Und immer wieder schoss mir der letzte Streit durch den Kopf. Ich erinnerte mich an das Telefonat, in dem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich ihn nicht mehr sehen wollte. So gefasst wie möglich sagte ich ihm, dass ich die Beziehung zu ihm nicht länger aufrechterhalten wollte.

Natürlich konnte er es nicht verstehen. Es war ihm nicht möglich zu begreifen, dass ich ihm eigentlich einen Gefallen tat. Und er versuchte mit allen Mitteln, mich umzustimmen. Ich bereute die Dinge, die ich gesagt hatte, aber ich konnte ihm die Wahrheit nicht erzählen. So ließ ich ihn in dem Glauben, mein Herz schlüge für einen anderen Mann.

Ich wusste, dass Margaret die Trennung von Brad ganz und gar nicht guthieß. Doch es war schließlich mein Leben und meine Entscheidung. Sie ließ mich daraufhin in Ruhe, aber ich wusste, dass es sie wütend machte. Mit ihrem Missmut wusste ich allerdings umzugehen – das hatte ich schließlich beinahe mein ganzes Leben lang getan.

Ich glaubte nicht, dass sie mich für den Rückfall verantwortlich machte. Als ich ihr von dem Tumor erzählte, wurde sie still und erklärte mir, wie leid ihr das alles täte. Ich war wirklich dankbar für ihr Mitgefühl.

Als hätten meine Gedanken an meine Schwester sie tatsächlich zu mir gebracht, stand Margaret plötzlich in der Tür zu meinem Krankenzimmer. “Ich sehe, dass du die Blumen bekommen hast”, stellte sie fest. Sie wirkte seltsam beunruhigt. Vorsichtig sah sie sich um. Es war, als befürchte sie, jeden Moment von einem Pfleger geschnappt und auf eine Trage gepackt zu werden, auf der sie zu einer experimentellen Operation gefahren würde.

“Die Blumen sind sehr schön”, sagte ich. “Es war sehr nett von dir, die Nelken zu schicken.”

“So”, begann sie und kam zögerlich ans Bett. “Wie sind die Tests gelaufen?”

Ich zuckte die Schultern, denn bisher gab es nichts Neues. “So wie beim letzten Mal.”

Sie hob die Augenbrauen und sah mich mitfühlend an. “So schlimm?”

Ich nickte.

“Ich bin froh, dass du da bist”, sagte ich, “weil es ein paar Dinge gibt, die ich klären möchte.”

Sie schaute an mir vorbei aus dem Fenster. “Es ist nicht die richtige Zeit dafür …”

“Bitte”, beharrte ich. Im Gegensatz zu meinen Worten schien der Klang meiner Stimme zu ihr durchzudringen.

Seufzend wandte Margaret sich mir zu. “Okay, was gibt’s?”

“Ich habe darüber nachgedacht, was mit dem A Good Yarn geschehen soll.”

Sie sah mich mit einem schmerzlichen, traurigen Blick an. “Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Du weißt ja, dass ich nicht stricke, aber ich würde einspringen, solange …”

“Du musst das nicht tun”, sagte ich. Die Idee, meine Schwester zu bitten, auf den Laden aufzupassen, war mir noch gar nicht gekommen.

“Aber es ist eine Möglichkeit. Mom und ich könnten uns abwechseln.”

Ihre Großzügigkeit berührte mich tief. Zum ersten Mal, seit ich wieder in der Klinik war, spürte ich, wie Tränen in mir aufstiegen. “Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich für mich tun würdest.”

Margaret sah mich überrascht an. “Du bist doch meine Schwester. Ich würde alles tun, um dir zu helfen, sogar …” Sie zögerte, atmete tief ein und wandte den Kopf ab. “Wir können ja auch später darüber reden, ja? Bisher ist noch gar nichts sicher, und wir sollten uns die Köpfe nicht über ungelegte Eier zerbrechen.”

“Aber …”

“Da möchte dich noch jemand besuchen.”

Ich dachte, eine meiner Nichten sei vielleicht mitgekommen, und blickte erwartungsvoll in Richtung Tür. Zwar wollte ich die Zukunft meines Ladens so schnell wie möglich klären, aber es war tatsächlich sinnvoll, damit zu warten, bis Dr. Wilson sein Urteil verkündete. Ich hatte nicht geglaubt, den zweiten Tumor zu überleben – und beim jetzigen Rückfall machte ich mir keine Illusionen mehr. Ich konnte einfach nicht mehr kämpfen und war bereit, mein Schicksal anzunehmen.

Die furchtbare Wahrheit war, dass ich den Tod einer weiteren Behandlung vorzog. Das durfte ich Mom oder Margaret natürlich nicht sagen. Doch ich spürte, dass ich das nicht noch einmal durchstehen konnte. Ich war alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und das hatte ich getan. Ich würde keine Chemo machen und die Krankheit akzeptieren und erdulden. Der Einzige, mit dem ich diese Entscheidung diskutieren wollte, war Dr. Wilson – und den würde ich erst wiedersehen, wenn er die Testergebnisse ausgewertet hatte.

“Gib mir einen kleinen Moment”, sagte Margaret. Sie stand auf und ging auf den Flur hinaus.

Ich bekam einen Riesenschreck, als sie zurückkehrte. Der Besucher, den sie mitbrachte, war nicht Julie. Es war auch nicht Hailey. Es war Brad. Mit jeder Faser meines Körpers wollte ich ihm entgegenschreien, dass er gehen und Margaret gleich mitnehmen sollte. Ich konnte es nicht ertragen. Ein Blick auf das Mitgefühl, das sich in seiner Miene widerspiegelte, und ich schlug wie ein Kind die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

Ich fühlte, wie er die Arme um meine Schultern legte. “Du hättest mir doch sagen können, was los ist.”

Ich ließ die Hände sinken und vermied es, ihn anzusehen oder mit ihm zu reden. Mein Zorn richtete sich gegen meine Schwester, die sich überall einmischte. “Wie konntest du nur?”, schrie ich. “Wie konntest du?”

“Wie konntest du?”, schrie sie zurück. Es war, als würde ein Echo widerhallen.

Brad unterbrach unser Geschrei. Seine Stimme klang entschieden und stark, als er sprach. “Warum hast du dich mir nicht anvertraut? Wir hätten doch über alles reden können, Lydia.”

“Geh weg.” Ich sah ihm direkt ins Gesicht, auch wenn mein Herz zerbrach.

Er schüttelte den Kopf. “Entschuldige, aber das tue ich nicht.”

“Du hast keine andere Wahl.”

“Ich lasse es nicht zu, dass du mich einfach fortschickst.”

“Verstehst du es nicht?”, presste ich unter Tränen hervor. “Mit mir gibt es keine Zukunft.”

Zärtlich griff er nach meiner Hand. “Aber wir haben doch heute, morgen und übermorgen.”

Ich sank zurück in meine Kissen. Warum mussten es mir alle so schwer machen?

“Lydia”, sagte Margaret. “Würdest du bitte aufhören, dich zu bemitleiden und dich stattdessen zusammenreißen?”

Von meiner Schwester hatte ich nichts anderes erwartet. Sie war ja auch nicht diejenige, die diesen Albtraum erlebte. Sie war nicht diejenige, der nun Wochen der Chemotherapie und der Bestrahlung bevorstanden. Meine Schwester tat so, als sei Krebs ein harmloser Infekt – so, als müsste ich nur ein paar Pillen schlucken, und alles wäre wieder gut, und ich könnte ganz normal weiterleben.

“Ich kann dir nicht sagen, was die Zukunft bringen wird”, sagte Brad und sah mich ernst an. “Aber ich kann dir versichern, dass, was immer auch geschehen mag, ich bei dir sein werde.”

Das hatte ich schon einmal gehört. Dieselben Worte, allerdings zu einer anderen Zeit. Doch nach zwei Tagen, in denen ich getriezt und gestochen worden war, hatte ich keine Kraft mehr, zu streiten. “Bitte, geh einfach … Ich kann das jetzt nicht.”

Margaret und Brad tauschten einen Blick. Sie schienen mir nicht zu glauben. Und offenbar waren ihnen meine Wünsche egal, denn sie machten nicht den Anschein, als würden sie meine Bitte respektieren und endlich gehen. Sie ließen mir keine andere Wahl, und so drückte ich den Knopf, um die Schwester zu rufen.

“Was brauchen Sie?”, erklang eine dünne Stimme aus der Gegensprechanlage.

“Meine Ruhe”, rief ich. “Ich brauche meinen Frieden, und diese Leute hier weigern sich zu gehen.”

Margaret presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf. Und Brads grimmiger Gesichtsausdruck machte deutlich, dass es eine ganze Armee, oder wenigstens eine wütende Krankenschwester brauchte, um ihn aus meinem Zimmer zu vertreiben. Ich rollte mich auf die Seite und schloss die Augen.

“Wir sind noch nicht fertig”, sagte er.

Doch ich antwortete ihm nicht. Was mich betraf, so hatte ich alles gesagt, was ich sagen wollte. Nichts würde meine Meinung ändern.

Ich hörte, wie die Schwester das Zimmer betrat.

“Wir wollten gerade gehen”, sagte Margaret.

Ich zwang mich, mich nicht umzudrehen und meiner Schwester und Brad hinterherzublicken.

Vielleicht hatte ich ein Problem, das weitaus schlimmer war als der Krebs; denn gerade war es mir gelungen, die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die mir ihre Liebe und ihre Unterstützung schenken wollten, zu vertreiben.